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In der dämmernden Morgenfrühe verließen Walter und Bonifaz den Scheidhof, unter den braunen Wettermänteln, Walter mit dem Bergstock, Bonifaz mit einer langstieligen Axt. Während sie der Straße folgten, plauderten sie von der Wirtschaft des Hofes. Die ganze Jahresarbeit sprachen sie durch, vom ersten Pflugriß bis zur Ernte. »No ja«, sagte Bonifaz, »es wird alls in der Ordnung gmacht. Aber man treibt's halt nach der alten Mod. Oft schon hab ich's dem Scheidhofer gsagt, daß man den Hof ganz anders in d' Höh rucken kunnt. Aber da heißt's allweil: Was hab ich davon? So an absterbender Schwanz hat für nix mehr an Sinn.«
»Wie meinen Sie das: den Hof in die Höhe rücken? Sagen Sie mir's! Ich habe Sinn dafür.«
Bonifaz lachte. »Schad, daß Sie net der Scheidhofer sind! Zum Exempli: d' Almwirtschaft! Vor hundert Jahr, wie 's ganze Tal lauter Holz war und 's Futter gmangelt hat, haben d' Leut freilich auftreiben müssen auf die Bränd. Oder sie haben Arbeit und Futter gspart, weil Fleisch und Schmalz kein' Absatz und Preis net ghabt hat. Aber heutigentags? In Mitterwalchen haben wir d' Eisenbahn. Futter is gnug da. Statt daß wir jedes Fruhjahr dreißig Fuder Heu verkaufen, wär's gscheiter, wir taten 's Vieh daheim bhalten, d' Milli in d' Stadt schicken, oder Butter machen und richtig kasen, und 's Jungvieh in d' Mast geben. Tausend Mark kunnt er mehrer aussibringen, der Scheidhofer! Und daß man d' Almweid net ungenutzt liegenlaßt, kunnt er an Fohlenhof einrichten. Aber mit'm Scheidhofer is ja nix z'machen.«
Mit dieser Andeutung begnügte sich Walter nicht. Er fragte so unermüdlich, daß Bonifaz schließlich meinte: »Sie stellen Ihnen grad, als möchten S' über Nacht Bauer werden?« Walter lachte. Und wie in einer Regung freundschaftlicher Laune legte er den Arm um die Schulter des Knechtes.
Als sie den Waldsaum erreichten, blickte Walter über den Scheidhofer Hügel zurück. Durch eine Kluft, die sich im ziehenden Gewölk gebildet hatte, glänzte ein Stück Himmel in matter Bläue auf das »kleine Königreich« herunter. »Sehen Sie, das Wetter klärt sich auf!«
Bonifaz schüttelte den Kopf. »Heut werden wir noch ghörig gwaschen.« Mit dieser Prophezeiung behielt er recht. Als Walter gegen vier Uhr nachmittags von seinem Waldgang heimkehrte, sah er aus – ein Volkswort sagt: wie eine Kirchenmaus, die in den Weihbrunnkessel gefallen. Das Wasser rann ihm aus den Hosenschäften, und über das Gesicht hatte er gründliche Striche von der ausgelaugten Farbe seines Lodenhütls. Doch eine Laune brachte er mit heim, so übermütig froh, als hätte dieser nasse Tag die Kirschen seines Lebens reif gemacht.
Während er sich umkleidete, rief ihm das Walperl zum gedeckten Tisch herunter in die Stube des Forstmeisters. Als er den alten Herrn im Sofawinkel begrüßte, fing er gleich zu erzählen an. Die Scheidhofer Wälder und der Bonifaz! Für seine warme Begeisterung waren das zwei Wunderdinge der Schöpfung. Während er schwatzte, warf er ungeduldige Blicke nach der Tür, bis der Forstmeister lächelnd sagte: »Die Thilde ist im Pfarrhof. Sie wollte ein paar Stunden mit dem Hochwürdigen musizieren. Vom Pfarrhof kommt sie gleich ins Theater.«
Walters Laune schien gedämpft. Diese nachdenkliche Stimmung hielt nicht lange an. Das Essen schmeckte ihm, und nach dem anstrengenden Marsch empfand er die Ruhe wohlig in seinem Blut. Und da mußte er wieder von allem Wunder dieses Morgens schwatzen. »Ein Wald, wie ich noch keinen schöneren gesehen habe!«
»Sie sind doch kein Maler, Doktor?«
Verwundert sah Walter auf.
»Für einen Künstler ist das freilich was, so ein verwahrloster Bauernwald. Romantik der Natur steckt drin. Aber würden Sie die Wälder, die dem Scheidhofer gehören, mit den Augen eines Forstmannes ansehen, Sie würden vor Jammer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.«
Dieses Urteil schien Walter nicht zu begreifen. »Ein Wald wie eine Kirche? Diese Tausende herrlicher Stämme?«
»Ein Drittel davon ist überständig und kernfaul. Die hätte man schon vor zehn und zwanzig Jahren schlagen müssen, um das Holz bei Wert zu erhalten und Lust für den Nachwuchs zu schaffen. Was hab ich dem Dickschädel schon gepredigt! Da hilft nichts. Der Bauer ist und bleibt ein Waldverderber. Da ist der Scheidhofer bei seiner geriebenen Schlauheit um kein Haar besser als die anderen. Und was hätte der aus seinem Wald machen können!«
Walters Augen leuchteten. »Da läßt sich auch was verbessern?«
»Das glaub ich! Vor Jahren, weil mir der Anblick dieser Verwüstung den Magen umdrehte, hab ich dem Scheidhofer einen Wirtschaftsplan ausgearbeitet. Nett bin ich angekommen. Mein Dank für die vier Wochen Arbeit war, daß mich der Scheidhofer in Verdacht hatte, ich möchte was profitieren dabei. Da hab ich meine Waldweisheit schön in den Kasten gesperrt.«
»Herr Forstmeister? Haben Sie das noch? Diesen Wirtschaftsplan?«
»Ja. Warum?«
»Ich habe die Scheidhofer Wälder gesehen, wie sie sind. Jetzt möcht ich gerne wissen, wie sie sein könnten.«
Dieses Wort schien dem Forstmeister Freude zu machen. »Das gefällt mir, daß Sie sich so lebhaft für Dinge interessieren, die doch eigentlich außerhalb Ihres Lebens liegen!«
Walter lachte ganz merkwürdig. »Bekomm ich den Plan?«
»Die Thilde soll Ihnen gelegentlich den Akt heraussuchen. Aber Sie werden das nicht so leicht verstehen. Wenn Sie Zeit haben, setzen Sie sich ein paar Stunden mit mir zusammen. Dann erklär ich Ihnen alles an der Hand der Pläne.«
»Ich danke Ihnen.« Mit sprudelndem Eifer begann Walter zu erzählen, was Bonifaz von der Scheidhofer Wirtschaft gesagt hatte, und von dem Aufschwung, der sich erzielen ließe.
Der Forstmeister nickte. »Der Bonifaz versteht sich auf die Arbeit. Wenn er was sagt, so hat's Hand und Fuß.«
»Ein Mensch, in den ich verliebt bin!« Walter lachte wieder. »Heut hab ich auch erfahren, wie er mit seinem Zunamen heißt.«
»Was ist da Lustiges dran?«
»Sein Vorname und dieser Zuname, das ist doch ein drolliger Gegensatz. Die unduldsame Bosheit einer verkrüppelten Moral tauft ihn auf den ellenlangen Namen Bonifazius Venantius. Und Jahrhunderte, vom Urahn bis zu seiner Mutter, fanden für ihn den kurzen Namen: Gwack! Wie komisch das klingt: Bonifazius Venantius Gwack!«
»Manchmal macht das Leben solche Witze.« Im Gesicht des alten Herrn vertieften sich die Furchen. »Schauen Sie mich an! Da haben Sie ein Gegenstück. Ich heiße doch Ehrenreich.«
Vom Klang dieser Worte betroffen, wußte Walter nicht gleich eine Antwort. »Ehrenreich! Sie müssen doch so heißen! Ihr Name, der Name des Bürgermeisters, das sind Namen, die den Menschen und sein Leben nennen.«
»Beim Sonnweber stimmt es. Sein Leben ist wie ein Baum, der auf gesundem Boden steht, mit dem Gipfel in der Sonne. Aber mein Name?« Der alte Herr stellte die lange Pfeife in den Sofawinkel. »Was haben Sie sich denn gestern gedacht?«
»Gestern?«
»Wie Sie den besoffenen Kerl da schreien hörten: Gestohlen hat er! Was haben Sie da gedacht?«
»Nichts. Das Geschrei eines Betrunkenen ist keine Sache, über die man nachdenkt. Ich verstand nur nicht, daß Fräulein Mathild sich so erregen konnte.«
»Dem Mädel hat's weh getan, daß man ihr den Vater beschimpfte.«
»Den Vater?«
»Aber Doktor! Haben Sie sich denn nicht gefragt, wen der Mensch da gemeint hat mit seinem: Gestohlen hat er?«
»Nein.«
»Mich hat er gemeint.«
Da lachte Walter, als hätte ihm der alte Herr eine lustige Anekdote erzählt. Der Forstmeister atmete aus. »Für dieses Lachen bin ich Ihnen dankbar. Und doch müssen Sie die Sache ein bißchen ernster nehmen. Ja, Doktor, es gibt Leute, die glauben, daß ich gestohlen habe. Ich muß Ihnen das sagen: damit Sie wissen, was Sie von der Geschichte zu halten haben, wenn mir wieder einer solch ein liebliches Wort nachschreit. Mir oder meinen Kindern.«
»Nein, Herr Forstmeister!« Walter war ernst geworden. »Diese Geschichte brauch ich nicht zu wissen. Ich kenne Sie und Ihre Kinder. Da weiß ich, was ich zu denken habe. Der freundliche Zufall, der mich in Ihr Haus führte, hat mir viel gegeben. Er gab mir die erste Freude meines Lebens, gab mir Ruhe, Sonne, Schönheit, einen Weg zu frohem Schaffen, und Menschen, die ich ehre und liebe.«
Warme Röte glitt über das erregte Gesicht des alten Herrn. »Das ist ein Wort, mit dem ich zufrieden sein kann. Aber besser ist es doch, ich sag Ihnen alles. Jetzt red ich mich auch leicht.«
Da kam das Walperl in die Stube, um den Tisch zu räumen. Erst guckte sie verwundert drein, weil die beiden so schweigsam saßen. In dieser Stille hörte man das Rauschen des Regens. »Heut haben sie 's richtige Wetter, die Komödispieler! Da wird alls einirennen! Alls!« Dieses letzte Wort betonte sie mit Nachdruck, richtete auf den Forstmeister einen bettelnden Blick und seufzte: »Freilich, eins muß allweil daheim bleiben!« Sie ging mit der Platte zur Tür.
Der alte Herr hatte sich in das Sofa zurückgelehnt. Während er zur Wand hinaufblickte, an der das verblichene Bild mit dem Kränzl hing, begann er zu sprechen: »Ich war ein glücklicher Mensch. Das ist mir ins Herz gefallen, wie ein Stern vom Himmel fällt. Ein Glück, an dem ich kein Verdienst hatte. Was ich geworden bin, innerlich, das hat erst meine Frau aus mir gemacht. Als junger Kerl bin ich in meiner derben Gesundheit und in meinem halben Bauernschlag ein Lümmel gewesen, wie's tausend andere sind. Mein Vater war Förster. Für ihn hat's nur drei Dinge in der Welt gegeben: seinen Wald, seine Rehböcke und seinen Buben. Meine Mutter war eine geduldige Frau, die in Haus und Stall gearbeitet hat wie eine Magd. Vom Munde haben sich die beiden den Bissen abgespart, um mich studieren zu lassen. Und in Aschaffenburg auf der Forstschule hab ich meine Frau kennengelernt.«
Er blickte vor sich hin, mit Augen, die den Glanz der Jugend hatten.
»Auf einem Ball, den die Studenten der Forstschule gaben, fiel mir ein Mädel auf, weil sie einen blühenden Apfelzweig im Haar hatte. Wie ein wirklicher Zweig mit echten Blüten sah er aus. Und mußte doch falsch sein, jetzt im Februar! Als ich ihr vorgestellt wurde, war es mein erstes Wort: ›Meiner Seel. der Zweig ist echt!‹ Mit ihren hellen Augen sah sie mich an und lächelte: ›Sie sind der einzige, der das bemerkte!‹ Dann erzählte sie mir die Geschichte dieses Zweiges. Vor ihrem Stübchen, dicht bei den Fenstern, stand im Garten ihres Vaters ein Apfelbaum. Als man die Winterfenster anbrachte, wurde aus Versehen ein junger Trieb des Baumes in den Fensterrahmen eingeklemmt, daß er in die Stube hineinragte. Wie ein Wunder war's, daß der Zweig nicht abstarb. Mitten im Winter begann er in der Zimmerwärme zu blühen. Und jetzt, dieser Zweig in ihrem Haar, um ihre Stirne! Wie schön das war!«
Ein Weilchen saß der alte Herr ganz still.
»Als ich heimging in der kalten Nacht, fiel der Schnee über mich herunter, dick und weiß. Aber mit mir war das gleiche Wunder geschehen wie mit dem Apfelzweig. Und dann ihr Haus! Das einfachste, was Sie sich denken können. Aber wie eine Kirche für drei Gottheiten: Natur, Musik und Goethe! Da sind mir die Augen aufgegangen für alles, was groß und gut und schön ist am Leben. Und sie! In diesem Haus die warme Seele! Sie hatte die Mutter früh verloren, und der Vater hatte sie ganz zu einem Kind seines Geistes erzogen. Ein stiller und ernster Mann, vor dem mir immer ein bißchen angst war. Er hatte einen Blick, der durch Fleisch und Knochen ging.«
»Ein Arzt?« fragte Walter.
»Nein. An einer Würzburger Schule war er Professor der Naturwissenschaften. Durch einen Konflikt, in den er mit dem Religionslehrer geriet, wurde er aus der Schule hinausgedrückt. Da übersiedelte er nach Aschaffenburg und arbeitete für sich allein. Wieviel hab ich gelernt von ihm! Aber mehr noch von ihr. Ach, Doktor! Solch ein Abend! In dem kleinen Garten mit dem großen Apfelbaum! Und in dem altmodischen Stübchen mit der Lampe unter dem grünen Schirm! Und ihre Stimme! Wie warm und klug war alles, was sie sagte! Und wenn sie las! Und wenn sie spielte – am liebsten Bach und Beethoven! Das war immer Kirche, eine mit hellen Fenstern, durch die der Himmel hereinlacht. Nie ein Wort von Liebe. Immer von was anderem hatten wir zu schwatzen. Aber unsere Herzen! Die wußten alles. Und als ich mit der Forstschule durch war, bin ich zu ihrem Vater gegangen, ohne sie zu fragen, und hab um ihre Hand angehalten.«
Der alte Herr lachte ein wenig.
»Doktor, das war eine sonderbare Brautwerbung: im verdunkelten Laboratorium! An der schwarzen Wand ein leuchtendes Farbenband, das Spektrum eines elektrischen Funkens, der in einem Blechgehäuse ununterbrochen knatterte. Schweigend hörte ihr Vater mich an, während er mit einem Zirkel Messungen an dem Spektrum machte. Ihn selber sah ich nicht, nur immer den Schatten seines Kopfes in dem leuchtenden Farbenband. Dann gab er mir eine kurze Antwort: ›Mein Kind ist Ihnen gut, jetzt werden Sie was im Leben, dann kommen Sie wieder, adieu!‹ Ich hatte Mühe, ihm das noch abzubetteln: daß wir uns schreiben durften. Am andern Morgen, als ich im gelben Thurn und Taxis zum Stadttor hinausfuhr, erwartete sie mich in der Lindenallee am Main, sie und ihr Vater. Durch das kleine Fenster des Postwagens streckte sie mir die Hand herein. Sprechen konnten wir nicht. Dieser stumme Händedruck war ein Schwur, der ausgehalten hat durch ein ganzes Leben.«
Draußen wuchs das Rauschen des Regens.
»Sieben Jahr warten! Bei der Arbeit ist mir die Zeit doch wie im Flug vergangen. Jeder Monat hatte einen Feiertag: den Tag, an dem von Aschaffenburg der Brief kam. Diese Briefe, Doktor! Sie sind mir der Katechismus meines Lebens geworden. Alles, was wirbelte in mir, wurde klare Ruhe, wenn ich solch einen Brief in der Hand hatte. Und einer ist drunter – den sie mir damals schrieb, im schwarzen Jahr, als ich Vater und Mutter an der Cholera verlor – den muß ich Ihnen einmal zu lesen geben. Einen anderen, den sie mir zwei Jahre später schrieb, kann ich Ihnen auswendig hersagen: ›Lieber Hans! Vorgestern, ich weiß nicht wann, hat Papa die hellen Augen zugemacht. Ich schlief in jener Nacht so fest, daß mich das Mädgen‹ – sie schrieb immer ›Mädgen‹ und ›Städtgen‹ – ›daß mich das Mädgen am Morgen wecken mußte. Ein so schöner Tag war's! Dann wollte ich für Papa die Milch in sein Stübgen bringen, und da war sein Bett unberührt. Ich dachte mir, er hätte bei der Arbeit wieder einmal auf Tag und Nacht vergessen, und lief hinunter in das dunkle Zimmer. Die Batterie hämmerte, auf der Tafel war das Farbenband des Lichtes, und Papa saß im Lehnstuhl, mit still gewordenem Herzen. Als ich den Laden aufriß, und als die Helle hereinfiel, sah er aus wie ein Schlafender und hatte noch den Zirkel in der kalten Hand. Sein zeitliches Licht war erloschen, während er das ewige messen wollte. Alles andere, was ich verschweige, mußt Du Dir denken. Heute haben wir ihn zur Ruhe gebracht, und so viel Sonne schien, daß es ganz hell war da drunten. Hänsgen, jetzt bin ich allein und gehöre nur noch Dir! Jetzt nimm mich in aller Liebe Namen! Auch wenn wir hungern müssen. Schreib nur, wann ich kommen soll! Was ich habe, mach ich zu Geld. Die Fuhrlöhne sind so hoch, und auf dem weiten Weg bis zu Dir würden die lieben, alten Sächelgen zerbrechen. Wann soll ich kommen, Hänsgen?‹«
Er schwieg und blickte wieder zur Wand hinauf, an der das Bild im Schatten des immergrünen Schmuckes hing: eine Daguerreotypie, unter dem Schimmer der Silberplatte kaum noch erkenntlich.
»Dann kam sie. Und das Hänsgen ist ein Hans im Glück geworden. Das bißchen, das wir hatten von Vater und Mutter her, ist draufgegangen für unser Nest. Mit einem Einkommen von sechshundert Gulden alter Münz haben wir angefangen. Wie reich sind wir gewesen! Unser Leben, Doktor, das war – draußen auf dem Meer, wenn Sturm ist, gießen die Schiffer Öl ins Wasser, und um das Schiff her bildet sich eine ruhige See, die gegen allen Zorn der Wellen gesichert ist wie durch ein Wunder. Das ist wohl nur ein Schiffermärchen. Für uns ist es Wahrheit gewesen. So sicher, so ruhig und schön war's immer um unser Haus her, um unser Leben!«
Seine Stimme wurde so leis, als spräche er für sich selbst.
»Dieses Wunder hat meine Frau gewirkt. Und wo sie einen Schritt über den Kreis unseres eigenen Lebens hinaussetzte, überall ist's hell geworden. Wieviel Gutes hat sie an den Leuten getan! Was nur immer lebte, Mensch, Tier, Blume, das war ihr alles ein einziges. Wie sie die Natur erfaßte und fühlte! Eine Knospe, ein Blatt, eine Mücke, ein Sonnenstrahl, ein Regentropfen, alles für sie ein tiefes, herrliches Geheimnis, ewig verschleiert und dennoch klar! ›Ach, Hänsgen, wie schön!‹ Das war ihr Wort am Morgen, ihr Wort am Abend. Und vom ersten Licht bis zum letzten unermüdlich, immer bei der Arbeit in Haus und Garten. Dennoch hatte sie immer Zeit für eine Freude, für gute Musik, für ein wertvolles Buch. Und ihr Gott! Was sie sich dachte unter Gott, das hab ich eigentlich nie von ihr erfahren. Das war in ihrer Seele, wie die Keuschheit einer Frau ist, die sich niemals ganz enthüllt, auch nicht in der schenkenden Stunde ihrer zärtlichsten Liebe. Gott? Das war für sie das Unfaßbare, das über allem ist und in allem. Religiösen Formelkram, das gab's nicht für sie. Und doch war sie fromm und gläubig, war überzeugt von einem wirkenden Zusammenhang zwischen Gott und Leben. Wenn sie am Abend im Garten saß, mit den abgearbeiteten Händen im Schoß, und so still hinaufschaute zum Hohen Schein in seiner Glut, dann hab ich immer gewußt: sie betet. Das ist wie ein eiserner Glaube in ihr gewesen: alles Gute an unserem Leben hat sie von Gott erbetet, und jeden Kummer, der uns nahekam, hat sie durch ihr Gebet erträglich gemacht. Durch diesen Glauben hat sie auch mich beten gelehrt. Zu ihrem guten, schönen Gott des Lebens.«
Verstummend legte der alte Herr in seinem Schoß die verkrüppelten Hände ineinander.
»Und wie sie als Frau war! Das ist ein Heiliges. Das bleibt in mir. Aber die Mutter, die sie war! Nein. Auch das kann ich Ihnen nicht sagen. Dafür gibt es kein Wort: was sie den Kindern war, was sie ihnen gab. Freilich, am Bertl sehen Sie das nur noch halb. Der wurde ihr mit zwölf Jahren aus den Händen genommen, weil er in die Stadt mußte. Da hat man ihm vom Herbst bis zum Sommer aus Natur und Herz immer wieder herausgekratzt, was ihm die Mutter in den paar Wochen, die er daheim war, hineinlegen konnte. Die fidele Verwilderung, die er immer heimbrachte, war in unserem ruhigen Leben die erste Sorge, für meine Frau ein Kummer, der mitgeholfen hat, um sie krank zu machen. Dazu kam noch diese Dummheit mit mir. An einem groben Wettertag hab ich mir im Wald eine Erkältung zugezogen. Ich konnte mich nicht schonen, wir hatten schwere Windbrüche in meinem Revier, aber schließlich machte mir die Natur einen Strich durch die Arbeit. Ein halbes Jahr lang bin ich am Gelenkrheumatismus gelegen. Die Pflege meiner Frau hat mich herausgerissen. Mich schweren Menschen hat sie wie ein Kind gehoben und gebettet. Als ich endlich aufstehen konnte. hatten Sorge und Überanstrengung meiner Frau den Tod ins Blut gesetzt.«
Er klammerte die Hände um Walters Arm.
»Doktor! Sie, ein Philosoph! Jetzt sagen Sie mir: Der Tod? Was ist das? Sterben? Was heißt das? Gelt, da bleiben Sie still? Ich weiß, was das ist. Meine Frau hat mir's gesagt. In ihrer letzten Stunde, als schon der kalte Schweiß der erschöpften Natur auf ihrer lieben Stirne glitzerte, nahm sie meine Hand und sagte mit ihrem frohen Lächeln: ›Hänsgen, morgen wird's ein warmer Tag, da müssen die Reseden und Levkojen gesät werden. Dann haben wir Blumen, wenn Pfingsten kommt!‹ Und sie wußte doch, daß sie sterben würde. So lang sie noch aufsein konnte, hatte sie schon alles geordnet, bis ins kleinste Schächtelchen. Und am anderen Morgen, Doktor, als ihre Augen geschlossen und ihre Hände erkaltet waren, hat eine liebe Stimme zu mir gesagt: ›Hänsgen, heut müssen die Reseden und Levkojen gesät werden!‹ Ich hab's getan und hab ihr Wort verstanden. Wie konnte sie gestorben sein, da sie weiterredete in mir? Tod, Sterben? Das sind so Ausdrücke für Menschen, die nie ein Glück erfuhren. In der Liebe lebt alles weiter. Für die Liebe ist alles nur ein einziges, der Tod nur eine andere Form des Lebens, die Nacht nur ein anderer Tag, der Schmerz nur eine gewandelte Freude. Seit ich das am Totenbett meiner Frau begriffen habe, ist es so in mir geworden, daß ich mit allem Leiden fertig werde, wie andere ihre Gesundheit tragen, und daß ich als Krüppel das Leben noch immer lieb habe und seinen schönen Gott in Ehrfurcht verehre.«
Draußen hatte das Rauschen des Regens nachgelassen, und beim Fenster, über Mathilds Nähtisch, begann das Rotkehlchen leise zu zwitschern.
»Aber damals, als mich zum erstenmal die Angst befiel: sie ist krank – da hat's mir einen Stoß gegeben, daß ich glaubte, ich muß ein Narr werden. Lange merkten wir nichts. Sie war froher und glücklicher als sonst. Weil ich gesund geworden. Dann begann dieses rapide Abmagern, und ihr liebes Gesicht wurde völlig ein anderes. Der Doktor sagte: sie kann sich noch jahrelang erhalten, aber jeden Sommer muß sie nach Karlsbad. Gott sei Lob und Dank, das konnten wir leisten. Seit ich Forstmeister geworden, hatten wir was zurückgelegt, so an die dreitausend Mark. Das war jetzt das Leben meiner Frau. Heiliges Geld, Doktor! Im Mai sollte sie zum erstenmal hinreisen, weil's im Vorsommer billiger ist. Da war's ein paar Wochen nach Ostern. Am Morgen war der Bub wieder fort in die Stadt. Und wie ich am Abend in meiner Kanzlei sitze, bringt mir der Postbot einen Geldbrief vom Rentamt, viertausend Mark für die Holzerlöhne und die Wegbauten. Grad will ich den Eingang buchen, da kommt die Magd gelaufen: ›Jesus, Herr, dem Frauerl ist übel worden!‹ Ich spring hinüber in die Stub, und da liegt sie auf dem Boden, und die kleine Geiß kniet schon bei ihr, das Gesicht weiß wie die Mauer, und hält den Kopf der Mutter an ihrem Herzen.«
Der alte Herr drückte die grünen Fäustlinge auf die Brust.
»Eine Ohnmacht war's. Wie wir sie im Bett hatten, ist's bald wieder besser geworden. Den ganzen Abend bin ich bei ihr geblieben. Erst mitten in der Nacht ist mir das Geld wieder eingefallen. Ich lauf hinunter in die Kanzlei. Das Geld war verschwunden, weg, wie verhext. Ein Diebstahl? Das wär uns im Traum nicht eingefallen. Ich hab nur immer gedacht: du hast das Geld in der Hand gehabt und im ersten Schreck weiß Gott wohin geworfen. Die ganze Nacht hab ich gesucht, das ganze Haus umgedreht. Alles umsonst. Auf das Gerede hin, das unsere Magd ins Dorf trug, steckte die Gendarmerie ihre Nase in die Sache. Da gab's den ersten Jammer. Unserem Dienstmädel, für dessen Unschuld ich mich verbürgte wie für meine eigene, wurde der Koffer gestürzt. Das arme Ding, dem man Unrecht getan hatte, lief uns mit Heulen und Schelten aus dem Haus. Dann ging's über mich her. Von der Regierung kam so eine aufgeblasene Bürokröte. Disziplinaruntersuchung! Ein Wort, das Zähne hat wie eine Viper. Den Vorwurf der Unvorsichtigkeit mußte ich mir machen lassen. Aber an meine Ehre ließ ich nicht rühren, auch nicht mit einem unausgesprochenen Gedanken. Es hat heftige Worte zwischen mir und dem Herrn Forstrat abgesetzt. In der Erregung verlor ich den Kopf. Nur meine Frau behielt ihn oben, scharrte alles zusammen, was wir hatten, stülpte die Sparkassen der Kinder um, und marsch, fort mit dem Krempel aufs Rentamt. Dann nahm sie mich um den Hals: ›Jetzt muß ich nimmer reisen, Hänsgen, jetzt darf ich bei dir bleiben!‹ Das hat sie lachend gesagt. Und es war doch ihr Tod.« Ganz ruhig sprach er. Seine Augen lagen tief eingesunken unter den buschigen Brauen. »Na ja, und wie der Schaden gutgemacht war, schickten sie mich in Pension.«
»Nein!« fuhr Walter auf.
»Ja, Doktor! Nicht weil sie mich im Verdacht hatten, ich könnte gestohlen haben. Nur weil ich mich disziplinwidrig benommen hatte. Ein grobes Wort, das mir die Erregung herausgetrieben, hatte alle Treue meines Dienstes ausgelöscht, meine Arbeit durch sechsundzwanzig Jahre. Im Dorfe wurde meine Pensionierung anders gedeutet. Staatliche Autorität! Aaaah! So was wirkt auf die Bauern. Wenn nicht was dran wäre, hieß es, hätte man ihn nicht vor die Tür gesetzt. So fing das Gezischel an. Die Leute wichen mir aus. Wenn ich einen stellte, sagte er mir was anderes ins Gesicht, als was er sich dachte. Außer dem Pfarrer hat damals nur noch ein einziger in Vertrauen zu mir gehalten.«
»Sonnweber?«
»Der, ja! Bei meinem Auszug aus dem Forsthaus half er mir suchen. Ich konnte noch immer nicht an einen Diebstahl glauben. Das Geld fanden wir nicht. Aber auf dem Fensterbrett in meiner Kanzlei entdeckte Sonnweber den kaum merklichen Abdruck eines genagelten Schuhes. Ob das Fenster an jenem Abend offen stand oder geschlossen war, das wußte ich nimmer. Ein paar Tage früher war das Brett mit frischer Ölfarbe gestrichen worden. Es muß so gewesen sein, wie Sonnweber sich die Sache zusammenreimt: während mich die Sorge bei meiner Frau festhielt, kommt einer ins Haus, in die Kanzlei, sieht das Geld, die Versuchung überfällt ihn, er macht einen Griff, und dann mit einem Sprung zum Fenster hinaus! Aber wer, Doktor? Wer? Tausendmal hab ich diese Frage schon in sieben Jahren geschrien! Als damals der Sonnweber das fand, wollte ich die Untersuchung wieder in Gang bringen. Die Gendarmerie zog nicht mehr. Ich war pensioniert. Fertig!«
Der alte Herr schwieg eine Weile.
»Wie es aussah in mir? Na, lassen wir's gut sein! Ich blieb im Dorf, weil ich für einen weiten Umzug die Mittel nicht gehabt hätte, und weil mich eine Hoffnung festhielt. Den Kerl, der mir das getan hat, den muß ich noch finden! Seit sieben Jahren hilft mir der Sonnweber suchen. Der hat es auch fertiggebracht, daß mir der Scheidhofer die Villa überließ, die er aus Spekulation auf den Geldbeutel der Fremden gebaut hatte. Nun hatten wir wieder eine kleine Welt für uns, auf deren Boden wir zur Ruhe kamen. Innerlich. Denn gearbeitet haben wir wie die Taglöhner, meine Frau, die kleine Geiß und ich, um Blumen zu haben und im Garten was in die Höh zu bringen. Und meine Frau, Doktor, das ist wie ein Wunder gewesen. Als wär sie über Nacht gesund geworden! Immer froh und zufrieden! Ich hab schon geglaubt: da hat die Natur durch eine tiefe Gemütserregung geheilt, was eine Sorge zerstörte. Meiner Seel, ich begann den Lumpen zu segnen, der mit genagelten Schuhen in den Garten meines Lebens gesprungen war. Und plötzlich brach sie zusammen. Im Märchen heißt es: einer ist tief im Berg gewesen, in den goldenen Sälen, kommt heraus, ein ganzes Leben ist vergangen, und da zerfällt er in Asche. So fiel sie weg. Am Nachmittag war sie noch mit der kleinen Geiß beim Weiher.«
»Als sie den Gesang der Geister lasen?« stammelte Walter. »Und Künstlers Abendlied?«
»Damals, ja! Und dann haben die zwei noch miteinander musiziert. Als das Mädel schon im Bett war, hat mir meine Frau das Präludium in Des-Dur von Chopin gespielt. Da ist in der Harmonie eine Unternote, die ruhelos anschlägt wie eine schwingende Glocke, und immer das gleiche läutet: sterben muß ich, sterben, sterben, sterben. Über diesen eintönigen Klang der Trauer hebt sich fein und lieblich eine singende Stimme hinaus. Das ist unter allem, was Klang geworden, das Schönste! Und wie sie das spielte, Doktor! Jede Saite eine tönende Faser ihres Herzens! – Am andern Morgen konnte sie nimmer aufstehen. Das Ende war da.«
Zwei Tropfen rollten über den grauen Bart.
»Nein! Ich darf nicht klagen. Mir ist das Leben so schön gewesen, daß Tausende ungläubig sagen würden: so kann das Leben nicht sein! Ich habe viel verloren. Und doch besitze ich noch alles! – Mit der kleinen Geiß hab ich harte Tage durchgemacht, bis sie begreifen lernte, daß der Tod nur ein anderes Leben ist. Dann kam noch der dumme Rückfall meiner Krankheit. Das Gehen hab ich bald wieder gelernt. Und meinem Mädel kann ich mit der Hand noch immer übers Haar streichen. Die spürt das, als hätt ich grade Finger. Und für Leute, die was Krummgewordenes nicht gerne sehen, steck ich meine windschiefen Pfoten in die grünen Fäustlinge.«
Wortlos faßte Walter von diesen Fäustlingen einen und drückte die Lippen darauf wie ein Sohn, der in Ehrfurcht und Liebe die Hand des Vaters küßt. Da hörte man Lärm in der Veranda, die Tür wurde aufgerissen, und Bertl, mit seinem Buben auf dem Arm, kam wie ein Sturm ins Zimmer gefahren, hinter ihm Frau Rosl und das Nannerl, alle drei in einem Aufruhr, daß der alte Herr erschrocken fragte: »Was ist denn?«
»Vater! Den Buben nimm! Und bussel ihn ab, bis er schreit! Heut hätt's bald sein können, daß du den lieben Kerl lebendig nimmer gesehen hättest.«
»Jesus!« Der alte Herr machte eine Bewegung hinter dem Tisch, als möchte er aufspringen. Er fiel mit seinem lahmen Gestell wieder auf das Sofa zurück, und der Tisch wackelte unter dem Stoß, den er dabei bekommen hatte. »Um Gottes willen, was ist denn geschehen?« Der Forstmeister riß das kleine vergnügte Bürschl an seine Brust.
Während das Nannerl neben der Tür stehenblieb, begannen Bertl und Frau Rosl in erregtem Durcheinander zu erzählen. Der Bub war dem Mädel ausgerissen und in den Regen hinausgelaufen. Als ihn das Nannerl einfangen wollte, lief das Bürschl über den Hof davon, gegen die Sägmühle hinüber, zum Vater. Auf den nassen Brettern des Steges rutschte das zapplige Kerlchen aus und machte durch eine Lücke des Geländers einen Purzelbaum in den reißenden Mühlbach. Da war auch schon das Nannerl mit gellendem Schrei am Ufer, sprang ins Wasser, erwischte glücklich das Fritzele, konnte aber nicht Fuß fassen und wurde vom Bach eine Strecke fortgerissen. An den Zweigen einer Weide fand sie einen Halt, und da zappelten die beiden in dem kalten Bad, bis Bertl und die Mühlknechte gelaufen kamen, um das triefende Pärchen aus dem Wasser zu ziehen. Die Geschichte war mit Lachen ausgegangen, aber sie hätte mit Weinen enden können. Der lustige Sägmüller hatte den Schreck schon übertaucht. Frau Rosl war noch immer ein bißchen blaß und bekreuzte sich ein ums andre Mal, während sie erzählte. Dabei pappelte Bubi immer drein und kämmte mit seinen Fingerchen den grauen Bart des Großvaters.
»Komm her, Nannerl! Laß dir danken!« sagte der alte Herr. »Das Leben soll dir's am eigenen Glück vergelten, was du für das Kind getan hast!« Und Bertl nahm lachend den feinen Kopf des Mädels zwischen die Hände: »Von heut an bist du unser Kind, gradso wie der Bubi!« Nannerl brachte kein Wort heraus. Ihr schmales Gesicht brannte in Glut, und in ihren großen verträumten Augen leuchtete ein Glanz, als wäre ihr Leben mit diesem Tag zu einer wundervollen Sache geworden.
Jetzt ging das Erzählen wieder an: wie Bubi trocken gelegt, äußerlich frottiert, innerlich mit Kamillentee behandelt wurde. Im Verlaufe dieser Ergänzung begann die Geschichte sich zu einer gloriosen Mythe von Bubis Unerschrockenheit aufzuwachsen. Fritzele mußte jeden Geistesblitz wieder aufbrennen lassen, mit dem es beim heißen Kamillentee den Schreck der Eltern beschwichtigt hatte.
»Sag schön, Fritzele: was hast du dir gedacht, wie du ins Wasser gepurzelt bist?«
»Da hab ich mir denkt: so, schön, jetzt krieg ich Wichs'.«
Das lustige Schwatzen ging von neuem los, bis Frau Rosl ihren Sägmüller mahnte, daß es Zeit ins Theater wäre. »Theater?« Der alte Herr machte verwunderte Augen. »Heut sollten wir still beisammenbleiben.« Dem Nannerl flog's wie Schreck über das träumende Gesicht. Auch Bertl schien anderer Meinung zu sein als der Vater, doch er sagte gutmütig: »No ja, bleiben wir halt daheim.« Da legte sich Frau Rosl ins Mittel: »Geh, Vater, laß ihn doch! So viel gfreut hat er sich auf die Komödi! Und heut hat er sich so viel aufregen müssen, da tut's ihm gut, wenn er sich ein bißl zerstreut.« Sie streckte sich an ihrem Sägmüller hinauf. »Geh nur, Bertele! Und lach! Ich bleib mit dem Bubi beim Vater da.«
»Rosl, Rosl«, sagte der alte Herr, »du verziehst deinen Mann noch mehr wie deinen Buben!«
»Ein bissel Vergnügen muß er doch haben. Den ganzen Tag steht er in der Sägmühl. Und dem Nannerl hab ich heut eine Freud versprochen und hab ihr mein Billett geschenkt. Und 's Thildele weiß doch auch nix und wartet im Pfarrhof.«
Walter sprang auf. »Ich könnte das Fräulein heimholen!« Dem Eifer, mit dem er sich zu diesem Dienst erbot, war es anzumerken, daß er auf die Kunst der merkwürdigen Brüder und Schwestern gerne verzichtet hätte. Aber die Tränen der Enttäuschung, die dem Nannerl in den Augen standen, entschieden die Sache. Das tapfere Mädel sollte nicht um die versprochene Freude kommen.
Ein paar Minuten später wanderten Bertl, Walter und Nannerl unter den aufgespannten Schirmen die Straße hinunter. Bevor sie die ersten Häuser des Dorfes erreichten, kam ihnen das Walperl nachgelaufen, brennend vor Freude. Das Mädel hatte, als Frau Rosl in die Küche kam, einen brunnentiefen Seufzer getan: »Heut kann er lachen, der Bonifaz!« Sofort begriff die Sägmüllerin den Zusammenhang zwischen dem lachenden Fazifanzerl und der seufzenden Walpurga, gab dem Mädel freien Abend und schenkte ihr noch die »funfzig Fenniche« für den zweiten Platz. Walperl erzählte das mit einer Begeisterung, die kein Ende fand. Dabei ging das Nannerl mit verträumtem Schweigen neben dem plauderlustigen Mädel her. In der Nähe des Wirtshauses, als ihnen Leute begegneten, sagte Nannerl in ratlosem Staunen: »Da kommen ja Leut vom Wirtshaus her!« Sie begriff nicht, daß es Menschen geben konnte, die in dieser Stunde einen anderen Weg hatten als dorthin, wo das Theater war. So märchenherrlich stand vor ihrem Herzen die Freude, der sie entgegenging.
Der Regen war schwächer geworden. Durch die trüb um die Landschaft hängenden Schleier irrte ein leuchtender Schein, als hätten sich irgendwo die Wolken geklüftet, um einem Feuergruß der niedergehenden Sonne den Weg zu öffnen.
Im Hof des Wirtshauses standen Leute umher, die Mädchen unter ihren Schirmen, die Burschen in den braunen Wettermänteln. Theaterlustige kamen schwatzend von überall herbei. Die kleine Gesellschaft auf dem Scheidhof mußte noch zum Pfarrhaus wandern, um Mathild abzuholen. Als sie an Innerebners kleinem Haus vorüberkamen, sagte der lustige Sägmüller: »Jesses! Der is auf! Grad is er am Fenster gwesen. Ich wett, daß er kommt!« Bertl lachte im Vorgefühl der lustigen »Hetz«, die es da geben würde.
Noch hatten sie den Zaun des Pfarrhofes nicht erreicht, da kam ihnen Mathild durch den Garten entgegen. Den Gruß des Bruders schien sie nicht zu hören. Sie sah nur Walter, und eine Erregung durchzitterte sie, die ihren sonst so ruhigen Zügen etwas Fremdes gab. Bei der frohen Herzlichkeit, mit der ihr Walter die Hand reichte, schien diese Erregung wie durch ein Zauberwort beschwichtigt. Sie wollte sprechen. Da ging ein brennendes Wunder durch die Lüfte. Wie sich ein Vorhang teilt, so hatte sich gegen Westen das treibende Gewölk auseinander gerissen. Die niedergehende Sonne warf ihren Feuerglanz in den verfliegenden Regen und verwandelte den Fall der Tropfen in ein Geriesel funkelnder Goldkörner. Durch die Strähne dieses Goldregens sah man, wie durch ein aus blitzenden Fäden gewobenes Netz, den blauen Himmel und zwischen langen, von brennenden Säumen umzackten Wolkenstreifen die strahlende Sonnenscheibe, die versinken wollte. Dieses Bild der Lüfte war eingeschlossen vom Rahmen der stahlblauen Berge mit den Feuerlinien ihrer Grate und von den Wogen der Wälder mit ihren schwarzen Tiefen unter den glühenden Wipfeln. »Herrgott«, stammelte Bertl, »wie schön ist das!« Walter und Mathild schwiegen, noch immer Hand in Hand; das Walperl in einer Regung von Aberglauben fing zu beten an, und Nannerl zitterte wie ein Kind, vor dessen träumenden Augen sich die nüchterne Erde in das Paradies verwandelte.
Über den fünf Menschen endete der goldene Tropfenfall. Als wäre unsichtbar über dem verziehenden Gewölk ein Fischer, der sein goldgewobenes Netz zwischen den Bergen durch das Tal hinschleppte, so zog sich der funkelnde Regen langsam gegen den Hohen Schein hinaus, um den noch die grauen Nebel wogten. Während der Himmel von Westen her immer freier wurde, spannte sich durch den glitzernden Tropfenschleier ein Regenbogen, dessen Farben von Sekunde zu Sekunde kräftiger und tiefer wurden. Ein zweiter Bogen, nur wenig blässer, baute sich über den ersten, und darüber erschien noch ein dritter, matt in den Farben, kaum noch erkenntlich. Das war ein Anblick, so wundersam, daß die fünf Menschen nur schauen konnten, nicht reden. Bertl sprach das erste Wort. Als er beim Wirtshaus in den Garten trat, deutete er nach dem Himmel, dessen zauberhaftes Farbenspiel erblaßte: »Unser Langentaler Theater hat ein Portal, das sich sehen lassen kann!«
Erst auf der Treppe, die zum »Theatersaal« hinaufführte, merkte Mathild, daß Frau Rosl fehlte. Als sie hörte, was sich am Nachmittag in der Sägmühle abgespielt hatte, erschrak sie und wollte heim. Bertl schob sie mit Lachen die Treppe hinauf. »Ist ja doch alles gut abgelaufen!« In dem engen Gang, auf den die Treppe mündete, war kaum ein Durchkommen. So dichtgedrängt standen die Theaterlustigen um das Tischl her, an dem der Rote Hirschenwirt die Kasse führte. Walperl wußte sich durchzuschmiegen wie ein Kätzl, das durch jede Hecke seinen Weg findet. Sie nahm nicht den zweiten Platz für die »funfzig Fenniche«, die ihr Frau Rosl geschenkt hatte, sondern den dritten für zwanzig. Sie wußte: der Bonifaz ist ein Sparmeister, der es billig macht. Und richtig sah sie, als sie in den Saal stürmte, den Fazifanzerl auf der letzten Bank sitzen, ganz an der Ecke. Ein paar Plätze waren da noch frei. Walperl stieg rückwärts über die Bank. »So? Bist auch da?«
»Ja. So ebbes mag ich.«
Damit sich der Bonifaz »nichts denken« sollte, hatte Walperl ehrbar zwischen sich und ihm zwei Platzbreiten frei gelassen. Da kam die Schrottenbacher-Vev zur Tür herein. Und hurtig rückte Walperl dicht an die Seite des Fazifanzerl. Hochmütig hob die Vev das spitzige Näsl: »Brauchst net rucken! Ich hab an ersten Platz!« Sie reichte dem Bonifaz die Hand. »Der Vater hat sich auch an ersten kauft. Aber z'viel gregnet hat's ihm, da is er daheim blieben. Jetzt hab ich zwei Buletten. Magst net fürisitzen zu mir?«
»Na. Ich sitz ganz gut da!« sagte Bonifazius Venantius mit Gemütsruhe. »Meine Augen sehen besser, wie weiter als ich davon bin.«
Walperl, dankbar für die süße Schadenfreude, die sie da zu kosten bekommen, rückte noch enger an den Bonifaz heran und kicherte: »Dö spinnt a feins Faderl! Und auf'n Vatern tät sie sich ausreden!«
Streng sagte Bonifaz: »Tu net spötteln! Sie kann auch d' Wahrheit gredt haben.«
Inzwischen hatte die Vev, um den schönen Platz nicht verfallen zu lassen, gnädig einer Freundin gewunken und war mit der beglückten Kameradin zur ersten Reihe gegangen. Da saß der lustige Sägmüller an der Ecke, Walter neben ihm, dann Mathild und das Nannerl, das mit großen Augen den roten Vorhang anstarrte und kein Ohr hatte für den schwatzenden Lärm, der den Saal erfüllte. Ein Saal? Eigentlich war's nur ein Dachboden, in dem bei Kirchweihfesten und Hochzeiten die Tanzmusik aufzuspielen pflegte. Vier Petroleumlampen und einige Stallaternen hellten nur spärlich die Schatten des Sparrenwerkes auf und warfen rötliche Lichter über die hundert ruhelosen Gesichter der dichtgedrängten Zuschauer. Mit jeder Minute wuchs der heitere Lärm, Scherzworte flogen hin und her, nicht immer die feinsten, und alle Äußerlichkeiten der Bühne, besonders die Goldfransen des Vorhanges, wurden einer spöttischen Kritik unterzogen.
Wie eine fremde Welt, die in die Irre geraten, stand diese kleine Bühne im Duster des mächtigen Dachbodens: ein zierlich gemaltes Barockportal, rings mit roten Fahnentüchern ausgeschlagen, um die Breite des Raumes zu füllen. Neben der Muschel des Souffleurkastens war auf jeder Seite eine Reihe Lampen angebracht, die, gegen die Zuschauer durch Blechschirme verdeckt, ihr grelles Licht über die Goldfransen des Vorhanges hinaufwarfen. Manchmal bewegte sich das rote Tuch, und zwischen den Goldfransen guckte ein zierliches Füßchen heraus, in fleischfarbenem Trikot und mit griechischen Sandalen. Als dieses Füßchen wieder einmal erschien, machte der lustige Sägmüller einen flinken Sprung auf Podium und kitzelte. Hinter dem Vorhang ein leiser Schrei, im Saal ein lautes Gelächter. Und Bertl beantwortete den unmutigen Blick seiner Schwester mit der heiteren Meinung: »Ein bißl Spaß muß sein auf der Welt! Sonst wird's langweilig!« Da lachte auch Mathild mit. Walter saß ernst und schweigsam an ihrer Seite. Vor seinen Augen stand noch das herrliche Schauspiel der Natur, das ihm der Abend gezeigt hatte. Nachträumend genoß er diese leuchtende Schönheit. Am liebsten wäre er aufgesprungen und ins Freie gerannt, um da draußen zu suchen und zu finden – er wußte nicht, was! Etwas empfänglich Dürstendes war in ihm, in seiner Seele, in seinen Sinnen. Dann schoß ihm wieder eins von den Worten durch den Kopf, die er am Nachmittag in der Villa gehört hatte. »Morgen müssen die Reseden und Levkojen gesät werden! Dann haben wir Blumen, wenn Pfingsten kommt.«
Wie deutlich er das hörte! Von einer Stimme, die ganz der Stimme Mathilds glich. Mit prüfendem Blick betrachtete er ihre feinen, ruhigen Züge, während sie lächelnd über die vergnügten Gesichter der lärmenden Theatergäste hinblickte. »Solch ein blühender Apfelzweig in ihrem Haar? Wie schön das aussehen müßte!« Das war kein Gedanke, den er dachte, es war in ihm wie etwas Wirkliches, froh in seinem Herzen, heiß in seinem Blut.
Da wandte Mathild das Gesicht, ihr Blick begegnete dem seinen, und was sie in diesen glänzenden Augen las, trieb ihr das Blut in die Wangen.
Hinter der Bühne dröhnte ein Klavierakkord, der sich auflöste in eine flutende Tonwoge. Walter lauschte. Und Mathild machte verwunderte Augen: sie hätte hier alles andere eher zu hören erwartet als das Vorspiel zu Wagners Rheingold. Auch die Bauern horchten auf. Das war keine Musik für das ländlergewohnte Ohr der Langentaler »Krautsköpfe«. Laut begannen sie wieder zu schwatzen, und ganz hinten auf einer Ecke klang die Baßstimme eines Holzknechtes: »Der probiert 's Klafümferl aber lang. Jetzt kunnt er schon amal anfangen mit der Musi!«
Die flutenden Töne schwiegen. Man hörte ein Glockenzeichen, und rauschend teilte sich der Vorhang.