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Die Morgensonne lachte schon in die Fenster, als Walter durch ein Pochen an der Tür geweckt wurde. Das Walperl war's. Merkwürdig freundlich klang ihre Stimme: »Herr Doktor? Wollen S' net Ihr Fruhstuck haben? Und was denn?«
»Was am schnellsten fertig ist.«
»So mach ich an Tee, gelt!« Das Mädel rannte davon.
Nachdenklich blickte Walter in die Sonne. Was war geschehen mit ihm? Nach allem Sturm des vergangenen Abends war frohe Ruhe in seinem Herzen. Während er sich ankleidete, summte er unbewußt das Thema aus Meister Haydns Rondo. Dann trat er auf die Altane hinaus. Mit Duft und Schimmer lag der Morgen um ihn her. Und der Hohe Schein? Den konnte er von der Altane nicht sehen, er mußte hinüber in die Wohnstube. Da lag der einsame Felsriese mit seinem Morgenrätsel in der Ferne. Die Sonne stand schon über dem Gipfel, die Wände und das Almfeld umhüllend wie mit einem blitzenden Goldmantel. Bis tief herab zu den Wäldern war der Berg von blendendem Glanz umflossen. Nur den Fuß des Berges konnte Walter klar unterscheiden. Und da sah er, was gestern noch nicht zu sehen gewesen: anstatt jener dünnen Steinlinie, die den Beginn des Weges auf den Hohen Schein bezeichnet hatte, zog sich jetzt von den Wiesen ein helles Band in den lichten Wald hinein, sauber und glatt, wie mit dem Lineal gestreckt. »Der neue Weg! Da hat der Moosjäger schon gearbeitet!« Walter hatte eine Freude, daß ihm das Blut ins Gesicht stieg. Ein Klirren weckte ihn. Walperl brachte die Frühstücksplatte. Weil er an die Brunnenszene denken mußte, sagte er lachend: »Oooh, das Walperl!«
»Recht schön guten Morgen, Herr Doktor!« Das Mädel grinste vor Freundlichkeit.
Er sah, daß in dem blauen Glaspokal ein Strauß frischer Rosen duftete. »Ist das Fräulein schon auf?«
»Waaas? Um achte in der Fruh? Was glauben S' denn? 's Fräulen, dö hat schon drei Stund lang im Garten gschafft. Um fünfe in der Fruh hat s' heut schon wieder angfangt. Und z'allererst hat s' dö Rosen da gschnitten.«
»Für mich?«
»Für wen denn sonst? Und strumpfsöcklet hab ich auffi müssen, daß ich Ihnen –« Walperl spitzte den Mund, als käme jetzt ein Wort, das ihrer Zunge ungeläufig war, »nicht im Schluhmer större!«
Er sah mit frohem Blick die Rosen an. »Mädel, da hättest du mich auch wecken dürfen!«
Sie stutzte über das Du. »Sooo? Gelt, lassen S' Ihren Tee net kalt werden!« Nach dieser ernsten Mahnung grinste sie wieder mit auffälliger Liebenswürdigkeit. »Wünsch besten Appetit!«
»Walperl!« Er hatte sich an den Tisch gesetzt, rückte die Vase mit den Rosen näher und füllte die Teetasse. »Warum sind Sie denn plötzlich wieder so nett zu mir?«
»'s Fräulen hat mir's gschafft!« erklärte sie kurz und ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie das Gesicht. »Und wegen heut nacht? Wann S' meinen, Sö haben was Bsonders ghört, da sind S' am Holzweg. Wann man Wasser holt, und es sitzt grad zufällig einer da und raucht sein Pfeifl? Da is gar nix zum hören dran!«
»So?«
»Ja!« Das Walperl war draußen.
Erheitert lachte Walter vor sich hin und machte einen Versuch, Dialekt zu reden: »'s Fräulen hat's ihr gschafft?« Zwischen Tee und Honigbrot zog er die Vase mit den Rosen an sich und tauchte das Gesicht in die dunkelroten Kelche.
Als er vom Frühstück aufstand, merkte er, daß er den schwarzen Rock von gestern wieder angezogen hatte, ging zum Schrank, nahm einen hellen Sommeranzug heraus und kleidete sich um. Da hörte er drunten in der Veranda Mathilds Stimme. Er trat auf die Altane hinaus und sah sie in der Sonne über den Kiesplatz gehen, wieder in dem lichten Kleid, mit jenem leichten Strohhut, den sie neulich beim Rosenschneiden getragen, und in der einen Hand ein kleines Fischlägl aus grünem Blech, in der anderen eine lange Angelgerte. »Guten Morgen, Fräulein!«
Freundlich nickte sie. »Guten Morgen!«
»Was für ein schöner Tag das heute wieder ist!«
»Das Schönste haben Sie schon verschlafen.«
»Eine Mahnung, die ich morgen beherzigen werde. Gehen Sie fischen?«
»Ja, zum Weiher hinunter, für Papa eine Forelle fangen.«
»Darf ich mit?«
»Warum denn nicht?«
Er lief in die Stube, packte den kleinen Touristenhut und rannte über die Treppe hinunter. »Da bin ich!« sagte er. »Aber jetzt müssen Sie mir auch erlauben, daß ich mich nützlich mache.« Er nahm ihr das Lägel und die Gerte ab.
Sie ging mit ihm über den Kiesplatz gegen die Wiesen. »Haben Sie denn auch zum Angeln die nötige Geduld?«
»Das muß sich erst zeigen. Ich habe noch nie gefischt.«
»Dann wird's für Sie eine harte Probe werden. Die Forellen im Weiher springen nicht gern nach der Fliege. Das Wasser ist zu klar. Der Bonifaz fängt sie mit dem Köderfischchen. Aber da schlucken sie oft die ganze Angel, und das mag ich nicht.«
»Auch gegen die Fische sind Sie barmherzig?«
Sie lächelte. »Ein Fisch, den wir essen wollen, muß gefangen und abgeschlagen werden. Anders geht's wohl nicht. Aber man braucht die Tiere nicht zu quälen.«
Er sah ihr mit Wohlgefallen in das schöne, ruhige Gesicht, dem die Krempe des Strohhutes einen goldbraunen Schatten gab. Schulter an Schulter gingen sie den Kiesweg hin und kamen zur Höhe des Hügels, von der man weit hinaussah über das Tal. Überall auf den Wiesen waren die Leute beim Heuen. »Wie entzückend das ist!« sagte Walter. »Die feinen Figürchen im Grün da drunten! Die Weibsleute mit den roten Kopftüchern sehen aus wie Feuernelken. Und die Mannsleute mit den weißen Hemdärmeln leuchten in der Sonne, als hätte jeder einen Heiligenschein um das Herz herum. Fräulein, wenn Sie wieder heuen gehen, müssen Sie mich mitmachen lassen.«
»Gerne! Aber so leicht ist das nicht.« Mathild lachte. »Sie würden böse Folgen davon haben.«
»Die fürcht ich nicht. Das muß froh machen, dieses Schaffen in der Sonne!«
Sie blickte zu ihm auf. »Ihr Versprechen haben Sie gehalten, Herr Doktor!«
»Versprechen?«
»Heute wieder ein Mensch zu sein, mit dem sich reden läßt.«
Er wurde verlegen. »Da erinnern Sie mich, daß ich Ihnen etwas abzubitten habe.«
»Mir?«
»Meine törichte und unhöfliche Weigerung von gestern.«
»Unhöflich? Nein!«
»Doch! Sie hätten alle Ursache gehabt, über mich böse zu werden. Und da schicken Sie mir heut diese herrlichen Rosen.«
Leichte Röte ging ihr über die Wangen. »Als Dank für das liebe Wort, das Sie gestern über Papa gesagt haben.«
Schweigend gingen sie die Wiese hinunter und kamen in den Schatten der ersten Bäume. »Wie ernst und schön jene Äußerung Ihres Vaters über Gott war: daß jede menschliche Eigenschaft, die wir ihm beilegen, eine Lästerung seiner Größe ist. Aber wenn wir uns Gott als Schöpfer denken, muß doch alles Leben mit Licht und Schatten ein Teil seinem Wesens sein, das faule Stück Holz da geradeso wie der blühende Herzschlag in Ihrer Brust. Oder glauben Sie, daß Gott –«
Verstummend blieb er stehen, wie festgehalten von einer unsichtbaren Hand. Die Schnur der Angelgerte, die er trug, hatte sich an einem Buchenast verfangen. Bei dem Versuch, sie wieder loszubringen, stellte er sich so ungeschickt, daß Mathild helfen mußte. Sie nahm die Gerte, sah aufmerksam zu dem Ast hinauf, machte eine ruhige Bewegung, und die Schnur war frei. »Wie geschickt Sie sind!« sagte er mit ehrlichem Staunen.
Mathild lachte. Als er ihr die Gerte wieder abnehmen wollte, schüttelte sie den Kopf. »Nein, Herr Philosoph! Sonst lassen Sie mir die Schnur da droben wo hängen, und Papa kommt um seine Forelle.«
Er guckte drein wie ein gescholtenes Kind. »Ich bin ein rechter Unnütz!«
»Da übertreiben Sie wieder. Aber ich meine, Sie sollten jetzt weniger über Gott nachdenken und ein bißchen mehr auf Ihren Weg achten.« Die Zauntür öffnend, trat sie in den kühlen, schattenstillen Wald hinaus.
Ihr Wort, so lustig es gesprochen war, machte ihn ernst. Schweigend schritt er hinter Mathild her, die, mit der Gertenspitze jedem Ästlein ausweichend, quer durch den Wald auf den Weiher zuging. Da war eine kleine Bucht, halb in Sonne und halb im Schatten, von hohen Buchen und Fichten umgeben. Große Forellen standen im klaren Wasser; als sie der beiden Menschen ansichtig wurden, schwammen sie flink davon. »So«, meinte Walter halblaut, »jetzt haben wir alle Fische vertrieben.«
»Die kommen schon wieder. Die Bucht ist ihr Lieblingsplatz, da schwärmen die meisten Mücken.« Das konnte er sehen. Wie ein dünner Schleier war's über dem Wasser von den winzigen, braunen Mücken, die dicht über dem Spiegel durcheinanderschwärmten und das Wasser immer wieder im Fluge leicht berührten. Das hatte den Anschein, als fielen Hunderte von feinen Regentropfen.
Mathild hatte eine kleine Fliegenangel an der Schnur befestigt und steckte die Gerte am Ufer schief in den Boden, daß die Schnur in den Weiher hinaushing und die Fliege, die im leisen Wind ein bißchen schaukelte, das Wasser fast berührte. Drückte der Wind ein wenig stärker auf die dünne Gerte, dann tauchte die Fliege bis auf den Spiegel und verursachte ein feines Gezitter, wie von einem winzigen Insekt, das ins Wasser gefallen. Schweigend sah Walter diesen Vorbereitungen zu, mit so erregter Aufmerksamkeit, als wäre der Forellenfang, wie ihn Mathild betrieb, ein wundersames Mysterium des Lebens. »Jetzt müssen wir weggehen«, sagte sie, »sonst kommen die Forellen nicht wieder.« Sie ging am Ufer hin, ließ sich im Schatten einer Buche nieder und legte den Strohhut ab. »Plaudern dürfen wir, soviel wir wollen. Nur nicht viel bewegen! In dem klaren Wasser sehen die Fische weit.«
Er streckte sich an ihrer Seite in das linde Gras. Eine Weile guckten sie beide schweigend nach der Angel. »Die Tiere nicht quälen?« sagte er plötzlich. »Schließlich muß der Fisch doch in den Haken beißen.«
»Natürlich! Aber wenn es richtig gemacht wird, fängt er sich nur mit dem Maul. Das tut ihm nicht weh.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil Forellen, die sich von der Angel abschlugen, ein paar Sekunden später schon wieder gebissen haben.«
»Da zwingt sie doch wohl der größere Schmerz ihres Hungers, den kleineren zu mißachten.«
In Mathilds Augen blitzte der Schalk. »Auf unsere Forellen paßt das nicht. Der Weiher ist an Nahrung reich. Die Fische hier haben es also gar nicht nötig, nach der Angel zu schnappen. Tun sie es doch, so ist die Bratpfanne die strafende Gerechtigkeit für ihre unersättliche Freßlust. Wer in Frieden leben will, muß genügsam sein.«
Walter lachte. »Fräulein Mathild, Sie sind die Tochter Ihres Vaters.«
»Die bin ich, ja.« Wie froh sie das sagte! »Und weil Sie mich an Papa erinnern, will ich Ihnen etwas zeigen. Schauen Sie einmal aufs Wasser hin, recht aufmerksam! Nun? Sehen Sie nichts?«
»Nur das Wasser und die schwärmenden Mücken.«
»Dann sehen Sie, was ich meine: Gefahr und Leben.« Sie deutete mit der Hand. »Dort! Sehen Sie? Was da so zittert?«
»Da ist eine Mücke ins Wasser gefallen.«
»Und zappelt, weil sie leben möchte.«
»Soll ich sie herausziehen?« Er wollte aufspringen.
Mathild legte ihm die Hand auf die Schulter. »Bleiben Sie nur! Die kleine Fliege braucht keinen rettenden Gott. Das Leben hilft ihr. Da! Jetzt!« Eine zweite Mücke hatte sich auf das zappelnde Unglückstierchen gesetzt, eine dritte und vierte flog hinzu, und schließlich wurde das ein schwimmendes, vom Geschwirr der vielen Flügelchen wie von einem zitternden Schein umgebenes Klümplein Leben. Das hob sich plötzlich mit einem Ruck in die Luft, schwärmte in der Sonne auseinander, und das Unglückstierchen, das in Todesangst gezappelt hatte, war auf dem Wasser verschwunden. »Gerettet!« sagte Mathild mit leisem Lachen.
Walter lachte nicht mit. Mit großen Augen sah er auf das Wasser hin. »Ein Wunder des Lebens! Daß es im Tierleben so etwas gibt, darüber hab ich noch nie ein Wort gelesen.«
»Papa sagt immer: Das Beste steht nie in den Büchern, das muß man im Leben sehen. Freilich, man hat nicht immer die Augen dazu. Ich hab sie auch nicht gehabt für das da! Seit meiner Kindheit bin ich tausendmal hier am Weiher gewesen. Aber ich hab immer zu tief hinuntergeguckt ins Wasser oder zu hoch ins Blau, nie dazwischen hinein in die Mitte, wo das kleine Leben schwärmt. Das hat mir Papa erst zeigen müssen. Jetzt seh ich es immer, und was ich mir dabei denke, das gibt mir viel fürs Leben. Papa hat recht, wenn er sagt, daß wir unser eigenes Leben besser verstehen würden. wenn wir aufmerksamer in das Leben der Tiere hineinschauen möchten. Die kleinen Mücken da! Wie das froh und sorglos durcheinanderschwärmt, immer der Sonne zu, immer am Tod vorbei! Ihr Leben ist zwischen Gefahr und Freude gesetzt, genau so wie bei uns Menschen. Und wie einfach lösen sie ihr Lebensrätsel: sie fürchten das Wasser nicht und lieben die Sonne. Will das Schicksal nach ihnen schnappen, so baut ihr selbstloser Opfermut den Sinkenden eine Brücke ins Leben zurück. Wenn alle Menschen das so nachmachen würden! Wie müßte unser Leben schön und gut sein, froh und sicher!«
Er sah sie mit glänzenden Augen an. »Fräulein Mathild! Sie sind ein großer und reicher Mensch!«
»Ich?« fragte sie ein wenig verlegen.
»Weil Sie alles Gute, Schöne und Lebensklare, zu dem sich andere Menschen durch Zweifel hinaufringen müssen, als ein Teil Ihrer Natur besitzen.«
»Da verwechseln Sie Ursache und Wirkung. So was sollte einem Philosophen nicht passieren! Mir gutschreiben, was Papa gehört und meiner Mutter, das ist eine Rechnung, die ich nicht gelten lasse.«
»Ihr Vater! Was haben Sie bei Ihrer glücklichen Natur noch einen guten Lehrer an Ihrem Vater gefunden! Mir hat niemand das warme Leben gezeigt, das zwischen dem Rätsel der Tiefe und dem Rätsel der Höhe froh in der Sonne atmet. In der Schule, ja, da hat man mir was gesagt von den kleinen Mücken da: ihren lateinischen Namen. Und unter dem Mikroskop zeigte man uns den Facettenbau ihrer Augen und den Glaspanzer zwischen den Flügelrippen. Haben Sie das schon einmal gesehen? Diese Wunderwelt im Kleinen?«
»Ja. Papa hat ein Vergrößerungsglas, das er früher zum Pflanzenbestimmen brauchte. Mit dem hab ich manchmal als Kind ein Blumenblatt oder ein kleines Tier betrachtet. Das hat mich immer erschreckt. Ein Marienkäferchen wurde ein greuliches Ungeheuer, und eine kleine Rosenknospe sah aus wie ein grüner Igel mit roter Teufelszunge. Die Lies auf dem Hohen Schein mag recht haben, wenn sie meint: alles, was weit von uns ist, lügt. Aber was wir zu nah vor die Augen halten, das sehen wir doch auch nicht wahr. Wenn das dicke Glas den zarten Farbenhauch eines Rosenblattes zu häßlichen Warzen und Borsten vergrößert –«
»Das Glas vergrößert nicht, es schärft nur unsern Blick für das Kleine. Was es uns zeigt, das alles ist so. Je schärfer die Gläser sind, durch die wir schauen, desto deutlicher sehen wir im Kleinen immer wieder ein Kleineres. So geht es ohne Grenzen weiter, ins Unendliche. Würde ein Instrument erfunden, das noch millionenmal schärfer zeigt als das stärkste Mikroskop, das wir besitzen, dann würden wir Meere im Aug' einer Mücke sehen, Gebirge auf ihren Zehen, Wälder auf ihren Flügeln. Diese Meere, diese Wälder, diese Berge müssen wieder belebt sein, wie der Wald um uns her, wie die Berge um dieses Tal, wie jedes Meer auf unserer Erde. Diese große Erde ist auch nur ein Kleines, ein wirbelndes Stäubchen im Feueratem der Sonne. Die Sonne selbst nur ein Gluttropfen im endlosen Sternenmeer. Und das Ganze? Ob nicht auch das wieder ein Lebendiges ist? Ein ungeheures Geschöpf, an dessen Wimpern als Tränen die Sonnen hängen, in dessen Pulsen die Welten rollen wie die Blutkörperchen in unseren Adern? Auch dieser Riese wieder nur eine zuckende Lebensfaser im Körper eines Wesens, millionenmal gewaltiger? Wenn die Welt ein Ewiges ist, muß sie auch ohne Grenzen sein, ihr Leben muß sich als Großes und Kleines ins Unendliche wiederholen. Und das Größte und das Kleinste, alles muß ein Gleiches sein! Ist die Welt aber ein begrenztes Ding, das entstanden ist, dann muß sie auch wieder vergehen. Was ist dann vor ihr gewesen, was wird nach ihr sein? Wo wohnt der Wille, der sie entstehen ließ? Wo der Zorn, der sie vernichtet? Was ist der Raum, in dem die Sterne kreisen? Was die Zeit, mit der man die Dauer ihres Lebens mißt? – Das auszudenken? Das verstehen zu wollen? Muß man darüber nicht irrsinnig werden?«
Mathild sah schweigend hinaus in das Blau des schönen Tages. Dann machte sie eine Bewegung, wie um etwas Bedrückendes von sich abzuschütteln. Von dem Seidelbast, der neben ihr seine zarten Stämmchen mit den rosigen Blumenkelchen aus dem dunklen Moose herausgeschoben hatte, brach sie den schönsten Zweig. »Sehen Sie, Herr Doktor, das da, das ist mir Rätsel genug! Auch eines, das ich nie verstehen werde. Aber eines, das ich liebe, eines, dessen Geheimnis mich nicht in die Gefahr bringt, irrsinnig zu werden, sondern mich froh und zufrieden macht. Ich weiß: das ist schön und duftet. Jede bessere Weisheit wäre für mich die schlechtere, weil sie mir weniger geben würde.«
Er sah ihr ruhiges Lächeln, sah das frohe Leuchten ihrer Augen. In einem Sturm von Gefühl ergriff er ihre Hand mit der Blume. »Fräulein! Ich möchte alle Bücher, die ich durchgeschrotet habe, auf einen Stoß zusammentragen, alle verbrennen in einem großen Feuer und in die Asche ein Stäublein dieser Blume pflanzen!«
Da blickte sie lauschend auf. Ein schöner schwermütiger Gesang scholl über den Weiher her – drei Mädchenstimmen, die sich harmonisch ineinanderschlangen. »Das müssen Fremde sein!« sagte Mathild. »So singt hier niemand.« Es war ein schwüles, träumerisches Lied, von dürstendem Schmerz durchzittert. Walter sprang aus. »Wie schön!«
»Gut gesungen, ja, mit geschulten Stimmen!« Mathild erhob sich. »Das muß ein ungarisches Volkslied sein. Aber wie sie es singen, das wirkt wie eine Parodie.«
Er sah sie an, als verstünde er dieses Urteil nicht. »Eine Parodie? Was so ernst und schön ist?«
»Aber Doktor! Hören Sie doch nur!«
Der Gesang kam immer näher:
»Wasser von der Marosch Fließt so schnell, Liebster, ach, mein Liebster, Komm zur Stell – – Wasser von der Marosch Fließt so schnell!« |
Mathild nickte. »Auch der Text ist eine Parodie. Die Sängerinnen machen sich über das Volkslied ein bißchen lustig, indem sie alles Gefühl sentimental übertreiben.«
Walter schüttelte den Kopf und lauschte wieder.
»Wasser von der Marosch Rinnt so trüb, Liebster, komm, ach Liebster, Hab mich lieb – –« |
Man sah im Schatten zwischen den Bäumen etwas Weißes und Rotes schimmern, während die neue Strophe mit der gleichen Melodie, doch im Takt eines wilden Tanzes einsetzte:
»Wasser von der Marosch Fließt so rot, Lebst noch, Liebster, oder Bist du mausetot? Wasser von der Marosch Fließt blutwurstrot!« |
Das wurde mit so heißer Leidenschaft gesungen, daß trotz des unsinnigen Textes jeder parodistische Eindruck erlosch und eine Wirkung blieb, die Walter in Herz und Blut zu empfinden schien. Da löste sich die schluchzende Fermate in übermütiges Gelächter auf, und aus dem Schatten des Waldes kamen drei junge Mädchen gegangen, schlanke, schöne Gestalten, alle gleich gekleidet, mit weißen Flanellröcken und scharlachroten Seidenblusen. Sie waren ohne Hüte, trugen das Haar phantastisch mit blühenden Ranken des Waldrausch umwunden und hatten Sträuße von Wiesenblumen in den Armen, so groß wie Getreidegarben. Ihre Gesichter glühten, und ihre Haare waren zerzaust, als hätten sie wie ausgelassene Kinder umhergetobt. Geschwister waren das nicht. Nur in der Kleidung und in dem abenteuerlichen Aufputz glichen sie einander. Die Jüngste war eine zierliche Blondine mit koketten Augen. Die Zweite, von geschmeidiger Erscheinung und mit ausgeprägten Formen, hatte schwarzes Haar und ein Gesicht von eigenartiger Schönheit, mit dem Teint einer Südländerin. Die Dritte, deren Braunhaar sich reich um die Schläfen wellte, war an Wuchs die Stolzeste und schien in diesem abenteuerlichen Trio die Ruhigste zu sein. Etwas träumerisch Müdes sprach aus ihren rein geschnittenen Zügen und auf den großen, von dunklen Wimpern halb verschleierten Augen. Langsam ging sie hinter den zwei anderen her, die lachend miteinander zankten, weil die eine nach links in den Wald, die andere rechts zum Ufer des Teiches wollte. »Hansi, nimm doch Vernunft an!« sagte die Schwarze mit den Feueraugen. »Das Dorf muß da drüben hinter dem Hügel liegen!«
»Unsinn!« zwitscherte die Blonde. »Ich hab doch gesehen, daß die Straße nach rechts hin abbiegt!« Sie deutete stilvoll mit der Hand und gab ihrem feinen Stimmchen einen dramatischen Akzent: »Siehe, zur Rechten zieht die Straße der weißlichen Lämmer! Schwärzliche Seele, du, schreite zur Linken hinaus!«
»Laß doch diese lyrischen Witze! Damit hast du uns heute schon überfüttert. Nur hilft das nicht für meinen rasenden Hunger. Und was sollen denn die anderen denken, wenn sie mit dem Wagen ankommen und wir sind nicht da?«
»Was gehen die mich an? Ausgelöscht aus meinem Herzen! Ich halte unseren Vertrag. Paragraph eins: Sehe jeder, wie er's treibe!«
»Und wer steht, daß er nicht falle!« sagte hinter den beiden die ruhig Stolze mit einer herrlich klingenden Stimme.
Da lachten die anderen. Und die Blondine rief über die Schulter: »Ja, du schattende Zypresse, nimm dich nur schön in acht!«
»So seid doch für eine Minute vernünftig!« mahnte die Schwarze. »Wir müssen doch wissen, wohin. Ehrlich, Hansi, hab ich es nicht vorausgesagt, daß wir uns verlaufen werden? Mit deiner verrückten Waldrennerei.«
Die Blonde richtete sich auf. »Milka! Die Schuldige bist du! Mit deinem präraffaelitischen Blumenwahnsinn! Aber zu einer Flora à la Dingsda – nein, mein Herzl, da würdest du dich eher noch für eine Pomia eignen, oder Pomonia, ich weiß nicht, wie man sagt – für so was obstmäßig Rundliches, ganz reif, mit schwarzem Kern, schwarz und süß, sogar sehr süß, aber ein bisserl giftig.« Heines Liedchen von den schönsten Augen trällernd, ging sie auf den Weiher zu.
Lachend warf ihr die Schwarze einen Büschel Blumen nach, und die ruhig Stolze erklärte mit schöner Würde: »Philinchen, das hast du gut gesagt!«
Da gewahrte die Blonde die zwei verwunderten Menschen am Ufer der Bucht. »Kinder, da sind Leute. Die kann man fragen.« Leichtfüßig sprang sie auf die beiden zu, knixte vor Mathild und fragte: »Bitte, wo ist der Weg nach Langental?«
»Gleich da drüben ist der Fußweg!« sagte Mathild in ihrer ruhigen Art. »Wenn Sie über den Hügel hinüberkommen, haben Sie schon die Straße und sehen das Dorf.«
»Danke schön!« Die Blonde blieb noch immer stehen und betrachtete Mathild mit neugierigen Augen. Auch die zwei anderen hatten, als sie Mathild gewahrten, das gleiche Staunen im Blick. Walter schien Luft für sie zu sein. Doch als sie gingen, drehte die ruhig Stolze langsam das Gesicht nach ihm.
»Milka!« flüsterte die Blonde der Schwarzen zu. »Hast du dir die angesehen? Eine prachtvolle Person!«
»Ich bin nicht blind. Aber das ist doch eine aus der Stadt. So was wächst im Dorf nicht.«
»Na, weißt du, das Kleid –«
Die scharlachroten Blusen waren hinter den Bäumen verschwunden. Mathild und Walter standen noch immer schweigend. Dann sahen sie einander an. Und Walter sagte lächelnd: »Das sind merkwürdige Mädchen. Aber das Bild, wie sie kamen, so mit den Blumen, das war schön.«
Mathild nickte und wollte ihren Platz wieder einnehmen. Da sprang sie mit leisem Aufschrei davon: »Ein Fisch hat gebissen.« Sie lief zur Angel hinüber.
Walter sah, wie die Gertenspitze zuckte und von der straffen Schnur gebogen wurde. Mathild hatte die Gerte schon aufgenommen. Wie eine große, silberne Spindel fuhr es glitzernd auf dem Wasser, und eine pfündige Forelle zappelte im grünen Moos. Mathild haschte sie mit flinker Hand. »Ach Gott! Die ganze Angel hat sie geschluckt! Herr Doktor, bitte, lösen Sie dem Fisch die Angel aus!«
»Ja, Fräulein!« Er packte aufgeregt die Forelle mit beiden Händen. Sie entwischte ihm und schlug silberne Räder im Moos. Während er den zappelnden Fisch zu haschen suchte, nahm Mathild ein Handtuch aus dem Lägel. »Ich bin schuld, weil ich nicht aufgepaßt habe. Die Gerte hat nachgegeben, da ist die Fliege ins Wasser getaucht, und der Fisch konnte die Angel schlucken.«
»Jetzt hab ich ihn!« rief Walter triumphierend. Er hielt die Forelle mit beiden Händen so fest, daß sie unter dem würgenden Druck den Rachen aufsperrte, in dessen Tiefe der Haken saß. »Aber wie soll ich denn das jetzt machen?« Aus den Kiemen der Forelle floß ihm dunkles Blut über die Finger. Er wurde bleich, und hilflos sah er zu Mathild hinüber. »Ich bitte, das kann ich nicht.«
Sie kam und löste aus ihrem Haar eine Nadel, deren Ende sie zu einem Haken bog. Ihre Hand zitterte, als sie die Angel aus dem Schlund des Fisches löste. Dann warf sie die Nadel fort, und sich zum Ufer niederbeugend, ließ sie die Forelle in den Weiher gleiten.
»Fräulein? Was machen Sie denn?«
»Ich mag sie nicht mehr. Bis ich heim käme, würde sie umstehen. Im frischen Wasser erholt sie sich wieder.«
»Wollen Sie eine andere fangen?«
»Nein. Um zehn Uhr muß ich ins Dorf.« Sie sah, wie er die blutigen Finger in Unbehagen von sich wegstreckte. »Waschen Sie sich die Hände! Da ist ein Tuch.«
Sie spülten sich die Hände rein und trockneten sie gleichzeitig an dem Tuch, Walter am einen, Mathild am anderen Ende. Dann gab sie das Tuch wieder ins Lägel, brachte die Angelrute in Ordnung und trat ans Ufer, um nach der Forelle zu sehen. Die stand, wie zahm geworden, noch immer an der gleichen Stelle. unbeweglich, mit dem Bauch im Schlamm.
»Wird sie sich ausheilen?« fragte Walter.
Mathild nickte. Sie hob ein Steinchen auf und ließ es dicht neben dem Fisch ins Wasser fallen. Die Forelle machte eine rasche Wendung und schoß durch den aufgewühlten Schlamm der reinen Tiefe zu.
Da klang vom Fußweg herüber das zwitschernde Stimmchen der Blonden. »Kinder! Kommt doch mal her! Was unglaublich Komisches! Der Heilige von Weimar als Martertäfelchen im Bauernwald!«
Mathild zog die Brauen zusammen wie in Schmerz.
Die Stimme der ruhig Stolzen klang, undeutlich, doch mit einem Tonfall, als spräche sie Verse. Dann gingen die drei mit Lachen und Schwatzen durch den Wald davon.
Walter schien nichts zu hören. Lägel und Angelrute in den Händen, stand er noch immer am Weiher und sah in die farbenschillernde Tiefe, in der die Forelle verschwunden war. Mathild hatte ihren Hut geholt und sammelte Blumen, während sie am Ufer ging. Walter folgte ihr, und sie kamen zu dem offenen Kiesplatz. Eine Grasschmiele um den gesammelten Strauß windend, schritt Mathild auf den Felsblock zu, in den die Verse gemeißelt waren. Eine Welle goldigen Sonnenlichtes zitterte über den Levkojen und Reseden, die ihn umblühten. »Fräulein? Was bedeutet der Stein da? Und von wem sind diese Verse?«
Mathild sah ihn mit großen Augen an. »Sie kennen diese Verse nicht?«
»Nein.«
»Das sind die beiden letzten Strophen aus ›Künstlers Abendlied‹
Wirst alle meine Kräfte mir
– von Goethe.«
Wie sehn ich mich, Natur, nach dir,
Dich treu und lieb zu fühlen!
Ein lustger Springbrunn wirst du mir
Aus tausend Röhren spielen.
In meinem Sinn erheitern
Und dieses enge Dasein hier
Zur Ewigkeit erweitern.
Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund. »Wieder ein Loch in meinem Leben. Von Goethe kenn ich nur, was im Lesebuch der Volksschule steht: der Sänger, Erlkönig, der Zauberlehrling, Johanna Sebus, die wandelnde Glocke.«
»Und Faust?« fragte sie erschrocken. »Werther? Die Wahlverwandtschaften? Götz? Egmont? Iphigenie? Tasso? Wilhelm Meister?«
Er schüttelte den Kopf.
»Kann man denn leben ohne das?«
»Seit ein paar Tagen beginn ich zu merken, daß die Zeit, die hinter mir liegt, nicht Leben war.« Er trat vor den Stein. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dieses Lied auf mich wirkte, als ich neulich den Stein da fand! Goethe? Der Gang meines Lebens hat es mit sich gebracht, daß Goethe durch viele Jahre ein verbotenes Buch für mich war.«
Die Blumen in ihrer Hand betrachtend, sagte Mathild: »Da steht Ihnen eine große Freude bevor. Goethe kennenzulernen! Als Mann! Papa sagt immer, man liest ihn zu früh und versteht ihn nur halb. Um seine Größe ganz zu erfassen, muß man ein gut Stück Leben kennen. Dann findet man Antwort bei ihm auf alle Fragen, denen man ratlos gegenüberstand. Der Dichter wird zum Priester, der uns Ruhe gibt. Das hab ich an mir selbst erfahren. Meine Mutter war immer der Meinung, daß man für ein gutes Buch nie zu jung ist. Sie hat mir viel in die Hand gegeben, was über mein Alter ging. Nur mit Goethe blieb sie sparsam. An meinem fünfzehnten Geburtstag hat sie mir den Werther vorgelesen.«
Mathild legte die Blumen vor den Stein hin, der die Inschrift trug. Während sie sprach, begann sie von den Reseden und Levkojenstöcken die welken Blüten und Blätter abzulösen.
»Das hat auf mich gewirkt, daß ich ganz aus dem Häuschen kam. Aber wenn ich ehrlich sein will, war der Schreck, den ich hatte, größer als die Freude. Immer hatte ich das Gefühl, als wäre ein großes, eisernes Tor vor mir aufgesprungen. Und alles da drinnen brennt. Sooft die Mutter mich ansah, wollte sie zu lesen aufhören. Ich hab immer wieder gebettelt: Lies, Mutter, lies! Als sie am Schluß die Stelle las, die Werther in der letzten Nacht geschrieben: ›Auf dem Kirchhofe sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu, dort wünsche ich zu ruhen‹ – da hab ich schluchzen müssen, daß ich meinte, es zerreißt mir das Herz. Die ganzen Jahre her hab ich das Buch nicht mehr angerührt. Im letzten Winter – ich weiß nicht, was da mit mir gewesen ist. Ich war nicht krank, doch immer so müde. Das schlimmste waren die Nächte. Ich hab nimmer schlafen können. Und da bin ich in der Nacht einmal aufgesprungen, um mir ein Buch zu holen. Erst wie ich Licht machte, hab ich gesehen, daß es der ›Werther‹ war, den ich aus dem Kasten genommen. Und da hab ich gelesen, bis es hell wurde. Auch in mir. Dann bin ich aufgestanden und hab meine Arbeit getan, ohne eine Spur von Müdigkeit, ruhig und zufrieden. Seit damals hab ich das Buch immer wieder gelesen. Kein anderes ist mir so lieb. Am Ostersonntag hab ich es mit in die Kirche genommen und immer nur die beiden Stellen über Gott gelesen. Als der Pfarrer zum Trio kam, hat er gleich gefragt: Thildele, was war denn das für ein Buch heut?« Sie lachte ein wenig vor sich hin. »Mein Gebetbuch, hab ich gesagt. Und das war keine Notlüge.«
Walter atmete auf. »Kann ein Buch so wirken?« Da sah er den Blick, mit dem sie den Stein betrachtete. »Fräulein? Hat dieser Stein eine Beziehung zu Ihrem Leben?«
Sie nickte. »Mein Bruder hat mir's zulieb getan und hat die Verse in den Stein gemeißelt. Hier ist meine Mutter am liebsten gesessen, wenn sie mir vorlas. Auch an jenem Abend. Da hat sie mir den ›Gesang der Geister über den Wassern‹ gelesen:
Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser, Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind – |
Dann ›Das Göttliche‹ und ›Künstlers Abendlied‹. Das war das letzte.« Ein leises Schwanken kam in ihre Stimme. »Sie wollte plötzlich heim zu Papa. Als ich zu ihr aufsah, fuhr mir ein Schreck ins Herz. So merkwürdig verändert war ihr Gesicht. Kränklich war sie seit zwei Jahren schon. Aber sie hat es immer so getragen, daß man kaum was merkte davon. Auf dem Heimweg wurde sie so schwach, daß ich sie stützen mußte. Aber am Abend, daheim, da sind wir wieder ganz vergnügt beisammengesessen und haben musiziert bis spät in die Nacht. Am andern Tag mußte sie liegenbleiben. Sie ist nicht wieder aufgestanden.« Mathild hatte das Gesicht geneigt, und langsam strich sie mit der Hand über den grauen Stein.
Er legte die Gerte und das Lägl auf die Bank, ging auf Mathild zu und nahm ihre Hand Da klang ein dünnes Lachen hinter ihnen. Auf dem Fußweg stand die Lies vom Hohen Schein, das hagere Spitzmausgesicht erschöpft und brennend, auf dem Rücken eine schwerbeladene Kraxe. »Ah, da schau! 's Welträtsel mit die linken Füß! Und 's Kunststückl vom sonnseitigen Glück! Alle zwei beinand? Wie Tag und Nacht, wann s' anand begegnen in der Fruh!«
Die Brauen furchend, befreite Mathild ihre Hand. »Grüß Gott, Lies! Heut hast du zum Abtragen einen heißen Tag.«
»Ja. D' Sonn brennt wie 's höllische Fuier, wann der Kaplan einheizt. 's ganze Schmalz aus'm Buckel wird mir rinnet. Allweil tröpfelt's hinter meiner.« Die Lies trat näher zu Mathild hin und sagte leis: »Auf'm Almfeld liegt a Brocken Stein. Jetzt tut er kein' Rührer nimmer. Aber net lang is her, da hat er an gfahrlichen Hupf gmacht, grad über dein' Weg aussi!«
In Unmut wollte Mathild erwidern. Walter, der die flüsternden Worte der Sennin nicht gehört hatte, grüßte freundlich und fragte: »Was machen die Grillen?«
»Fleißig hab ich allweil kitzelt. Und heut hab ich a bißl ebbes aussibracht.«
»Wirklich? Was denn?«
»Daß d' Menschenleut hundert Weg durchs Leben haben, an einzigen schlechten und neunaneunzg gute. Und allweil den schlechten müssen s' laufen.«
Walter lachte. »Das ist die Beobachtung einer Wirkung. Dazu müssen Sie erst die Ursache herauskitzeln.«
»Die könnts Enk aussilesen aus Enkerm dicken Buch, wo soviel drinsteht.« Die Sennin rückte die Kraxe höher. »Jetzt därf ich schauen, daß ich heimkomm! Oder d' Sonn macht den Scheidhofer ärmer um a Pfündl Schmalz!«
»Wart, Lies!« sagte Mathild hastig. »Ich geh mit dir.« Sie nahm das Lägel und die Gerte.
Walter sah sie betroffen an.
»Es ist spät geworden, und ich hab einen Weg ins Dorf.« Mathild nickte einen Gruß. »Komm, Lies!« Die beiden gingen. Dabei schwatzte die Sennin: »Ich weiß dir was Neus. 's nächste Mal tust dich leicht auf'n Hohen Schein auffi. Da baut der Moosjäger an neuen Weg. Schanzen tut er wie der Teufel, wann er arme Seelen fangen möcht und es sterben bloß christliche Leut.«
Walter blickte seltsam verloren den beiden nach, die hinter den Bäumen verschwanden. Als er keinen Schimmer des lichten Kleides mehr gewahren konnte, blieb er noch immer stehen. Endlich ging er. In der Verlorenheit seiner Gedanken schlug er die falsche Richtung ein, nicht gegen den Zaun des Scheidhofes, sondern gegen den Hohen Schein hinaus. Er merkte erst, daß er irrgegangen, als er zwischen den Wiesen auf der Straße stand. Schon wollte er umkehren. Da sah er ein merkwürdiges Fuhrwerk von Mitterwalchen kommen: einen bunt bemalten Komödiantenwagen, mit einer Fensterreihe auf jeder Seite, wie ein kleines Haus, das man auf Räder gestellt. Über dem Dach des Wagens waren große Koffer und lange Leinwandrollen festgeschnürt. Den Wagen zogen zwei nette Gäule. Auf dem Sattelpferd, doch ohne Sattel, ritt mit verschränkten Armen ein junger bildhübscher Mensch, die Zigarette zwischen den Zähnen, in einer Kleidung, die einem Jagdkostüm ähnelte, von elegantem Schnitt.
Durch die hellen Fenster sah man an einem Tischchen im Innern des Wagens zwei andere sitzen, ein wenig älter als der schlanke Reiter. Sie rauchten und trieben mit heißem Eifer ein Kartenspiel. An einem Fensterkreuz des Wagens hingen an scharlachroten Bändern drei Mädchenhüte auf moosgrünem Stroh, mit weißen Hahnenfedern.
Unter den Hufen der Pferde und zwischen den Rädern dampfte der graue Staub der Straße hervor. Walter trat, als der Wagen vorüberfuhr, in die Wiese hinaus, um dieser qualmenden Wolke zu entrinnen.