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Der schöne, klare Tag war hingegangen, und in Gluten dämmerte der Abend.
Als man im Dorf den Segen läutete, kam einer vom Weiherwald heraufgestiegen zum Scheidhof, den Plundersack auf dem Rücken, Schaufel und Pickel über der Schulter. Ganz grau sah er aus. So übel zugerichtet war sein Gewand. Aber in seinem Schritt war ein Schwung und Leben, als hätte er stählerne Federn unter den Füßen.
Mamertus Troll erreichte den Brunnenplatz und sah in einer ebenerdigen Stube so hellen Lichtschein, daß er sich dachte: »Da müssen s' ebbes Festlichs haben!« Er legte seinen Plunder ab und trat ins Haus. Der Blumenduft, der den Flur erfüllte, war so stark, daß der Moosjäger lachend vor sich hinsagte: »Herrgott, schmeckt's da aber fein. Wie am Pfingsttag in der Kirch!« Aus der Küche hörte er halblautes Schwatzen. Da saß der Bonifaz beim Walperl am Herd, weil das Mädel, so einsam in dem stillen Hause, ängstlich geworden war. Mathild, die man am Nachmittag in die Sägmühle geholt hatte, war noch immer nicht zurück. Mertl guckte in die Küchentür. »Is der Herr Walter daheim?«
Das Walperl rückte vom Bonifaz weg und fuhr sich mit der Schürze über die Augen. »Grad is er auffi.«
Der Moosjäger stieg die Treppe hinauf und trat in die Stube. Hier brannte noch keine Lampe, der rote Abend glänzte herein in den dämmerigen Raum. Walter, der am Schreibtisch saß, versteckte hastig ein dickes, gesiegeltes Briefkuvert, als hätte ihn der unerwartete Gast bei einer Heimlichkeit ertappt. »Bloß ich bin's!« sagte Mamertus Troll. »Grüß Gott, Herr Dokter!« Ohne für den Gruß zu danken, erhob sich Walter und zündete die Lampe an. In der Helle bemerkte der Moosjäger, wie bleich und abgemüdet sein Herr und Heiland aussah. »Um Gotts willen, Herr Dokter? Sind S' mir doch ebba net krank worden?«
Walter schüttelte den Kopf. »Weißt du nicht, was hier im Haus geschehen ist?« Er trat auf den Moosjäger zu und sah ihm scharf in die Augen. »Der alte Herr Ehrenreich ist gestorben.«
»Mar' und Josef!« sagte Mertl in gutmütigem Erbarmen. »So a braver Mensch! Freilich, in die Füß hat er's allweil schon ghabt. Und bal's amal in die Füß fehlt, is der Mensch eh schon halbert ums Eck. Den müssen S' gern ghabt haben! Weil S' Ihnen gar so kümmern! Ganz derpracken tut's mich, wann ich Ihnen anschau.«
Walter legte aufatmend dem Mamertus Troll die Hand auf die Schulter, mit herzlichem Blick. »Ich hab's gewußt.«
»Was?«
»Nichts, lieber Mertl! Was bringst du?«
»Bringen?« Der Moosjäger wurde ein bißchen verlegen. »Ehnder bin ich da, daß ich mir ebbes hol.«
»Richtig! Deinen Wochenlohn!«
»Heut is freilich erst Freitag. Jeden Tag hab ich vier Überstunden gmacht. Wann S' d' Arbeit anschauen, merken S' es schon, daß ich mir 's ganze Wochengeld verdient hab.«
»Ja, Mertl! Gestern am Abend hab ich gesehen, wie weit du schon droben bist mit dem neuen Weg.«
Der Moosjäger streckte sich. »Gelt ja?« Als ihm Walter die achtzehn Mark auf den Tisch legte, schob Mertl zwölf Mark zurück. »So viel kann ich heimzahlen. Und jetzt, Herr Dokter«, schmunzelnd drehte der Moosjäger den Hut zwischen den Händen, »jetzt tät ich schön bitten, daß S' mir d' Ehr antun und auf d' Hochzet kommen.«
»Mertl?«
»Ja! Übermorgen kündt uns der Pfarr 's erstmal auf, mein Zenzerl und mich. Und über drei Wachen schnackelt's.«
Walter war eine Weile sprachlos. »Die Zenz? Und Sie? Wie ist denn das möglich?«
»Mit Enkere dreihundert Mark!« Der Moosjäger lachte. »Jetzt hab ich's aussibracht.«
»Mertl? Wie ist denn das gekommen?«
»Wann ein' 's Hakerl richtig hat, laßt's nimmer aus.« Das war alles, was Mamertus Troll über den Roman seines Glückes zu sagen wußte.
Eine Erinnerung zuckte heiß und tröstend durch Walters Herz. Die Weisheit des Moosjägers lautete auf anderen Lippen: »Was Liebe heißt, bleibt ein ewiges Ding.«
»Da krieg ich a bravs Weibets!« beteuerte Mertl stolz. »Im ärgsten Regen hat's mir mein Tüchl nachtragen.« Er zog auf der Tasche was Blaues und Rotes heraus, das schön zusammengefaltet war. »Da hab ich mich nimmer einigschneuzt. Alls hab ich aussiblasen über'n Daum!« Lachend barg er das Heiligtum wieder an seiner Brust. »Herr Dokter! Jetzt hab ich alls. Arbeit und Freud. Mich hat's ummidruckt auf d' Sonnenseiten. Vergeltsgott, Herr Dokter!«
In Freude faßte Walter die schwielige Hand des Moosjägers. Er sah die frohen Augen des Mamertus Troll und erinnerte sich an das Gesicht der Zenz, wie er es nach der »Iphigenie« gesehen hatte, im Glanz eines träumenden Glückes. »Mertl! Ich wünsche dir alles Gute. Dir und der Zenz. Zu eurer Hochzeit komm ich, das ist selbstverständlich. Und ich will dir noch was sagen, Mertl. Ich habe den Scheidhof gekauft.«
»Mar' und Josef!« stammelte der Moosjäger in Sorge.
Walter lächelte. »Ja, Mertl! Da mußt du mir helfen. In meinem Wald wird's Arbeit geben. Da brauch ich einen verläßlichen Menschen. Willst du mein Holzmeister werden? Ich gebe dir guten Lohn, und du hast eine sichere Existenz auf Jahre hinaus. Willst du?«
Der Moosjäger schlug ein, daß an Walters Hand alle Gelenke knackten. »Herr! Jetzt müssen S' mich a bißl an der Nasen reißen. Sonst glaub ich's net. Jesses, jesses, was wird 's Zenzle sagen!«
Ein paar Minuten später rannte Mertl bei sinkendem Abend die Straße hinaus. Im Hasenstall fand er nur den einsamen Peterl, der sein Pfeifl rauchte. »Wo is denn die Meinig?«
»Wo wird s' denn sein?« knurrte der Alte. »Bei dir daheim!«
»Jesses! Haben wir 's Häusl schon?«
»Da kannst heut schon schlafen drin! Die halbeten Decken hat s' mir davontragen. Natürlich! Ich bin gar nimmer auf der Welt. Mein' Schimmel hab ich noch, Gott sei Dank!«
Mertl lachte und sprang davon. Als er hinüberkam, wo das kleine Häuschen stand, außerhalb des Dorfes, gab's eine Enttäuschung: die Fenster waren dunkel. Aber dem Mertl kam es so vor, als wären die Mauern weißer, als sie sonst gewesen. Hinter dem niedergedrückten Zaun stand die Haustür offen, und Mertl hörte im Flur das Maxele sagen: »Mutter? Gehst noch allweil net heim?«
»Gleich, Bubele! Bloß den Gang muß ich noch abreiben. Morgen muß alles sauber sein. Da kommt der Vater heim.«
Mertl lachte. »Is schon da, der Vater!« Er trat in den dunklen Flur.
»Jesus!« Die Zenz sprang vom Boden auf. »Aber allweil is mir's fürgangen!«
Zuerst bekam das Maxele die Almrosen, die der Mertl auf dem Hut vom Hohen Schein heimbrachte. Dann legte der Moosjäger vor der Haustür seinen Plunder nieder und streckte der Zenz die beiden Hände hin. »Grüß dich Gott, Bräutl!«
Die Zenz trocknete an der Schürze die Hände und tat einen tiefen Atemzug.
»Mar' und Josef!« stotterte Mertl. »So viel plagt hast dich, daß zittern mußt?«
»Ah na!« Sie wollte ihre Hände befreien. Er hielt sie fest, bis die Zenz mit leiser Stimme sagte: »Geh, laß aus! Ich zünd a Spanlicht an. Mußt dir doch alls a bißl betrachten.« Sie ging ihm voraus in die kleine Küche. Während der aufglimmende Span ihr Gesicht beleuchtete, sagte sie: »Mit der Kuchl bin ich auf gleich. Und einghaust hab ich auch schon a bißl ebbes, daß ich dir aufkochen kann.«
»Sakra! Wird's mir aber schmecken!« Ganz merkwürdig klang sein Lachen. als er das kleine Bürschl bei der Hand nahm. »Maxele, Maxele, wir zwei haben's troffen!«
Die Zenz hob das brennende Spanlicht. »Frisch gweißnet hab ich auch.«
»Jesses, a gelernter Maurer kunnt's net besser machen!« stammelte Mertl. »Geh, du mußt dich aber schön strapeziert haben!«
»Is net so arg. Freilich, sieben Jahr, da wachst er an, der Staub. A wengl fest aufdrucken hat man schon müssen.« Sie leuchtete mit dem Span über den offenen Herd, leuchtete an jede Pfanne, die neu und blank an der Mauer hing, leuchtete an jedes Stückl Geschirr in der Schüsselrahme, in jede Lade des Küchenschrankes. »Jetzt zeig ich dir 's ander alles, komm!« Sie trat mit erhobenem Span in den Flur.
Dem Mertl fiel es auf, wie fest und grad sie vor ihm herging – als wäre das nimmer die lahmende Häsin auf des Peters Hasenstall. »Zenzle? Was is denn? Du marschierst ja wie a Leutnant!«
Sie wurde verlegen. »Dös hat mir der Schuster graten. So a Stöckl hat er mir einigmacht in' Schuh. Jetzt merk ich – schier gar nix nimmer.« An der kleinen Kammer schob sie die Tür vor ihm auf. »Da schau!« Der Raum war leer, doch der Boden war gescheuert, das Fenster eingeglast und die Mauer frisch getüncht, mit einer blauen Mischung im Kalk. »'s ganz Weiße mag er net, der Vater, weil er's allweil am Schimmel sieht. Und länger halten tut's auch. Aber d' Stuben hab ich weiß gemacht. Ich mein', dö gfallt dir. Da hab ich auch schon a bißl ebbes beinand.« Sie ging über den Flur hinüber, öffnete die Tür der Wohnstube und drehte das Spanlicht mit dem Feuer nach abwärts, damit es besser brennen und heller leuchten möchte. Die Stube war fix und fertig, um drin zu wohnen. Die Wände weiß, an den Fenstern kleine Vorhänge aus rotem Leinen, neben der Tür ein Riese von einem Kasten. Im Herrgottswinkel das Kruzifix mit den Palmzweigen, der große Tisch aus Föhrenholz, die festgezimmerte Eckbank und zwei dreibeinige Stühle. An der breiten Mauer neben dem weißen Ofen ein Ungetüm von Bettlade. Unter den wollenen Decken, die der Peterl in seinem Hasenstall vermißte, guckte ein breites Kissen mit rotkariertem Überzug hervor. Der Moosjäger schnaufte. »Zenzle, Zenzle! Jetzt sag ich nix mehr. Hexen kannst auch noch!«
Während sie von jedem Gerätstück den Preis nannte, um den sie es mit zähem Feilschen eingehandelt hatte, stand er schweigend bei der Tür. Dann nahm er den brennenden Span und leuchtete in den weißen leeren Winkel hinter dem Ofen. »Da is d' Mutter selig gelegen. Und gradso weiß is alles gwesen.« Mertl zog den Hut herunter. »Dös is mir 's beste Platzl im Haus. Da lassen wir 's Maxerl schlafen.«
»Vergeltsgott!« Und hastig sagte sie: »'s Spanlicht geht auf. Geh, komm, ich fuier auf und koch dir ebbes. Auf d' Arbeit auffi wirst Hunger haben.«
Als über dem Herd das Feuer flackerte, setzte sich der Moosjäger auf den Herdrand, hob den Buben an seine Seite und guckte der Zenz glückselig zu, wie sie für ihn schaffte Während es in der Pfanne mit angenehmen Düften brodelte, schwatzten die beiden von den kleinen Sorgen, nein, von den großen Freuden ihres werdenden Haushalts. Dann aßen sie am Herd. Obwohl dem Mertl der Hunger eines langen Arbeitstages in den Gedärmen brannte, pickte er nur wie eine Taube so kleinweis zu, um die Mahlzeit zu verlängern. Denn »so ebbes Delikates« hatte er in seinem Leben noch nicht geschmaust. Als die Pfanne geleert war, klang von der Haustür eine wütende Brummstimme: »Jetzt kunnst aber schon bald amal machen, daß d' heimkommst!« Ein schwerer Schritt stapfte davon. Nach der ersten Verblüffung sprang der Moosjäger zur Haustür und schrie in die sternhelle Nacht hinaus: »He, Vater! Geh, sei net narret und komm a bißl eini! So viel lieb haben wir's da.«
Der Peterl kam nicht. Der war bös.
Da machte die Zenz mit dem Spülen flinke Arbeit. Auch Mertl drängte: »Weißt, der Vater is allweil der Vater!« In der Haustür drehte er den Schlüssel mit einer Vorsicht um, als hätte das kleine Dach unmeßbare Schätze in seiner Hut. Die Zenz nahm er bei der Hand, und das Maxerl ließ er, weil der Tau schon lag, auf seinem Nacken reiten. Das sah in der Finsternis aus als ginge neben der kleinen Zenz ein Riese einher. Das war nicht der Riese des irdischer Schmerzes.
Sie schlugen den nächsten Weg ein, hinter dem Dorf über die Wiesen. An der Ecke des Pfarrgartens hörten sie Geklirr, als wäre im Pfarrhaus ein Fenster in Scherben gegangen. Gleich darauf sahen sie einen Menschen im Dunkel durch den Garten das Weite suchen. »Der muß ebbes angstellt haben!« sagte Mertl, stellte das Maxerl zu Boden und wollte rennen. Die Zenz packte ihn an der Joppe: »Bub, ich bitt dich gottstausendmal, tu dich in nix einlassen!«
Mertl spähte mit seinen Falkenaugen in die Finsternis, in der der Flüchtende verschwand. Er glaubte seinen Herrn und Heiland erkannt zu haben und stotterte: »Jetzt weiß ich aber net – ah na, dös kann net sein!«
»Geh, komm, ich bitt dich um Gotts willen!« Das Maxerl an der Hand führend, zog die Zenz den Moosjäger an der Joppe mit sich fort.
Vor der Tür des Hasenstalles legte Mertl der Zenz die Hände auf die Schultern. »Gut Nacht halt, Bräutl! Schau, ich hätt's gern aufgspart bis auf'n Sonntag nach'm ersten Aufbot. Aber weil dich gar so plagt hast für unser Glück, muß ich dir d' Freud doch heut schon machen. Zenzle! Ich bin ebbes.«
»Der Beste bist mir!« sagte sie leis. »Mehr kannst mir net sein.«
»Dir bin ich allweil noch weniger, als d' verdienst. Aber lus, Zenzle! In der Welt bin ich ebbes! Dokter Walterischer Holzmeister bin ich!« Er streckte sich im Stolz seiner Würde. Dieses Große verstand sie nicht gleich. Mertl mußte ihr's erklären: eine sichere Stellung, Arbeit und Verdienst, ein Leben ohne Sorge. »Gelt?« Er nahm mit scheuem Tappen ihre Wangen zwischen seine Hände. »Gelt, jetzt schlafst aber gut?«
»Jesus, Jesus, so viel überanand! Unser Herrgott raumt an Kramladen für uns aus.«
»Dich mag er halt, weißt! Und sag's nur dem Vater gleich! Nacher zannt er nimmer. Gut Nacht!« Und der Moosjäger sprang, als müßte er vor einer Versuchung flüchten, in die sternhelle Nacht hinaus. Erst bei der Kirche fiel er in langsamen Schritt und hörte vom erleuchteten Wirtsgarten herüber den leidenschaftlich bewegten Gesang zweier Mädchenstimmen:
Wasser von der Marosch Fließt so rot! Lebst noch, Liebster, oder Bist du mausetot? Wasser von der Marosch. Fließt blutwurstrot.« |
Der wehe Klang der langgehaltenen Fermate löste sich in heiteres Lachen auf. Dem Moosjäger war bei diesen glühenden Tönen ganz schwül geworden. »Sakra! Dös kunnt ein' aufrebellen!« Als er zum Pfarrhof kam, hatte er flink an was anderes zu denken. Er sah die ebenerdige Stube erleuchtet. Richtig, da war ein Fenster in Scherben geschlagen. In der hellen Stube sah er den Pfarrer, im wollenen Nachtjackerl, mit der Schlafmütze, und neben ihm die alte Schwester mit dem nonnenhaften Häubchen. In Sorge rief der Moosjäger durch das zerschlagene Fenster hinein: »Herr Pfarr? Es wird doch nix passiert sein? Weil ich's Fenster hab scheppern hören?«
»Nein, Mertl!« Der hochwürdige Herr Christian Schnerfer schien sich bei aller Erregung, die an ihm kenntlich war, in einer andächtigen Stimmung zu befinden. »Passiert ist schon was! Aber was Gutes.«
Da ging der Moosjäger seiner Wege und lachte vor sich hin: »Wann's ebbes Guts war, kunnt's mein Herr und Heiland schon gwesen sein!« Als er heimkam, brannte er ein Spanlicht an, ging von Raum zu Raum und musterte mit glänzenden Augen jedes Stück seines Hausrats. Dann blieb er im Ofenwinkel der Stube sitzen. So schwarz die Finsternis um ihn her lag, die Augen seines Herzens sahen alles weiß.
Die Müdigkeit begann ihm die Lider schwer zu machen. Er nahm eine von den grauen Decken des Bettes, rollte sie zu einem Kissen zusammen und legte sich drüben in der leeren Kammer auf den Boden. So gut und fest schlief er, daß die Zenz am Morgen mit beiden Fäusten an die Haustür pumpern mußte, um den Mertl zu wecken.
»Aber geh, warum hast denn net im Bett gschlafen?«
»Na, na! Es muß net alles gleich verwargelt sein. Da wart ich schon.«
Schweigend ging die Zenz zum Herd und schürte ein Feuer an, um für den Mertl die Morgensuppe zu kochen.
»Wo is denn unser Bub?«
»Der Vater hat ihn mitgnommen zum Bierführen. Ebbes will er auch haben, sagt er.«
Während die Zenz kochte, rannte Mertl ins Dorf, um Schindeln und Handwerkszeug zu kaufen. Nach der Suppe begannen sie ein lustiges Schaffen. Die Zenz säuberte den Bodenraum, und Mertl besserte das Dach aus. Am Nachmittag machte sich der Moosjäger dran, den Gartenzaun, den die Schneelasten von sieben Wintern niedergedrückt hatten, wieder aufzurichten. Die Zenz grub die von Unkraut überwucherten Beete um. Da würde freilich bei der späten Sommerzeit gar viel nimmer wachsen. »Aber Schnittlauch und Endivi, Fisolen und a paar Blümln bringen wir schon noch auf bis über vier Wochen.« So emsig schafften sie, daß sie, als es auf den Abend zuging, das Geläut der Glocken nicht hörten. Erst als Mertl rund um den kleinen Zaun herum alle Staketen angenagelt hatte, bekam er Ohren. »Jesses, da läuten s' für'n Herrn Ehrenreich! Zenzle, da müssen wir ummi und a paar Vaterunser mittun.«
Beim Roten Hirschen begegnete ihnen der Zug: voraus drei Ministranten mit umflortem Kreuz und zwei silbernen Laternen auf Stangen, dann der Pfarrer neben dem Mesner, und hinter dem schwarz verhangenen, mit einem Kranz aus Rosen, Levkojen und Reseden geschmückten Sarge, den der Bonifaz und die Knechte aus dem Scheidhof trugen, Mathild unter schwarzen Schleiern, zwischen Walter dem Bruder. Die Sägmüllerin fehlte. Auch das Fritzele und das Nannerl. Nur das Walperl, das zum Zeichen de Trauer ein schwarzes Halstuch um das Sonntagsmieder geschlungen hatte, zählte noch als Leidtragende des Hauses. Nun kam eine lange Reihe von Mannsleuten, mit halblauten Stimmen litaneiend, und ihnen voran ging der Bürgermeister mit dem bekümmerten Apostelgesicht, einen großperligen Rosenkranz um die Faust geschlungen, allen Ernst dieser Stunde in den schönen, treuen Augen. Dann folgte die Reihe der Weibsleute. Die beteten lauter als die Männer und schwatzten dazwischen.
Die Zenz und der Moosjäger trennten sich. Er reihte sich als letzter hinter die Mannsleute. Die Zenz, um in den Zug eintreten zu können, mußte warten, bis die Jungfrauen und die ehelichen Bäuerinnen an ihr vorüber waren. Einsam blieb sie nicht. Hinter der letzten Bäuerin kamen noch viele andere.
Die Sonne funkelte wie Gold über dem Sarg und den entblößten Köpfen. Überall in den Höfen, an denen der Zug vorüberkam, verstummte der Lärm des Lebens. Nur die Vögel schwiegen nicht. Sie zwitscherten in den Lindenkronen. Und nicht wie ein Lied der Trauer, sondern wie feierliche Jubelstimmen schwammen die Glockentöne in der leuchtenden Luft. Zwischen jungen Zypressen lag das offene Grab, von Sonne überflutet. Über den Hügel der frischen Schollen ragte ein Stein auf rotem Marmor, auf dem das Gold eines Namens glänzte: »Charlotte Ehrenreich.«
Mathild zitterte unter den schwarzen Schleiern, und Bertl umklammerte ihre Hand, nicht um die Schwester zu stützen, sondern um Stütze für sich selber zu suchen und sich an der Kraft der Schwester aufzurichten. Sein blasses Gesicht war von Angst entstellt. In seinen Augen war ein irrender Blick, der nicht zu sehen schien, was um ihn her geschah. Neben den beiden stand Walter am Grab, verstört und bleich. Der Pfarrer sprach die kirchlichen Gebete und segnete das Grab. »Gelt, Leut«, sagte Bonifaz leis zu den Knechten, als er die Stricke faßte, »tuts Obacht geben, daß wir ihn stad hinablassen!« Nur ein mattes Knirschen hörte man, und ein paar Schollen fielen. Das Geläut der Glocken schwieg, die Knechte traten vom Grab zurück, und Stille war im Friedhof, den die sinkende Sonne überglänzte. Ein leiser, weher Laut unter Mathilds schwarzen Schleiern. Und Bertls Zähne knirschten unter dem stummen Zucken, das seinen Kopf und seine Schultern wie ein Krampf befallen hatte. Der Pfarrer schloß das kleine schwarze Buch. Es dauerte eine Weile, bis er sprechen konnte.
»Da legen wir einen hinunter in die ewige Ruh, von den Besten einen, die das Leben geschmückt haben. Der hat Ehrenreich geheißen. Und ist gewesen, was sein Name von ihm sagt! Ihr alle habt ihn gekannt. Oder ihr hättet doch Augen gehabt um zu sehen, was er wert gewesen. Wie blind ist manchmal das Gesicht der Menschen! Aber nun ist nach Gottes Gerechtigkeit ein Stündl gekommen, da sollen die Blinden das Sehen lernen!« Dem Pfarrer zitterte die Stimme, er mußte Atem schöpfen. »Könntet ihr in die Herzen seiner Kinder schauen, könntet ihr sehen, wie das Bild dieses Toten lebendig in ihren Seelen glänzt, dann dürft ich schweigen und segnend das Kreuz machen. Aber heut in der Nacht, unter Gottes gerechten Sternen, ist etwas geschehen. Das muß ich euch sagen. Und daß ihr es ganz versteht, muß ich euch das Leben dieses Mannes zeigen, wie es euer Pfarrer gesehen hat mit Herz und Augen.«
Dem Hochwürden liefen die Tränen über das Gesicht, und dennoch war's wie ein Klang der Freude in seinen Werten.
»Ich bin einmal an einem schönen Morgen übers Feld gegangen. Da war jedes Lüftl ein Gotteshauch, Blumen und Ähren sind in Blüt gestanden, und die Lerchen sind mit Singen hinaufgestiegen in die reine Sonn. Wie dieser Morgen, so ist dieses Mannes Leben gewesen! – Ich hab mich einmal bei bösem Wetter verlaufen in einem Wald. und da hat mir ein Licht geschienen, hat mir den rechten Weg gewiesen und hat mich zu einer sicheren Stub geführt. Wie dieses warme, führende Licht, so ist dieses Mannes Freundschaft gewesen, sein gutes Denken für die Menschen! – Ich bin einmal in eine wundervolle Kirch gekommen. Durch die hohen Fenster hat die Sonn hereingelacht, daß mir die Andacht eine Freud gewesen ist. Altäre sind dagestanden, ich kann euch nicht sagen wie schön, jede große Säul und jeder kleinste Schnörkel vom allerbesten Künstler gemacht. Und auf dem Chor hat die Orgel gespielt, die besten Geiger und Flötisten haben musiziert, die schönsten Stimmen haben gesungen. Was meint ihr, Leut, wie fromm und dankbar eurem alten Pfarrer da zumut gewesen ist! Und schauet: wie die heilige Sonn und der reine Klang in dieser Kirch, so war jeder Lebenstag in dieses Mannes Haus, sein Herzensbund mit seiner unvergeßlichen Frau, die freudige Lieb zu seinen Kindern! – Ich bin an klarem Abend einmal hinausgegangen zum Hohen Schein. Der hat geleuchtet in seinem Gottesglanz, und sein schönes Brennen ist sanft hinübergeschlafen in die stille Nacht. So still und schön ist dieses Mannes christlicher Tod gewesen.«
In dem Schweigen. mit dem die hundert Menschen das offene Grab umstanden, hörte man den Schlag einer Amsel.
»So war der Mann, den wir da hinunterlegen in die stille Ruh. Und jetzt denket zurück über sieben Jahr! Und wer einmal von diesem Mann da anders gedacht hat, als euer Pfarrer von ihm denkt, soll jetzt mit einem guten Gedanken an seine Brust schlagen! Ihr wißt, was ich meine! Und die mich nicht verstehen? Denen will ich was erzählen. In seiner Sterbstund hat mich der Herr Ehrenreich mit seinen klaren Augen angeschaut. ›Pfarrerle‹, hat er gesagt, ›jetzt werd ich Gottes Gerechtigkeit schauen.‹ So hat er gesagt. Und heut in der Nacht ist was geschehen. Da hat mir einer am Pfarrhof ein Fenster eingeschlagen. Der liebe Herrgott soll die Faust segnen, die so viel Scherben hat klappern lassen! Und durch das Loch im Fenster hat mir einer einen gesiegelten Brief in die Stub geworfen. In dem Brief hat alles Geld gelegen, das vor sieben Jahr aus dem Forsthaus verschwunden ist. Und ein Blättl Papier ist in dem Brief gewesen. Da ist draufgestanden mit verstellter Schrift: Ein Schuldloser hat die Augen zugetan, in einem Schuldigen brennt die Reue.«
Mit leisem Laut hatte Mathild die Hände nach ihres Vaters Grab gestreckt. Und Bertl, das entstellte Gesicht von Tränen überronnen, war auf die Knie gefallen und hatte betend die Fäuste ineinandergeklammert, als wäre das die Stunde, in der ein Schrei seines Herzens bei Gott Erhörung finden müßte.
Die Leute, die das Grab umstanden, hatten die Worte des Pfarrers zuerst mit scheuem, andächtigem Staunen aufgenommen. Nun gab's ein Köpfedrehen und ein erregtes Geflüster. Einer guckte dem andern ins Gesicht. Stärker als ihre Freude, die Ehre eines Schuldlosen gereinigt zu sehen, war in ihnen die Neugier nach dem Schuldigen, in dem die verspätete Reue heiß geworden. Und unter den vielen war einer, aus dessen Gesicht eine ratlose, fast komisch wirkende Verblüffung redete: mit offenem Mund und verdutzten Augen starrte Sonnweber den Pfarrer an, als ginge das Wunder der ewigen Gerechtigkeit, das er da verkünden hörte, über die Klarheit seines gesunden Verstandes.
»Den Zettel hab ich verbrannt. Wir wollen nicht fragen nach dem Schuldigen, wollen verzeihen, wie es der herzensgute Mann da getan hätt, dem die Sonn einen letzten Gruß hinunterleuchtet in die stille Ruh.« Der Pfarrer trat an das Grab, ließ die ersten Schollen gleiten und reichte die kleine Schaufel dem Sägmüller. »Nimm, Bertele! Laß dir's nicht weh tun, wenn du die geweihte Erd da drunt ein bisserl hart auffallen hörst! Heiliger Boden ist keine Last. Der ist unser aller Heimat und eine starke Mauer wider die Schmerzen des Lebens. Amen!«
Während Bertl unter Schluchzen mit der Schaufel dreimal von den Schollen hinunterwarf, drückte der Pfarrer Mathilds Hand und streichelte ihr die Wange, die der schwarze Schleier bedeckte. Dann ging er zur Sakristei. Die Glocken fingen wieder zu läuten an.
Aus Mathilds zitternden Händen kam die Schaufel an Walter. Sein Gesicht war müd und bleich. Er atmete schwer, als die Schollen fielen. Dann wollte das Walperl die Schaufel nehmen. Der Bürgermeister kam ihr zuvor. Als er in seiner würdevollen Art dem Toten die letzte Freundschaft erwiesen hatte, legte er die Hand auf Bertls Schulter und sagte mit herzlicher Wärme: »Jetzt müssen S' Ihnen trösten, Herr Ehrenreich! Durch Gottes Willen hat Enker Herr Vater sein' guten Namen wiederkriegt, und d' Ehr is mehr wie 's Leben. Aber gelten S', ich hab's allweil gsagt: der macht d' Augen net zu, eh daß ihm net Gerechtigkeit widerfahrt!«
Bertl schien nicht zu hören. Seine Brust arbeitete wie unter einem drückenden Stein, und ziellos irrten seine verstörten Augen. Von der Straße klang der Lärm eines Wägelchens, das Eile zu haben schien. Und Bertl, unter heftigem Zittern, wandte sich plötzlich vom Grab seines Vaters, drängte sich durch die Leute, die um ihn her waren, und rannte der Straße zu. Die Bauern machten verwunderte Gesichter, und in Unmut zog der Bürgermeister die Brauen zusammen. »So sollt einer doch net davonlaufen, wann seim Vater die letzte Ehr derfahrt!« Er betete noch ein Vaterunser und warf, als er das Gesicht bekreuzte, einen seltsam forschenden Blick zu Walter hinüber. Dann schob er den Rosenkranz in die Tasche und verließ das Grab. »Nachbar«, sagte er zu einem Gemeinderat, der mit ihm zusammen auf dem Friedhof ging, »da haben wir an braven Menschen abiglegt.«
»Was meinst denn? Was kunnt denn dös für einer gwesen sein, heut in der Nacht?«
»Mein, Mensch, da is a harts Raten!« Der Bürgermeister nickte vor sich hin. »Der Herr Pfarr hat recht. Jetzt muß man's gut sein lassen, muß zfrieden sein mit der halbeten Reu und dö Sach versöhnlich anschauen. Ordnungsmaßiger wär's freilich gwesen, wann der Herr Pfarr den Zettel zur Amtshandlung an d' Schandarmerie überwiesen hätt. Aber d' Hauptsach is, daß der alte Herr sein' ehrlichen Nam wieder hat. 's ander muß dreingehn! Tat alles aufkommen im Leben, so dürft man den ganzen Tag nix wie köpfen und henken. Willst mit Gusto leben, so mußt allweil 's halbete Gschau offen haben und 's halbete zu. Erschrecken müßt einer, wann er wüßt bei jedem Schrittl, was für a Grausen ungschauter neben ihm hergeht. Und 's Schiechste vom Schiechen kann für an Kurzsichtigen ausschauen wie 's Beste und 's Allerschönste vom Leben. Is schon wahr, unser Herrgott hat's uns gut vermeint mit der irdischen Blindheit. Schau an Schafbuben an, der über alle Grat aussispringt, wann er seine Lampln sucht! Schaut er hin auf d' Löcher, so hat er 's Gnack schon brochen. Na, na! Der lacht auffi ins Licht, und derweil er jodelt, hupft er ummi über alle Gräben. So mußt leben, Mensch!«
In scheuer Ehrfurcht guckte der andere an dem schönen, stattlichen Mann hinauf, um dessen Apostelkopf die Abendsonne ihre goldenen Lichter herglänzte. »Von Enk hört man halt allweil ebbes Guts. Jeds Schrittl mit Enk is a Profit für 's Leben.«
Die Glocken schwiegen. Ein Widerhall, der von den Bergen kam, durchzitterte noch den leuchtenden Abend. Es wurde still um das frische Grab. Einer nach dem andern war gekommen, Mathilde Hand zu drücken. Dann hatten die Leute den Friedhof verlassen. Nur ein paar alte Frauen waren noch geblieben, um hier und dort vor einem Grab ein Vaterunser zu beten. Und der Moosjäger stand noch da. Immer zupfte ihn die Zenz am Ärmel, doch Mertl blickte in Sorge nach seinem Herrn und Heiland, der vor dem frischen Hügel schweigend an Mathilds Seite stand. Da brachten der Bonifaz und das Walperl eine mit Gartengerät und Blumenstöcken beladene Tragbahre. »Zenzle, da müssen wir helfen!« sagte der Moosjäger, packte die beiden Gießkannen und lief davon, um Wasser zu holen. Mathild streifte die schwarzen Schleier zurück und nahm den Hut herunter. Als Walter ihre Absicht merkte, faßte er sie erschrocken bei der Hand. »Fräulein –« Er konnte nicht weitersprechen. So weh tat ihm der Anblick ihres vergrämten Gesichtes, das er nicht mehr gesehen, seit sie nach ihres Vater Tod die Rosen aufgebunden hatte. »Mathild! Nein! Das dürfen Sie nicht tun. Nicht jetzt! Sie müssen sich ein paar Stunden Ruhe vergönnen.«
Wortlos befreite sie ihre Hand und kniete neben dem frischen Hügel auf den Rasen nieder. »Bitte, Walperl, zuerst die Levkojen und Reseden!« Nun halfen sie alle zusammen, um den kleinen Berg der dunklen Schollen in einen blühenden Hügel zu verwandeln. Mertl brachte die vollen Gießkannen herbeigeschleppt. »Beim Schulmeister hab ich's gholt. Der hat 's beste Wasser im Brunn.« Als der Schatten des späten Abends um den Friedhof blaute, war die Arbeit getan. An den Blüten und Blättern, die sich schon aufzurichten begannen, hingen die Wasserperlen, schimmernd wie Morgentau. »So viel schön schaut's aus!« sagte Mamertus Troll. »Da möcht ich gleich selber drunterliegen.« Erschrocken faßte die Zenz den Mertl am Joppenzipfel. Er lachte ein bißchen. Und dieses Lachen war wie ein Segen des Lebens, der über das frische Grab gesprochen wurde.
Bonifaz und Walperl luden das Gartengerät auf die Tragbahre, und Mathild hob ihren Hut vom Rasen auf. Schweigend stand sie noch vor dem Grab und sah die Blumen an und den roten Stein, auf dem auch im Schatten des Abends noch die goldenen Lettern glänzten. Dann reichte sie jedem die Hand, zuletzt dem jungen Scheidhofer. »Ich danke Ihnen!« Sie wollte gehen.
»Wir halben doch alle den gleichen Weg?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß in die Sägmühle. Das Kind meines Bruders ist schwer erkrankt.« Mit den Schleiern band sie den Hut an ihren Arm und verließ den Friedhof.
Walter eilte ihr nach. »Mathild?«
Da blieb sie stehen und sah mit ihren verstörten Augen zu ihm auf. »Ich bitte Sie, mich allein zu lassen!« Sie wandte sich ab und ging die Straße hinaus.
Er fühlte: das ist noch etwas anderes als nur ihre Trauer und Sorge. Das Herz und die Kehle von Angst umschnürt, stand er unbeweglich im Glanz des schönen Abends. Alles blaute und leuchtete. Und während die Schatten schon übers Tal und über die Wälder flossen, brannte fern auf dem Hohen Schein noch immer der helle, reine Tag.
»Du«, flüsterte das Walperl ihrem Buben zu, »mit dö zwei, da hat's ebbes!«
»Hab mir's seit gestern schon allweil denkt!« Bonifaz gab ihr einen Puff mit dem Ellbogen. »Geh, red a bißl gut mit ihm! Den müssen wir heimkutschieren.«
Scheu ging das Walperl auf den Scheidhofer zu. »Kommen S', Herr Dokter! Zwei Tag und zwei Nacht kein Broserl Fried und kein' Schlaf! Wann S' Ihnen nur sehen kunnten, wie S' ausschauen! Jetzt kommen S' mit heim, Herr Dokter! Es wird sich schon alls wieder machen! Schauen S' den Abend an, wie fein als er is! Und was haben wir vor zwei Nacht für a Wetter ghabt!«
Er ließ sich von dem Mädel fortziehen. Bonifaz ging an seiner anderen Seite und fing davon zu reden an, wie gut die Regengüsse und dann die warme Sonne drauf dem Haber und der Gerste getan hätten. »Trügt mich net alls, so kriegen wir heuer im Scheidhof die doppelte Frucht.«
Beim Tor des Gottesackers stand der Moosjäger und guckte studierend seinem Heiland nach. »Zenzle, jetzt versteh ich bald d' Welt nimmer!«
»Was sinnierst denn allweil so?«
»Lassen wir's gut sein! Wann er's in der Gheim haben will, därf ich 's Tüchl net abireißen.«
Sie kamen zum Roten Hirsch hinüber. Hier war es lebendig im Hof. Vor der Tür rauften sich die Leute, um noch rechtzeitig ins Haus und hinauf in den Saal zu kommen. Heut spielten die merkwürdigen Brüder und Schwestern wieder: die »Geschwister« und die Gretchenszenen aus dem »Faust«. Sie hatten doppelten Zulauf. Die Hundert, die das »griechische Gspiel« gesehen, hatten es unter die Leute gebracht, wie »viel schön« das wäre. Auch die Zenz erinnerte sich der Freude, die ihr da droben unter dem Dach ins Herz gefallen. Weil sie das dem Mertl gern vergönnt hätte, fragte sie: »Magst net eini ins Gspiel?«
Der Moosjäger schüttelte den Kopf. »Schaffen wir lieber noch a Stündl! Komödi hat man gnug im Leben. Aber 's Glück is rar. Jetzt haben wir's, Zenzle, jetzt hackeln wir uns ein. Und weißt, d' Montur für morgen muß ich mir auch noch kaufen.«
»Hast recht! Ich mach derweil a Sprüngl zum Vater eini.«
Mit Stolz und Freude sah Mertl der lahmenden Häsin nach, die trotz des »Stöckerls im Schuh« ein bißchen knixte. Dann sprang er zum Krämer und kaufte eine Hose und Jacke aus braunem Leinen, dazu ein neues Hemd und ein rotes Halstüchl. Alles zusammen kostete vierzehn Mark. »Viel Geld!« seufzte er und hatte doch seine Freude, wenn er dran dachte, wie schmuck er morgen aussehen würde. Die Nagelschuhe wollte er »fest schmirben« und den Hut am Abend noch in heißem Wasser kochen. Dann war alles neu an ihm, innen und außen. Der Krämer erinnerte ihn an die Pfeife mit dem Ulmerköpfl, die dem Mertl beim Einkauf seines Plunders so gut gefallen hatte. »Na, Mensch! Heut hab ich mir schon gnug zahlt!« Der braune Anzug wurde in blaues Zuckerhutpapier gewickelt. Auf den vorgestreckten Händen trug Mamertus Troll seinen neuen Menschen heimwärts durch den schönen Abend.
Die Zenz war schon da, und aus dem dämmerigen Flur leuchtete der Herdschein heraus. Als sie gegessen hatten, wurde Mertls Hut zum Auskochen zugesetzt. »A Stündl braucht er schon!« meinte der Moosjäger. »Jetzt schaffen wir derweil.« Im dunklen Garten stupften sie die Fisolenkerne in die umgegrabenen Beete und setzten die Salatpflänzchen ein. Für Blumensamen war auch schon gesorgt. An den Hut, der in der Küche seine Dampfkur durchmachte, dachten sie nimmer. Sie arbeiteten, bis die Sterne am Himmel funkelten.
Wie laut die Grillen sangen! Die Mondsichel glänzte neben dem Hohen Schein heraus, warf ein dämmerndes Lichtband über das Tal und tauchte wieder hinter die Berge. Dann wurde es lebendig im Dorf. Das Theater war zu Ende. Wie »dürstig« die Gemüter an diesem Abend wieder geworden, merkte man an dem Jauchzen, das nach allen Richtungen hinauswanderte in die sternschöne Nacht. Auf der Kirchstraße machten die Buben beim Gasselgehen einen übermütigen Lärm. Eine alte Bäuerin fing zu brummen an und zog ihr Mädel auf einen dunklen Fußweg. »Springen wir lieber hinterm Pfarrhof ummi!«
»Jesses na! Die Buben fressen ein' net.«
»Jetzt gehst mit heim! Oder möchtest ebba wieder bis zwei in der Fruh auf der Gassen umanandstehn, wie 's letztmal nach der Komödi?«
Das Mädel schwieg.
In der Finsternis fing die Mutter nun selber vom Theater zu schwatzen an. Viel Gutes ließ sie nicht an der Tragödie des armen Gretchens. »Gfallen hat mir bloß der Tuifi. Gradso fein hat er's allweil gmacht wie der Nachbar, wann er ebbes will – allweil hinter die Ohrwascheln ummi, und gahlings macht er an Griff!«
»Geh, laß mich aus mit'm Tuifi! Sind doch andere Sachen auch noch drin gwesen. Und was für schöne!«
»Ja, recht schön!« murrte die Alte. »Da hast es sehen können, wie d' Verführung so a dalkets Lampl ins Unglück bringen kann! Schau dir an, was für a bravs Madl 's Margaretle gwesen is. Und was für grausliche Sachen hat s' hintnach angstellt! Den Brudern hat's derstechen lassen, und d' Mutter hat's vergiftet und ihr Kind hat's umbracht! Jesses, jesses, jesses!«
»Auf dös arme Madl laß ich net schimpfen. Was kann's denn derfür? Wann alles so lieb und schön gwesen is, was ihr 's Herzl verdraht hat! Unsereim tat's auch net anders gehn.«
»Waaas! Tatst ebba auch d' Mutter vergiften?«
»Dös grad net! Aber –« Das Mädel verstummte.
Hinter den Hecken fing einer mit hoher Stimme zu singen an:
»Und 's Herzl verbrennt mir Im siedheißen Leib – Hölltuifi, wo bist denn? Komm her, ich verschreib! Mein Schatzl bann her und |
Die Bäuerin fing zu schimpfen an. Sie hatte den Sänger an der Stimme erkannt. Es war ein Sohn jenes Nachbars, der es immer so fein machte wie der Teufel im »Göthianerstuck«. »Der soll mir noch amal einispeanzeln ins Haus! Den staub ich davon mit'm Besen.«
Da klang es lustig hinter der schwarzen Hecke:
»Es schaut si nix aussi Beim höllischen Brand – Da wallfahrt i lieber Ins griechische Land!« |
Das Mädel schrie einen Jauchzer in die Nacht und ließ in geduldiger Ruh die Mutter schelten, den ganzen Heimweg. Die beiden wohnten weit draußen, wo der Mühlbach gegen das westliche Waldtal strömte, um seine Wasser durch eine tiefe Felsklamm zu werfen.
Wie ein graues Band lag neben dem schwarzen Bach das schmale Sträßl, das zur Mühle führte. Ein Weibsbild, mit einem schweren Zuber auf dem Kopfe, rannte da hinaus. Am Wohnhaus der Mühle waren alle Fenster erleuchtet. »Burgele?« klang von der Haustür eine schrillende Stimme. »Hast es, Burgele?« Es war etwas so Fremdes und Wildes in dieser Stimme, daß die Magd nicht wußte, wer da schrie. In der Helle, die aus den Fenstern leuchtete, erkannte sie das Nannerl, das über den Hof gelaufen kam: »Gib her!« Das Nannerl riß der Magd den Zuber vom Kopf und schleppte keuchend die schwere Last zum Haus: »Jetzt hab ich's, Müllerin!«
Bertl kam auf der Kammer gestürzt und half dem Nannerl den Eimer tragen. In der Kammer warfen sie das Eis in die kleine Badewanne, die mit Wasser gefüllt war.
»Nur schnell das Tuch hinein!« sagte der Arzt, der vor dem Gitterbettchen saß.
Frau Rosl wollte mit dem Leintuch zur Badewanne und wurde von einer Schwäche befallen, weil sie das Gesicht ihres Mannes angesehen hatte. Das Bild dieser stummen Verzweiflung zerbrach ihre letzte Kraft. Mathild nahm ihr das Leintuch aus den Händen und tauchte es in das gekühlte Wasser. Und das Nannerl klammerte den Arm um die Müllerin: »Der heiligen Mutter hab ich mein Glück verlobt! Und alls! Da kann dem Kindl nix gschehen!«
Der Arzt hatte sich erhoben und schälte das Fritzele aus den nassen Tüchern heraus, in die es gewickelt war. Die Augen geschlossen, im Brand des Fiebers, bewußtlos, kämpfte das Kind gegen die Atemnot.
»Schnell das kalte Tuch!«
Mathild riß die dampfenden Linnenstücke aus dem Gitterbett und breitete das im Eiswasser gekühlte Leintuch aus. Dabei hielt der Doktor das Kind in der Luft. Bubis Köpfl war gegen das nackte Schulterchen gesunken, und über den Händen des Doktors standen die Ärmchen auseinander.
Bertl taumelte aus der Kammer, das Gesicht mit den Händen bedeckend. In der Stube fiel er auf eine Bank. Wie man einen Schuldigen packt, so faßte er mit den Fäusten die eigene Brust.
»Ich! Ich! Ich!«
Das Nannerl kam aus der Stube gestürzt. »Alls is gut! Komm eini, Müller!« Da schlug die Kastenuhr. Dem Nannerl zuckte ein Schreck durch den Leib, als flöge ein Schwarm von Gespenstern an ihren aufgerissenen Augen vorüber. Mit beiden Händen umklammerte sie Bertls Arm: »Ich hab mich der heiligen Mutter verlobt! Dein Kindl muß gsunden!«
Frau Rosl erschien in der Kammertür und sprang zu ihrem Mann. »Bertele!« Sie umschlang ihn. »Der Doktor hat aufgschnauft! 's Kindl, mein ich, is überm Berg! Komm! Tu wieder hoffen!« Er ließ sich führen. Wieder waren sie alle um das kleine Bett. In der harrenden Stille hörte man nur das Geflüster des Nannerl. Mit verklammerten Händen stand sie beim Ofen und betete. »Heilige Mutter, heilige Mutter, heilige Mutter –«
Das Fritzele schien von aller Atemnot erlöst. In seinem heißen Gesichtl war's wie ein Ausdruck der Wohligkeit, die ihm von den kalten Tüchern in die fieberbrennenden Glieder quoll. Einmal machte es unter dem Wickel eine Bewegung, als möchte es das eingebundene Ärmchen rühren, und lispelte: »Dein Handerl, Papi! Wo ist dein Handerl?« Dieses träumende Flüstern war das letzte Wort, das Bertl und Frau Rosl von ihrem Kinde hörten.
Die beiden hofften noch immer. Und das Nannerl glaubte. Nur Mathild ahnte, was kommen würde. Sie ging dem Bruder nicht mehr von der Seite. Der Doktor hatte mit ihr kein Wort gesprochen; sie kannte ihn und verstand das aschfarbene Gesicht. Er war Junggeselle, immer im Herzen die Sehnsucht nach einem Glück, das er niemals fand. Diese Sehnsucht verkörperte sich in seiner Liebe zu den Kindern, die das Glück den anderen gab. Er konnte erwachsene Leute sterben sehen, ohne daß er seinen Gleichmut und die Fähigkeit verlor, auch in grauer Stunde noch ein heiteres Wort zu sagen. Aber Kinder sterben zu sehen, das hatte er noch nicht gelernt. Das machte ihn immer feige, bevor das Äußerste kam. Als das letzte Mittel seiner Kunst versagte, sprach er eine Lüge und verließ die Mühle, um nicht sehen zu müssen, wie dieses liebe Gesicht sich verwandeln würde in kaltes Wachs. Bis zur Haustür rannte das Nannerl dem Doktor nach und küßte seine Hand. Er hatte doch mitgeholfen bei dem Wunder, das die heilige Mutter wirkte! Und das Mädel zitterte vor Freude, als es wieder in der Kammer war und das Fritzele so ruhig schlafen sah.
Weil Bubis Gesicht immer weißer und weißer wurde, fing die Müllerin zu zittern an. Und Mathild erkannte, daß das Letzte gekommen war. Sie hatte nicht das Herz, dem Bruder das zu sagen. Da preßte Frau Rosl den Arm um seinen Hals. Er sah zu ihr auf, schnellte vom Sessel in die Höhe, beugte sich über das kleine Bett und nahm die Wangen des Kindes zwischen die Hände. »Jesus!« Er schrie wie ein Tier, faßte den kleinen Leichnam und rüttelte ihn, als könnte er mit Gewalt dieses versunkene Leben wieder herausreißen in den Tag. Mathild warf sich zwischen ihn und das kleine Bett. »Denk an den Vater! An die Mutter! Was dir lieb ist, kann nicht sterben, das lebt in dir!« Frau Rosl klammerte sich an seine Brust. So tief wie ihr Schmerz um das Kind, so heiß war ihre Sorge um diesen gebrochenen Menschen. »Barmherziger Herrgott! Was is denn mit meinem Mann? So schauts ihn doch an!« Mit der Kraft ihrer Verzweiflung und Liebe hielt sie den Tobenden umschlungen. »Mein Alles bist mir! Nix hab ich nimmer wie dich!« Sie rang mit ihm und riß ihn hinaus in die Stube, damit er das Kind nimmer sehen könnte.
Mathild stürzte vor dem kleinen Bett auf die Knie. »Mit dir möcht ich! Zum Vater!«
Das Nannerl stand an den Ofen gelehnt, wie versteinert, Todesangst in den gläsernen Augen, den starren Blick auf das regungslose Körperchen gerichtet, das so weiß in den Kissen lag.
Draußen in der Stube ein dumpfer Schlag, als wäre jemand zu Boden gefallen. Und eine keuchende Stimme: »Ich! Ich! Ich!«
»Bertl! Bertl! Was soll ich denn tun? Mein Herz zerschneid ich, mein Leben werf ich ins Wasser, die Seel ins Feuer, alles für dich! So schau mich doch an! Was soll ich denn tun?«
»Nimmer reden! Deine Lieb erschlagt mich! Ich kann's nicht hören! Mich hat der Herrgott gestraft. Ein Verfluchter bin ich, ein schlechter Mensch. Und nimmer leben mag ich!«
»Mathild!« schrie die Müllerin mit gellender Stimme.
In der Kammer stand das Nannerl an den Ofen gelehnt und drehte langsam das Gesicht zur Tür, als Mathild hinaussprang in die Stube. Dann fiel ihr ein Zittern in die Glieder, ihre Zähne schlugen zusammen, als stünde sie frierend im Schnee. Sie machte einen Sprung hinüber zu dem kleinen Bett, riß am Hals ihr Kleid entzwei und zerrte etwas heraus. Den Mut, das Fritzele anzuschauen, hatte sie nimmer. Mit abgewandtem Gesichte warf sie das kleine silberne Kreuz, das sie von ihrem Hals gerissen, auf die Brust des Kindes, stürzte auf das Fenster zu und ging den gleichen Weg wie in jener Nacht, in der ihr blaues Märchen zur Wahrheit geworden.
So blindlings tat sie den Sprung, daß sie draußen niederstürzte. Sinnlos jagte sie durch den Garten, über dem die Sterne funkelten. Immer wieder kam sie zu einer Hecke und rannte kreuz und quer wie ein Reh, das über hohen Zaun in eine blühende Wiese gesprungen ist und nimmer den Ausweg findet, wenn die Hunde kommen.
Ein paar Schritte neben dem offenen Türchen überkletterte Nannerl den Zaun. Ihr Kleid blieb hängen. Sie kreischte wie in Gespensterfurcht, sprang hinunter auf den steilen Hang und rannte schreiend in die Finsternis des Waldes.
Beim Rauschen des Baches brannten im dunklen Blau die Lichter Gottes und erzählten mit ihrem Gefunkel ein goldenes Märchen der Ewigkeit.