Ludwig Ganghofer
Der hohe Schein
Ludwig Ganghofer

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21

Der Mond hatte einen Hof. Dann kam ein dunstiger Morgen ohne Blau, von milchigen Nebeln durchzogen, hinter denen die Sonne verwaschen glänzte. An diesem Morgen wanderte Sonnweber die Straße zum Scheidhof hinaus. Die Leute, die ihm begegneten, grüßten mit Respekt, und wenn sie vorüber waren, drehten sie noch das Gesicht nach dem stattlichen Menschen. Die Langentaler waren stolz auf ihren Bürgermeister und pflegten von ihm zu sagen: »Den hat unser Herrgott in der Lieb erschaffen.«

Ein Mensch, gegen den das Leben zärtlich war! Und in diesen Tagen mußte dem Sonnweber noch eine neue Freude ins Haus gefallen sein. Er schien noch gewachsen um einen halben Kopf, seine grüßende Stimme klang noch wärmer, seine schönen Augen blickten noch heller und freundlicher als sonst.

Bei einer großen Linde blieb er stehen und lächelte gutmütig, fast ein bißchen spöttisch vor sich hin, als er den jungen Scheidhofer kommen sah. »Grüß Gott, Herr Dokter! Grad will ich zu Enk.«

»Hat man sie gefunden?«

Sonnweber schien nicht gleich zu verstehen. »Ah so, 's Nannerl meinen S'? Na! 's Wasser muß dös arme Ding abigrissen haben in die untere Klamm. Da hilft kein Suchen nimmer. Muß man halt denken: 's Madl is in der ewigen Heimat, und unser Herrgott hat sein' blauen Mantel drüberdeckt. Aber deswegen hätt ich Enk net aufgsucht. I bring ebbes Bessers.«

Der Scheidhofer, mit den Gedanken beim Nannerl, fragte zerstreut: »Was bringen Sie?«

»Mich! Und Hilf und Rat, so viel als ich geben kann!« sagte der Bürgermeister mit Herzlichkeit. »Da hätt mich 's Fräulein net erst drum angehn müssen.«

»Mathild?« Walter blickte auf.

»Ja, gestern is 's Fräulen zum Abschied noch bei mir gwesen und hat mich drüber aufklärt, was mir der Herr Ehrenreich selig auf'm Sterbbett gern noch gsagt hätt: daß ich Enk a treuer Freund sein soll bei der Arbeit mit'm Scheidhof. Mich haben S', Herr Dokter! Mit Leib und Seel halt ich zu Enk. Und tu's mit doppelter Freud, weil ich unserm Herrn Ehrenreich noch an letzten Wunsch erfüllen kann!«

Walter faßte die Hand des Bürgermeisters. »Ich danke Ihnen!« Die Freundschaft dieses redlichen Mannes war ihm wie ein schönes Geschenk des Lebens.

Als Sonnweber hörte, daß Walter zur Sägmühle wollte, ging er mit ihm zurück ins Dorf. Dabei kramte er ein Dutzend guter Ratschläge aus. Und plötzlich fragte er: »Dö Sach mit der Stiftung? Haben ebba Sie dös dem Fräulen graten?«

»Ich verstehe nicht. Was meinen Sie?«

»'s Fräulen hat die viertausend Mark fürs Armenhaus gstiftet.«

Leichte Röte glitt über Walters Gesicht. »Nein, das hab ich ihr nicht geraten. Aber ich begreife diesen Entschluß. Der ist so schön wie alles an ihr.«

»Freilich, ja! Die Ehrenreichischen! Ah! Respekt!« Sonnweber schmunzelte. »Aber eigentlich kommt 's Armenhaus a bißl schlecht weg bei der Sach. Von Rechts wegen hätt der heimliche Lump auch für sieben Jahr die Zinsen zahlen müssen. Dös hätt an die zwölfhundert Mark ausgmacht, wann ich bloß vier Prozent sag. Die hat er gschluckt.« Er lachte. »A Schlaucherl muß er sein, der! Weil er sich gsagt hat: unser Herrgott is kein Wucherer und rechnet keine Zinsen.« Die schönen Augen des Bürgermeisters wurden klein, während er den Scheidhofer aufmerksam von der Seite betrachtete. »No ja, soll's sein, wie's mag! Man muß schon zfrieden sein mit der ewigen Grechtigkeit, weil s' den Namen Ehrenreich wieder aufpoliert hat auf'n Glanz. Jetzt is a Ruh. Und 's Gras kann drüberwachsen.«

Walter, dem dieses Thema nicht zu behagen schien, atmete auf, als sie das Bürgermeisterhaus erreichten.

Wie ein Vater den geliebten Sohn entläßt, so tätschelte Sonnweber dem jungen Scheidhofer zum Abschied die Hand, wünschte ihm von Herzen alles Gute und sah ihm noch eine Weile nach, wieder mit jenem Lächeln, das ein bißchen Spöttisches hatte.

Hastig ging Walter davon. Erst als die letzten Häuser des Dorfes hinter ihm lagen, wurde sein Gang wieder ruhig. Und während er am Mühlbach hinwanderte, sah er immer in das gleitende Wasser.

Frau Rosl und Bertl waren nicht im Wohnhaus, das alte Burgele wies den Scheidhofer hinüber in die Blockmühle. Als er über die schiefe Balkenbahn zum Säghans hinaufstieg, war ein ohrbetäubender Lärm um ihn her: das Rauschen des Wassers, die Brummstimme im Turbinenraum, das Zischen der Blocksägen und das dumpfe Gerassel der Zahnräder. Acht Gesellen waren auf dem Sägboden bei der Arbeit. Wenn einer dem andern was zu sagen hatte, mußte er schreien, um bei dem Lärm verstanden zu werden. Vor einem langen, eisernen Tisch, auf dem mit schrillem Ton eine Kreissäge lief, standen Bertl und seine junge Frau, an Brust und Schultern übersprüht von weißem Sägstaub. Frau Rosl ließ gerade ein Brett durch die Kreissäge laufen, und als der Strich geschnitten war, nahm Bertl die Latte auf, und Rosl mußte drübervisieren, um die Fehler des Schnittes zu sehen. Was die beiden sprachen, konnte Walter in dem Lärm nicht hören. Er sah nur, daß Bertl die Arbeit mit ruhigem Ernst erklärte und daß Frau Rosl mit so heißem Blick zu ihrem Mann aufschaute, als spräche er vom tiefsten Glücksgeheimnis ihres Lebens.

Schon wollte Rosl das Brett zu einem neuen Versuch an die Säge stoßen. Da machte ein Gesell die beiden aufmerksam auf den Gast. Sie gingen auf Walter zu. Wie müd und vergrämt ihre Gesichter waren! Draußen im Freien sagte Frau Rosl: »Der Vater selig hat mich nie ins Mühlhaus nüber lassen. Rein gar nix hab ich verstanden vom Bertl seiner Arbeit. Und man möcht doch mit'm Mann über alles reden können, was ihn verinteressiert. Da tut mir's jetzt der Bertl z'lieb, daß er mich ein bißl einweist in d' Arbeit bei uns.«

Bertl strich ihr die Sägspäne vom Haar. »Ich weiß doch, warum du's tust!«

Walter war so ergriffen, daß er nicht sprechen konnte. Es war ihm an Bertls Stimme und an der Bewegung seiner Hand eine Ähnlichkeit mit dem Vater aufgefallen, die er früher nie gesehen hatte.

Während sie auf dem neu und dicht vergitterten Brückl den Mühlbach überschritten, krampfte Rosl die Hand in Walters Arm, sah mit entstelltem Blick zu ihm auf und flüsterte: »Nix reden, gelt!«

Er schüttelte den Kopf.

Sie waren zum Haus gekommen. Vor der Schwelle blieb Bertl stehen. Ein Schauer rann ihm über den Nacken.

Frau Rosl hatte schon den Arm um ihren Mann gelegt. »Bleiben wir lieber da heraußen sitzen. D' Sonn schaut schon ein bißl heraus.« Das stimmte nicht ganz. Wo die Sonne stand, sah man in dem weißen Dunst der Höhe kaum einen helleren Fleck.

Als sie auf der Hausbank saßen, fing Walter vom geschäftlichen Verkehr zwischen der Sägmühle und dem Scheidhof zu reden an. Bertl schien nicht zu hören und sagte vor sich hin: »So bin ich dran! Daß ich mich schier nimmer ins Haus trau. Überall schauen s' mich an, die zwei! Und verbrennen muß ich bei lebendigem Leib.« Er umklammerte die Hand seiner Frau. »Gelt, jetzt hab ich dir wieder weh getan?«

»Red nur, wie dir's ums Herz is!«

Eine Weile blieb er still. Dann beantwortete er ruhig die Fragen des Scheidhofers. »Und weil wir schon vom Geschäft reden, wegen der Villa müssen wir auf gleich kommen. Vaters Mietvertrag –«

»Davon brauchen wir nicht zu reden.«

»Doch! Wir müssen das in Ordnung bringen. Die Schwester hat mir aufgetragen –«

»Wie schnell das gekommen ist: mit Thildes Reise!«

»Gelt, ja!« Bertl zog Frau Rosls Hand an seine Brust. »Heut versteh ich, warum sie fort ist.« Stumm lehnte Rosl die Wange an ihres Mannes Schulter.

Da blinzelte nun wirklich die Sonne ein bißchen durch die trüben Schleier des Himmels. Und Walter fragte: »Wann wird sie wiederkommen?«

»Zum Frühjahr, hat sie gemeint, über Ostern. Den Herbst und Winter bleibt sie bei der Bas in der Stadt. Sie will noch lernen. Und will sich in der Musik als Lehrerin eine Stellung machen.«

»Herr Ehrenreich!« Walter lächelte. »Das wollen wir der Thilde ausreden.«

In diesen Worten war ein Klang, so herzlich und warm, daß der Sägmüller aufschaute. »Ausreden? Ich selber hätt die Schwester am liebsten bei mir. Aber wenn die Schwester was für gut und recht hält, redet ihr's keiner nimmer aus.«

Die alte Magd kam aus dem Flur. »Kunnt ich net d' Frau an Augenblick haben?«

Eine Furche grub sich in Bertls Stirn. »Wenn's sein muß? Aber gelt, Roserl, du kommst bald wieder?«

»Ich bin gleich wieder da.« Ehe Frau Rosl ins Haus trat, wars sie einen flehenden Blick auf Walter. Dann erledigte sie in der Küche die Hausfrauensorge, die es zu besprechen gab. Und wollte wieder zu ihrem Mann. Vor der Stubentür hielt es sie fest. Einen Augenblick stand sie, zitternd, und huschte lautlos durch die Stube in die kleine Kammer. Vor dem leeren Gitterbett brach sie auf die Knie und drückte, um ihr Schluchzen zu ersticken, das Gesicht in die weiß verhangenen Kissen.

Die frisch gescheuerten Dielen waren noch feucht, und trotz des offenen Fensters spürte man noch den scharfen Geruch des verbrannten Wacholders. Auch das andere Bett war weiß überdeckt, an einem Zapfenbrette hingen noch ein paar Kleidungsstücke, die dem Nannerl gehört hatten, und auf dem Tische stand eine große Schachtel mit Spielzeug: Bleisoldaten und geschnitzte Tiere, Waldkulissen eines kleinen Theaters und papierene Figürchen mit Drähten, unter ihnen ein Märchenprinz, um dessen papierene Schultern mit Wachs ein winziges Mäntelchen aus himmelblauer Seide geklebt war.

Kein Laut in dieser Stille. Dennoch fuhr Frau Rosl erschrocken auf, hauchte auf die Handballen, drückte sie über die brennenden Augen und huschte durch die Stube hinaus. »Jesus!« stammelte sie, als sie zur Hausbank kam und ihren Mann am Hals des jungen Scheidhofers hängen sah. –

»Schau, Bertl!« sagte Walter. »Deine Rosl ist da!« Er reichte ihr die Hand. »Morgen komm ich wieder. Jetzt müssen Sie mit dem Bertl schaffen, in der Mühle drüben. Er hat mir's gesagt: das war ihm von allem Trost der liebste!« Dann ging er.

Bevor er den Weg am Mühlbach erreichte, kam ihm der Sägmüller nachgelaufen. »Du! Das mußt du mir erlauben, daß ich's der Rosl sag! Die wird keinen Schnaufer tun, wenn sie an die Thilde schreibt. Gelt, ich darf ihr alles sagen? Es ist doch eine Freud. Die soll sie haben!«

»Ja, Bertl! Sag ihr's!«

Der Sägmüller klammerte den Arm um Walters Hals. »Die erste Freud wieder nach allem Elend! Wie gut mir das sein wird: heut an den Vater denken!« Er rannte zum Haus hinüber. »Rosl! Paß auf, ich bring dir was Liebes –«

In der Höhe hatten sich die Schleier geteilt. Man sah einen blauen Streif am Himmel, und blendende Silberlinien zogen sich um die Säume der zerklüfteten Nebel.

Als Walter das Dorf erreichte, lag schon die helle Sonne auf seinem Weg. Vor dem Kaplanhaus stand eine Kutsche, und der Doktor kam durch den Garten heraus. Walter trat auf ihn zu. »Wie geht es ihm?«

»Endlich einer, der mir nicht stirbt!«

»Darf man hinein?«

»Gewiß. Der Pfarrer ist bei ihm.«

Während Walter durch den kleinen, verwilderten Garten zur Haustür ging, stieg der Doktor in den Wagen und fuhr davon. Als er an Sonnwebers Haus vorüberkam, sah er den Bürgermeister mit seiner schmucken Frau und den beiden hübschen Kindern bei der Brotzeit gemütlich im Garten sitzen. Freundlich grüßte der Doktor. Diese vier Menschen zu sehen, war ihm immer eine Freude. Die hatten ihn noch nie gebraucht. Das war fester, kerngesunder Schlag! »Sonntagsarbeit unseres Herrgotts!«

Die heitere Stimmung des Doktors dauerte nicht lang. Beim Scheidhof kam jene Magd, die dem alten Scheidhofer zur Bedienung »verbrieft« war, mit zeterndem Geschrei hinter dem Wägelchen hergelaufen. »Gottlob, daß ich Enk noch derwischt hab!«

Der Doktor sprang mit der Ledertasche aus der Kutsche. »Wo fehlt's?«

»So viel letz is der Bauer! Kreisten tut er wie a Wagen, der net gschmiert is, 's Kaasfarblete hat er schon im Gsicht, und den heiligen Ulrich laßt er gleich gar nimmer aus.«

»Den heiligen Ulrich?« Diese akute Erscheinung paßte dem Doktor nicht in das Krankheitsbild. Seniler Marasmus pflegt die Natur nicht von innen heraus wie einen Handschuh umzudrehen. »Hat er sich vielleicht überfressen?«

»Kunnt schon sein, ja! A bißl viel zutraut hat er sich die letzten Täg her, seit er verkauft hat. Sonst hat er vor Angst allweil gfuttert wie a Spatz. Aber weil ihm seit'm Verkauf die ganze Zehrung verbrieft is, hat er einigschoppt, was er verkraften hat können. Zwanzgmal im Tag hab ich laufen müssen um Schnaps und Bier und Wein, aufkochen hat er mich lassen von der Fruh bis auf d' Nacht, und heuwagenweis hat er's einigschluckt, Bachhehndln und bratene Enten, Dampfnudeln und 's Allerfeinste. Vierfach hat's der Bauer auffigfressen, 's verbriefte Recht!«

Dem Doktor trieb der Zorn das Blut ins Gesicht. Dennoch mußte er lachen. Bauerngeiz! Der sich den Tod in den Bauch frißt! Nur weil die Schüssel umsonst gefüllt wird und das Recht gesiegelt ist.

Die beiden hatten den Scheidhof erreicht und traten in die Stube. Man spürte die Atmosphäre des bitteren Heiligen, und der geheizte Ofen strömte eine Glut aus, daß die Fensterscheiben schwitzten. Während der Doktor ein paar Scheiben aufriß, klang aus der Kammer die wimmernde Stimme des Kranken: »Spann ein, sag ich! Jesses, jesses, is mir schlecht! Bub, spann ein und hol mir den Dokter!«

»Der Herr is net daheim.« Den Bonifaz schien das Leiden des Bauern nicht aufzuregen. »Ohne Verlaubnis darf ich net fahren.«

»Einspannst! Und die besten Rösser nimmst!«

»Roß is dir keins verbrieft. Laß dir Dampfnudeln kochen! Da hast a Recht dazu.«

»Einspannst! Ich sag's! Der Scheidhofer!«

»Jetzt träumst aber! Der Scheidhofer is mein Herr. Ich bin der Gwack-Faz, und du bist der Rappen-Lenz.«

»Kreuzteifi!« Die Stimme des Kranken schrillte laut. »Scheidhofer sagst mir!«

»Rapp tust dich schreiben, und Lenzl haben s' dich tauft. Rappen-Lenz sag ich.«

»Scheidhofer sagst!« Dazu ein Schimpfwort.

Bonifaz trat unter die Tür und sprach mit Ruhe über die Schulter. »Halt dich zruck, Mannderl! Dein Knecht bin ich nimmer. Und mein' Herrn betrügst mir um kein' Roßsprung! So! Jetzt pfüet dich, Rappen-Lenz!« Er gewahrte den Arzt, der einen Krug Wasser in die Kohlenglut des Ofens schüttete, daß der Dampf mit Zischen aus dem Feuerloch herausfuhr. Lachend sagte Fazifanzerl: »Habts Enker Transchiermesser dabei? Von die Dampfnudeln is er derlöst. Die Bachhehndln spreizen sich ein, dö müßts ihm aussischneiden.«

In der Kammer brütete die gleiche Hitze wie in der Stube. Der Doktor, bevor er an den Kranken ein Wort richtete, riß das Fenster auf. Wimmernd lag der Bauer in den Kissen, mit drei übereinandergetürmten Federbetten zugedeckt. Zwischen diesem Rot und Weiß und Blau sah der kleine, haarlose Kopf des Kranken aus wie ein runzlig gewordener Apfel. Auf Stirn und Nase standen ihm die Schweißperlen. »Herr Dokter, jetzt muß ich sterben! Allweil hab ich mir's fürgsagt, daß mich der Tuifi holt amal. Aber daß 's grad heut sein muß! Grad heut!«

»Heut ist ein Tag wie jeder andere«, sagte der Doktor gemütlich, »der Teufel hat keinen Kalender mit Feiertagen.« Er fühlte den Puls des Kranken und merkte, daß die Sache für den Augenblick nicht gefährlich stand.

Dem Bauer trieb das heiter gemeinte Wort die Augen aus den Höhlen. Feindselig betrachtete er den Doktor, der die Federbetten einen Purzelbaum auf die Dielen mache ließ. Das war kein lieblicher Anblick: dieser abgemagerte Greisenkörper mit dem aufgedunsenen Leib, dessen Haut gespannt war wie eine Trommel vor der Parade. Als der Doktor eine Weile an diesem Berg des verbrieften Rechtes herumgeklopft hatte, stemmte er die Fäuste in die Hüften. »Rappen-Lenz, Ihr seid doch ein unglaublicher Mensch!« Spöttisch lächelte der Bauer in seinem quälenden Unbehagen. »Und ein Schweinkerl seid Ihr! Mit Eurer zähen Natur könntet Ihr noch leben, wer weiß wie lang. Aber wenn Ihr Euch den Tod in den Magen freßt, dann soll der Doktor her und wieder helfen, gelt?« In diesem Ton ging die Standrede des Arztes weiter, während er eine Schachtel mit doppeltkohlensaurem Natron aus der Ledertasche nahm. Das weiße Pulver schien dem Rappen-Lenz nicht zu gefallen. Trotz seines wimmernden Sträubens mußte er einen tüchtigen Löffel voll hinunterschlucken. »So! Und jetzt wird drei Tage gefastet! In der Früh eine Tasse Tee, am Abend eine leere Fleischsuppe. Sonst nichts! Und wenn Ihr Euch wieder mal überfreßt, dann laßt den Viehdoktor holen! Adieu!«

Draußen in der Küche hatte die Magd ihre Freude dran, als sie hörte, daß es mit den Backhehndln und Dampfnudeln ein Ende hätte. Vergnügt rieb sie die Hände zu der strengen Vorschrift, die ihr der Doktor gab. Dann ging sie in die Kammer, um reinliche Ordnung zu machen. Der Kranke hatte schon wieder die drei Federbetten vom Boden heraufgezogen und sich eingemummelt. Seine Augen funkelten, und die Nase war spitz geworden. Plötzlich befiel ihn ein Schauer, daß ihm die Zähne klapperten. Er wimmerte: »D' Fenster mach zu! Es tut mich frieren.«

»Luft muß eini, hat der Dokter gsagt.«

»Aber einheizen tust mir!«

»Kühl mußt haben, hat der Dokter gsagt.«

Der Bauer fuhr aus den Kissen auf und kreischte: »'s Holz hab ich verbrieft. Daß ich mir einheizen laß, dös is mein Recht.« Stöhnend fiel er zurück. »Jesus, so viel elend wird mir schon wieder! A Stamperl Schnaps tu her!«

»Ja, Schmarren, hat der Dokter gsagt.« Dabei nahm die Magd das Wasserschaff von den Dielen auf und ging aus der Stube.

Mit verzerrtem Gesicht, auf dem die Schweißperlen ihre glitzernden Wege gingen, lag der Bauer in den Kissen. »Ah so? Hungern soll ich? Und dürsten und frieren? Daß der Scheidhofer 's Geld derspart! Was nutzt mir denn da mein Recht?« Seine Augen blitzten, ein häßliches Grinsen verzerrte den welken Mund, der sich wie kauend bewegte, und in den käsigen Zügen war der Ausdruck einer ruhelosen Gedankenarbeit. Dabei wurde dem Rappen-Lenz immer übler zumut, mit jeder Minute mehrten sich die Qualen im Mittelbau seines Lebens. Die aus dem Natron frei werdende Kohlensäure begann in ihm zu kullern wie eine Wasserleitung, wenn sie Luft hat. Sonst sieht ein Bauer so was für ein Zeichen von Gesundheit an. Der mißtrauische Rappen-Lenz dachte an das weiße Pulver und an Rattengift. »Der hat mir vergeben! Auflupfen tut's mich wie an Luftballon! Jesus, Jesus, heut reißt's mich ummi, Jesusmaria, heut muß ich sterben!« Die Sorge um sein Leben war in ihm noch der geringere Kummer. Immer hingen seine Augen mit Angst an dem großen Kasten, der an der Mauer stand. Diese Angst schien noch zu wachsen, als in der Mittagsstunde die Dienstboten des Scheidhofers hinaufstiegen zum Oberstock, um ihre Mahlzeit einzunehmen; seit dem Verkaufe durften sie nimmer in der Bauernstube essen; die beiden Räume zu ebener Erde waren dem Rappen-Lenz verbrieft. Die schweren Schuhe machten über der Decke ein dumpfes Getrampel. Jeder Laut fuhr dem Kranken durch die Stirn wie ein Nadelstich. »Malefiz-Leut, verfluchte!« Denen da droben schien das Essen zu schmecken. Wie lustig sie waren! Immer lachten sie. »Über mich tun s' kudern! Und wann ich d' Augen zumach, fallen s' her über alls!« Der Rappen-Lenz begann unter den drei Federbetten am ganzen Körper zu glühen. Immer stöhnte er. Und starrte mit vorgequollenen Augen den Kasten an.

Als die Leute über die Stiege herunterpolterten und das Haus verließen, atmete er auf, wie von der Hälfte seiner Angst erlöst. Wieder war ein spöttisch funkelnder Blick in seinen Augen. So lag er eine Weile ruhig und grübelte. Dann griff er mühsam nach dem Hammer, der auf dem Nachtkästl lag, und schlug an die Mauer. Die Magd kam gelaufen. Höhnisch blitzten die Augen des Bauern. »Was is denn mit die Leut?«

»Zum Kartoffelhacken sind s' aussi und haben ihr Freud an der Arbeit. Unsereins muß dahocken und feiern.«

»Tatst aussi mögen? Ich laß dich aussi. Mir is a wengl besser, ja.«

Da rannte die Magd schon davon. Seit Jahren war das ihr Traum gewesen: wieder einmal auf dem Acker stehen, mit den anderen schaffen, in der Sonne, und lachen und schwatzen!

Bolzensteif saß der Rappen-Lenz im Bett, das Gesicht verzerrt, mit Anstrengung lauschend. Es war um das Haus so still wie an hohem Feiertag. Stöhnend kroch der Bauer unter dem Berg der Federbetten hervor, zog den Schafpelz übers Hemd, sperrte in Hast den großen Kasten auf und kauerte sich auf den Boden nieder. Unter einem Wust von Kleidungsstücken grub er drei mit Stricken zugeschnürte Zigarrenkistchen heraus. In einer Lade lag noch ein viertes – da war unter dem Kreuz des Strickes ein Zettel draufgeklebt: »Disses is nach mein Dot den Her Pfarr zu ibergebben.« Er löste den Strick und guckte in das Kistchen, während ihm die Schweißtropfen von der Nasenspitze und von den weißen Ohrlappen fielen. Vier dralle Säcklein standen geordnet in dem Kistchen – sie enthielten, was der Rappen-Lenz an barem Gold und Silber besaß. Jedem Säckl war ein beschriebener Zettel angebunden: »Disses is vir mein Leich« – »Disses is für Dmusi beir Leich« – »Disses is viern Grabbsten«. Unter allen Säcklein das bauchigste enthielt die Stiftung einer ewigen Messe für den »seeligen Scheidhofer«, sein Weib und seine »liben Kiender, wo sich der Herrgott derbarmt ham wird«.

Während der Rappen-Lenz den Strick wieder zuknüpfte, befiel ihn ein Würgen, als möchten die Backhehndln trotz der lärmvollen Beschwichtigungsversuche des doppeltkohlensauren Natrons noch einmal flügg werden. »Jesses, jesses, jetzt fahrt mir d' Seel aussi. Da muß ich mich tummeln.« So flink wie ein Mensch, der kein Bröselchen Zeit mehr zu verlieren hat, warf er das zugebundene Kistchen in die Lade zurück, raffte die drei anderen auf die Arme und tappelte wimmernd in die Stube. Neben dem Ofen lag ein Armvoll von dem Brennholz aufgeschichtet, das dem Rappen-Lenz verbrieft war. Der Ofen hatte noch Hitze in den Kacheln. Aber weil keine Späne da waren, brauchte der Bauer fast eine Stunde und verbrannte zwei Packerln Schwefelhölzchen, bis sich zwischen den nassen Kohlen das Feuer ermunterte. Dicker Rauch quoll ihm ins Gesicht, das würgte und hob ihn; der Rappen-Lenz ließ sich nicht unterkriegen, sondern schob ein Scheit ums andere in den Ofen, bis eine rote Flamme mit Rauschen das ganze Feuerloch füllte. Wie schön sein Gesicht beleuchtet war! Es strahlte wie das Gesicht eines Verklärten, dem alle Runzeln irdischen Schmerzes geglättet sind. »Jetzt bau ich mein Kirchl!« Das klang, als wäre diesem zerbrochenen Leben noch einmal die Kraft des Jauchzens gekommen.

Weil der Rappen-Lenz meinte, daß die Zeit kostbar wäre, wollte er zuerst die ganzen Zigarrenkistchen ins Feuer stecken. Aber nein. »Tu dir kein' Abbruch an der letzten Freud! 's Gute muß einer zizzerlweis abischlücken.« Mit zitternden Händen zerrte er die Stricke auf, riß aus den drei Kistchen die dicken Banknotenbündel heraus und schob sie ins Feuer, eines ums andre. Wie flink und lustig sie brannten! Diese seinen kleinen Papierchen! Das war immer, als hätte die Flamme einen heißen Schnaufer getan. Ein Anblick war es, so lustig, daß der Rappen-Lenz zu lachen anfing und seiner Schmerzen vergaß. »Hab ich nix nimmer davon, soll keiner ebbes haben! Gar keiner! Und nacher beicht ich's. Und alls is gut.« Das letzte Banknotenbündel flog ins Feuer. Nur ein dickes Bündel Staatspapiere war noch übrig. »Alles muß eini!« Das war ein Pack, daß er das Ofenloch verstopfte. Mit der Faust half der Bauer nach. »Gehst eini oder net!« Diese Papiere waren von dauerhafter Güte. Sie wollten nicht so hurtig Feuer fangen wie die dünnen Banknoten. Obwohl sich die Flammen zärtlich herumschlängelten, fingen die Papiere nur an den Rändern zu kohlen an. Und da machte plötzlich der Geiz im Rappen-Lenz einen letzten Tigersprung. Nicht nur der Geiz! Auch die »verstandsame« Überlegung. Wär's denn nicht durch starkes Gebet und ein heiliges Wunder noch möglich, daß er wieder gesund würde? Was ist er dann? Nicht mehr der reiche Bauer, sondern ein armer Teufel! Keuchend griff er mit beiden Händen ins Ofenloch. Da wurden die guten Staatspapiere gerade mit dem Feuer handeleins, und schreiend zog der Rappen-Lenz die verbrannten Pfoten zurück. Ein paar Sekunden rührte er sich nicht. Dann streckte er die grau gewordenen Finger vor sich hin und taumelte zum Fenster. Wie ein Albanese sah er aus in dem kurzen Schafpelz und drunter das weiße Hemd mit den nackten Füßen. Zuerst spürte er keinen Schmerz, guckte nur bei der Fensterhelle die grauen Finger an. »Sakra, sakra, jetzt hab ich aber einiglangt!« Er wollte die graue Asche von den Händen reiben, riß die verbrannte Haut von den Fingern und sah das Blut über die Nägel tropfen.

Ohne zu wissen, was er wollte, zappelte er zur Kammer. Da fingen die Brandwunden zu schmerzen an, und der Rappen-Lenz begann zu wimmern. »'s Öl, sagen s', is gut für so ebbes!« Er wollte die Flasche mit dem Salatöl suchen. Der Speisekasten war verschlossen, und in der Küche war alles zugesperrt – so ernst hatte die Magd den Auftrag des Doktors genommen. Die letzte Hoffnung des Rappen-Lenz war die Petroleumlampe, die in der Stube hing. Die Lampe herunterzunehmen und den Messingteil vom Glas zu schrauben, das war harte Arbeit. Er mußte seine paar letzten Zähne zu Hilfe nehmen. Dann warf er auf dem Tisch die Glaskugel um und badete die Hände in dem ausgeschütteten Petroleum. Das milderte den Schmerz nicht, sondern steigerte ihn. Jetzt dachte der Rappen-Lenz an nichts anderes mehr als nur an ein Pflaster für seinen Wehdam. Er fing zu schreien an. Niemand hörte ihn. Das Haus war leer. »Jesusmaria, was hilft mir denn?« Feuchte Erde? Freilich, die kühlt! Aber wie sollte er mit den verbrannten Händen ein Stück Rasen aus dem Boden bringen?

Da kam dem Rappen-Lenz ein rettender Gedanke. Frischer Kuhmist! Mit diesem Mittel hatte sich im Scheidhof vor vielen Jahren einmal ein Knecht geheilt, der im Rausch mit beiden Händen auf die glühende Herdplatte gefallen war. Allerdings hatten skeptische Gemüter damals behauptet, daß der Rausch jenen Knecht auch in das Heilmittel geworfen hätte, das er also nicht aus Überlegung, sondern notgezwungen zur Anwendung brachte. Doch der Rappen-Lenz erinnerte sich nur an den Erfolg jener Kur, zappelte wimmernd in den Stall der Heimkühe hinaus und tauchte die Hände in das frische Hausmittel, das er in reichlichen Quantitäten vorfand. Wahrhaftig, dieses Pflaster kühlte! Zu der Erleichterung, die der Rappen-Lenz in seiner Qual verspürte, gesellte sich noch eine Regung von Schadenfreude, weil er Nutzen aus einem Gut des Scheidhofes gezogen hatte, das ihm nicht verbrieft war.

Bis er sich entkräftet zurückschleppte in die Kammer, waren die Schmerzen völlig verschwunden. Wie ein Gesunder fühlte er sich, nur so müd, daß er sich kaum mehr aufrecht halten konnte. Mit allerlei Kunstgriffen wickelte er zwei blaue Taschentücher um die gesalbten Hände. Dabei kleckste er ein bißchen, aber die Sache gelang. Mitsamt dem Schafpelz kraxelte er in die Kissen und schob die blauen Pfoten vorsichtig unter das Federbett. So wohl war ihm, daß er sich behaglich streckte. Sich erlöst fühlen von allem Schmerz – in solcher Minute hat man noch was vom Leben! Doch mitten in dieser Möglichkeit überfiel ihn ein grauslicher Gedanke. Wenn er jetzt gesund würde? Und leben müßte? Der arme Rappen-Lenz! Er glotzte ratlos ins Leere. Und wieder brach ihm der Schweiß aus der Stirne.

Die Schwäche seines Körpers hatte Mitleid mit ihm und hauchte schläfernd seine Augen an. Kaum lag er im Schlummer, da kam die Magd gelaufen. Während sie draußen war auf dem Acker, hatte sie Rauch aus dem Schornstein des Scheidhofes steigen sehen – »Jesses, der kocht sich ebbes auf!« – und war heimgerannt, um den Kranken vor einem Diätfehler zu behüten. Gleich beim Eintritt in die Stube hatte sie einen neuen Schreck, als sie das umgestürzte, leere Lampenglas auf dem Tische liegen sah. »Mar' und Josef! Weil er kein' Schnaps net kriegt hat, sauft er 's Petroli aus!« Sie sprang zur Kammertür und fand den Rappen-Lenz in friedlichem Schlaf. Rings um den Ofen sah sie die Dielen bestreut mit Asche und verkohlten Papierflocken. Da reimte sie sich die Sache mit dem Petroleum anders zusammen: der Kranke hat gefroren, wollte den Ofen heizen, und weil ihm die Späne fehlten, hat er mit Zeitungspapier und Petroleum nachgeholfen. Sie machte Ordnung in der Stube, wunderte sich über die unverständlichen Kuhfladenkleckse, die sie überall gewahrte, und ging doch beruhigt wieder hinaus auf den Acker.

Am Abend, als sie die leere Suppe brachte, mußte sie den Kranken wecken. Er stierte an der Magd hinauf, als wüßte er nicht, wo er wäre. Schon drüben? Oder noch im Leben? Dann drehte er sich in den Kissen um. »Ich mag nix!« Lieber verhungern als in Armut leben, ein Gespött der anderen! Das war ein klarer Gedanke. Dennoch lag es dem Rappen-Lenz wie ein schwerer Dusel über dem Verstand. Er schlief wieder ein, noch ehe draußen der Tag verdämmerte.

Nach Mitternacht wurde er munter, von sonderbaren Schmerzen geweckt. In der Stube war eine milchige Helle, mit pechschwarzen Schatten gemischt – vom Hohen Schein her leuchtete der Mond in die Fenster. Ächzend wollte der Bauer nach dem Hammer greifen. Er konnte die Arme nicht bewegen. Wie ein Ameisenlaufen ging es ihm durch die Ellbogen hinauf bis in die Schultern. Dieses Gekribbel wurde zu einem Schmerz, der in seinen Armen sonderbar hin und her hüpfte. Das kennen die Bauern. Sie nennen's den »schwarzen Brand« und wissen: der rote Brand, der an der Wunde »togetzt«, läßt sich heilen, aber der schwarze, der »'s Hupfete hat«, ist der sichere Tod. »Schau, jetzt muß mir ebbes Unrechts einigfahren sein ins Blut!« So dachte der Rappen-Lenz. »Da müssen die Küh mit'm Grünfutter a giftigs Blüml derwischt haben. Sunst wär er gut gwesen, der Mist!«

Diese Erkenntnis hatte keinen Schreck für ihn. Im Gegenteil. Sie löste jede quälende Sorge von seinem Bauernstolz. Besser hätte er's gar nicht treffen können. Der schwarze Brand ist ein ruhiger Tod. Da schläft man gemütlich hinüber. Und schnell geht's, aber doch nicht allzu flink, so daß man gemütlich Zeit behält, um sein Bündel zu schnüren. Der Rappen-Lenz hatte doch auch die Arbeit schon zur Hälfte getan. Sein Irdisches war geordnet. Er hatte nur noch die Rechnung mit dem Drüben zu machen. Da wollte er sicher gehen. Gab es keinen Teufel, und hatte der junge Scheidhofer recht, dann brauchte man nichts zu fürchten. War aber der Kaplan mit seinem höllischen Feuer der Gescheitere, dann gab's noch einen Weg, aus dem eine kluge Seele um die heiße Ecke biegen kann. So oder so, der Rappen-Lenz bleibt immer der Schlaueste von allen. Bei diesem Gedanken sah er in der finstern Ecke was Schwarzes stehen. Sonst war's ein Kleiderstock. Heute sah das Ding verdächtig aus. Dem Kranken trat der Angstschweiß auf die Stirn. Weil er die Hände nicht rühren konnte, schlug er in Gedanken ein Kreuz und kicherte: »Mir kannst net an! So gscheit wie du bin ich auch noch!«

Mit lauter Stimme begann er für sich, für seine Kinder und sein Weib den Rosenkranz zu beten. Und so geduldig er die wachsenden Schmerzen ertrug, so ungeduldig erwartete er den Morgen. Gegen vier Uhr fing es grau zu dämmern an. Doch der Rappen-Lenz setzte mit seiner lallenden Frömmigkeit nicht aus, solange noch ein dunkler Schatten in der Kammer war. Erst als mit dem wachsenden Tag die verdächtige Ecke hell wurde, vergönnte er seinem Christenzüngl ein bißchen Ruhe.

Um das Fenster blinzelte schon ein rosiger Schein der kommenden Sonne. Da hörte der Kranke im Hof die Stimme des Bonifaz und des jungen Scheidhofers, die miteinander aufs Feld gingen. Dem Rappen-Lenz kam ein Gedanke, der bitter schmeckte: »Jetzt kommt er billig draus! Drei, vier Jahrln, wann ich noch leben hätt können, hätt er's teuer zahlen müssen, meine verbrieften Recht! Den hätt ich arm gfressen.«

Walter war in die Küche getreten und fragte die Magd, wie es dem Kranken ginge.

Sie kochte gerade den Tee. »Heut hat er a leichts Nachtl ghabt.«

»Paß nur gut auf, daß nichts versäumt wird, was der Doktor vorgeschrieben. hat!«

Als die Magd dem Kranken den Tee brachte, der mehr nach Langentaler Moosheu als nach Chinas Wohlgerüchen duftete, schüttelte der Rappen-Lenz den Kopf: »Heut muß ich nüchtern bleiben.« Er dachte an die heilige Kommunion. Die Magd aber glaubte, daß der Kranke zur Vernunft gekommen wäre und über die Vorschriften des Doktors noch ein übriges tun möchte. Auf die Frage, wie es ihm ginge, gab er die schmunzelnde Antwort: »Allweil besser!« Mit keiner Silbe verriet er was von dem Schmerz in den steif geschwollenen Armen und von dem glühenden Geprickel in den unter dem Federbett versteckten Händen, an denen er keinen Finger mehr bewegen konnte, weil das linde Pflaster durch die Fieberhitze zu einer steinharten Kruste gedörrt war.

Die Magd mußte bei ihm sitzenbleiben. Während sie, um den Kranken zu erheitern, von lustigen Dingen schwatzte, überlegte der Rappen-Lenz, wann es Zeit wäre, den Pfarrer holen zu lassen. Um Gottes willen nicht zu spät! Aber auch um kein Stündl zu früh. Sonst könnte der Hochwürdige nach dem Doktor schicken. Das paßte dem Rappen-Lenz nicht in die letzte Rechnung.

Es war am späten Nachmittag, als der Kranke einen Dusel spürte wie von schwerem Wein. »Jetzt därf ich aber schicken!« Er sagte: »Madl! Tummel dich und spring in Pfarrhof eini! Ich tät den Hochwürdigen schön bitten lassen, daß er kommt und 's Heilige bringt.« Die Magd nahm das nicht ernst; der Kranke sah besser aus als je; aber sie tat seiner frommen Seele den Gefallen und rannte davon. Während der Rappen-Lenz allein blieb, hatte er gegen schwere Schlafsucht zu kämpfen. Um sich wach zu erhalten, dachte er immer der Reihe nach an die drei Dinge, die ihm unter allen Sonnenblicken seines Lebens die meiste Freude machten: erstens, wie sein ältester Bub auf einer Kirchweih dreiundzwanzig Burschen aus dem Tanzboden hinausgefeuert hatte; zweitens, wie schlau er den Scheidhof losgeworden; und drittens, wie die Leute sich die Mäuler zerreißen würden um das viele Geld des Rappen-Lenz, das nirgends zu finden war.

Ein feines Geklingel im Hof.

Der Kranke streckte die Beine, wie ein Soldat sich richtet, wenn der inspizierende General erscheint. »Guten Abend!« sagte er ruhig, als der Pfarrer im weißen Chorhemd die Kammer betrat. »Und daß wir gleich füranand kommen – da drent in der Kastenlad, da liegt a Zigarrenkistl –«

»Aber Scheidhofer! Jetzt wollen wir uns doch keine Zigarre anzünden.«

Der Kranke blieb eigensinnig und wollte von der heiligen Handlung nichts wissen, ehe nicht der Pfarrer aus der Lade das zugeschnürte Zigarrenkistchen herausgenommen hatte, auf dem geschrieben stand: »Disses is nach mein Dot den Her Pfarr zu ibergebben«. Der Rappen-Lenz atmete auf. »Jetzt haben wir alls. Fangen wir an!« Er sah mit lauerndem Blick zum Pfarrer auf. »Glauben S', daß mir unser Herrgott verzeihen wird, wann ich Reu und Leid mach?«

»Ja, Scheidhofer.«

»Und daß ich im Himmel meine lieben Leut wieder zum Anschauen krieg?«

»Bei Gott finden wir uns alle wieder.«

»No also! Machen S' Enker Sach!«

Der Pfarrer setzte sich ans Bett um die Beichte des Kranken zu hören. Mit seinen Sünden nahm es der Rappen-Lenz genau. Das wurde ein langes Register. Als er zum letzten Bröckl kam, das seine Seele draußen beim Ofen mit Schadenfreude geschluckt hatte, stammelte der Hochwürdige erschrocken: »Och du lieber Herrgott! Scheidhofer! So viel Geld! Mit dem man so viel Gutes hätt ausrichten können!«

»Ja, ja!« Der Kranke schmunzelte mit geschlossenen Augen. »Jetzt kommt mir d' Einsicht.« Er sprach mit der lallenden Stimme eines Schlaftrunkenen. »Unser Herrgott soll mir's gütig verzeihen.«

Der Pfarrer sah, wie schwer dem Bauern das Reden wurde, und mußte sich beeilen, um die heilige Handlung zu vollenden. Als alles getan war, sagte er: »Scheidhofer! Wegen des fehlenden Geldes soll kein Unschuldiger in Verdacht kommen. Man muß in der Gemeinde wissen, was Ihr getan habt. Drum müßt Ihr mich wegen dieser letzten Sünde des Beichtgeheimnisses entbinden.«

»Na! Ich mag net. Und net ums Verrecken! Sollen halt suchen, d' Leut! Leicht finden s' noch ebbes.«

Dem Hochwürdigen stieg das Blut ins Gesicht. »Wenn Ihr in Eurer Bosheit verharrt, ist die Absolution nicht gültig.«

Der Rappen-Lenz riß die Augen auf. »Was ich hab, dös hab ich. Enker Sanktum Oli könnts mir nimmer abikratzen. Jetzt is mir der Himmel verbrieft.«

»Scheidhofer!« Die Stimme des Pfarrers zitterte vor Zorn. Zum erstenmal in seinem Leben drohte er einem Sterbenden mit der Hölle – ein »Zugeständnis«, zu dem er sich niemals noch herbeigelassen hatte.

Lang besann sich der Rappen-Lenz. Dann wimmerte er: »Meintwegen halt! Aber erst drei Täg, dernach ich begraben bin, dürfts reden! Sonst schimpfen d' Leut schon bei der Leich. Dös kunnt mich – verdrießen –« Er duselte und sprach kein Wort mehr.

Als Walter bei sinkender Dämmerung von seinem Acker heimkehrte und in die Kammer trat, fand er den Rappen-Lenz in einem Schlummer, aus dem ihn keine Posaune des Lebens mehr hätte wecken können.

Erst an dem Toten fanden sie die verbundenen Hände mit den brandigen Wunden und dem hart gedörrten Naturheilmittel.

Der selige Lorenz Rapp, weiland Scheidhofer, war als gläubiger Christ gestorben. An dieser wiedergewonnenen Seele schien der hochwürdige Herr Christian Schnerfer keine rechte Freude zu haben.


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