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Neunzehntes Kapitel

Schon hundertmal während der Tage ihrer Abwesenheit war Lennan im Begriff gewesen, gegen ihren Wunsch hinzukommen, nur um an dem Haus vorbeizugehen, nur um in ihrer Nähe zu sein, sie vielleicht von weitem einen Augenblick zu sehen. Wenn auch sein Körper in London umherschlich, so hatte doch sein Geist an jenem Fluß geweilt, von dem er sich schon einmal hatte treiben lassen, um Ausschau zu halten. Schon hundertmal – bei Tag in der Phantasie, bei Nacht im Traume – war er, sich an den Ästen weiterziehend, in jenes düstere Stauwasser heimlich hineingeglitten, bis die dunklen Eiben und das weiße Taubenhaus sichtbar wurden.

Denn jetzt dachte er an die Erfüllung. Sie zehrte sich auf an Leib und Seele! Warum sollte er sie lassen, wo sie war? Sie und in ihr alle Frauen in den Armen eines Mannes schänden lassen, den sie haßte?

Und an jenem Tag Mitte Juni, als er ihr Telegramm erhielt, war ihm, als hätte man ihm den Schlüssel zum Paradiese ausgehändigt.

Wollte sie, konnte sie beabsichtigen, noch in derselben Nacht mit ihm fortzugehen? Jedenfalls würde er Vorbereitungen dazu treffen. Er hatte im Geist so oft dieser Krise seines Lebens gegenübergestanden, daß jetzt nur in die Tat umzusetzen war, was er bereits aufs sorgfältigste erwogen hatte. Er packte, versah sich reichlich mit Geld und schrieb einen langen Brief an seinen Vormund. Es würde dem alten Mann weh tun – Gordy war jetzt über siebzig –, aber das war nun einmal nicht abzuändern. Er wollte den Brief nicht eher aufgeben, als bis er sich vergewissert hatte.

Nachdem er geschrieben, wie alles gekommen, fuhr er folgendermaßen fort: ›Ich weiß, daß viele, auch Du, Gordy, es für ein großes Unrecht halten werden, aber ich empfinde es anders – das ist die lautere Wahrheit. Über derlei Dinge hat wahrscheinlich ein jeder seine eigenen Ansichten; und da ich selbst – bei meiner Ehre, Gordy – niemals eine Frau, die mich nicht liebt, in der Ehe oder außerhalb der Ehe festgehalten hätte, festzuhalten wünschte oder je festhalten würde, so erscheint es mir nicht als eine Handlungsweise, die ich andern mir gegenüber verargen würde, wenn ich diese Dame, für die ich jeden Augenblick zu sterben bereit bin, jetzt ihrem Elend entreiße. Damit möchte ich nun keineswegs sagen, daß hier Mitleid irgendwie im Spiele war anfangs habe ich das geglaubt, doch weiß ich, daß es ganz aufgegangen ist in dem seligsten Gefühl, das ich je erfahren habe und je erfahren werde. Ich fürchte mich nicht im geringsten vor meinem Gewissen. Wenn Gott die allumfassende Wahrheit ist, dann kann er nicht ungnädig auf uns herabblicken, wenn wir uns selbst treu bleiben. Und was die Leute anbetrifft, so werden wir ihnen ruhig ins Gesicht sehen; meiner Ansicht nach bewerten sie einen gewöhnlich nach unserer eignen Schätzung. Wie dem auch sei, an der Gesellschaft liegt uns wenig. Wir werden die nicht brauchen, die uns nicht brauchen – darauf kannst Du Dich verlassen. Hoffentlich läßt er sich rasch von ihr scheiden außer Dir und Cis wird sich kaum jemand darüber kränken –, wenn er sich aber weigert, so kann man auch nichts dagegen tun. Ich glaube nicht, daß sie Geld hat, aber mit meinen sechshundert Pfund per Jahr und dem, was ich verdiene, werden wir recht gut auskommen, selbst wenn wir im Ausland leben müssen. Du bist immer furchtbar gut zu mir gewesen, Gordy, und es schmerzt mich sehr, Dir weh zu tun, und noch mehr, wenn Du mich für undankbar hältst; doch wer so fühlt wie ich, an Leib und Seele und Geist, dem bleibt keine andere Wahl, nicht einmal dann, wenn selbst der Tod im Wege stünde. Wenn Du dies erhältst, sind wir schon zusammen fort; ich werde Dir schreiben, wo immer wir auch unser Zelt aufschlagen, und natürlich werde ich auch an Cicely schreiben. Doch benachrichtige Du, bitte, Mrs. Doone und Sylvia und richte ihnen herzliche Grüße von mir aus, wenn ihnen noch daran gelegen ist. Und nun leb wohl, mein lieber Gordy! Ich glaube, Du hättest ebenso gehandelt, wenn Du an meiner Stelle gewesen wärest. Stets Dein Dich liebender Mark.‹

Bei all diesen Vorbereitungen vergaß er nichts, sondern nützte jede Minute der wenigen Stunden trotz seiner Begeisterung methodisch aus. Ehe er fortging, nahm er noch die feuchten Tücher von seinem ›Stiermenschen‹ ab. In das Gesicht des Ungeheuers war letzthin ein hungriger, gieriger Ausdruck getreten. Der Künstler in ihm hatte seinem Werk jene unbewußte Gerechtigkeit widerfahren lassen, hatte gegen seinen Willen ihm die Wahrheit aufgeprägt. Er feuchtete die Tücher wieder an und hüllte ihn sorgsam ein, wobei er sich im stillen fragte, ob er je wieder daran arbeiten würde.

Er begab sich nicht nach ihrem Dorf, sondern nach einem fünf bis sechs Meilen weiter unten am Fluß – das war sicherer, und das Rudern würde ihn auch beruhigen. Dort nahm er sich ein Skiff und ruderte stromaufwärts. Er fuhr nur ganz langsam, um die Zeit totzuschlagen, indem er sich am jenseitigen Ufer hielt. Und wie er ruderte, schien ihm sogar das Herz vor nervöser Aufregung wie ausgedörrt. War es Wirklichkeit, daß er zu ihr ging, oder nur ein phantastischer Streich des Schicksals, ein Traum, aus dem erwachend er sich wieder allein finden würde? Endlich kam er an dem Taubenschlag vorbei und fuhr weiter, bis er in das Stauwasser abbiegen und dort unter Deckung sich bis zur Pappel hinstehlen konnte. Wenige Minuten vor acht war er dort, wandte das Boot um und wartete dicht an der Uferböschung, wobei er sich an einen Ast klammerte und sich so stellte, daß er den Pfad im Auge behielt. Wenn einer vor Verlangen und Erwartung sterben könnte, so hätte Lennan damals sicher sterben müssen.

Ganz windstill war's und der Tag in einen wundervoll ruhsamen Abend übergegangen. Mücken tanzten in den spärlichen Lichtstreifen, die schräg übers dunkle Wasser fielen, nun da die Sonne tief stand. Aus den von den Arbeitern verlassenen Wiesen stieg der Duft von Heu und der schwere Duft des Spierkrauts auf; der Moschusgeruch des Stauwassers mischte sich mit diesen Düften zu einer betäubenden Atmosphäre. Niemand kam vorbei. Und nur wenige ferne Laute vernahm jener sinnende Lauscher, denn dort sangen die Vögel nicht. Wie warm und still war die Luft und schien doch seine Wange zu umzittern, als könnte sie plötzlich Feuer fangen! Als er so wartete, stand ihm diese Vision lebhaft vor Augen – brodelnde Hitze um ihn, lauter kleine blaßrote Flammen. Auf dem breiten Schilfgras fraßen noch ein paar dicke, schwerfällige, dunkle Fliegen, und ab und zu plätscherte ein Moorhuhn nur wenige Schritte entfernt im Wasser oder stieß einen scharfen, schrillen Ruf aus. Wenn sie kam – falls sie überhaupt kam! –, wollten sie nicht in diesem finstern, schlammigen Stauwasser bleiben; er würde sie nach der andern Seite hinüberbringen, hinein in die Wälder! Doch die Zeit verstrich, und sein Mut sank. Dann schnellte er plötzlich empor. Es kam jemand – in Weiß, ohne Hut, etwas Blaues oder Schwarzes überm Arm. Sie war's! Niemand sonst hatte diesen Gang! Sie kam rasch heran. Und er bemerkte, daß ihr Haar zu beiden Seiten der Stirn wie kleine Schwingen aussah, als ob ihr Antlitz ein weißer Vogel wäre mit dunklen Schwingen, der der Liebe entgegenflog! Jetzt stand sie dicht vor ihm, so dicht, daß er ihre geöffneten Lippen sehen konnte und ihre liebeleuchtenden Augen – nichts in der Welt konnte so leuchten, nur die Dunkelheit, trunken von Tau und Sternenlicht. Er streckte die Arme aus und hob sie herunter ins Boot, und der Duft einer Blume, die sich an sein Gesicht preßte, schien ihm durch und durch bis ans Herz zu dringen und weckte in ihm die Erinnerung an etwas Vergangenes, Vergessenes. An den Zweigen, die er in der Eile abbrach, zog er das Skiff durch das träge Wasser, während die Mücken ihm ins Gesicht tanzten. Sie schien zu wissen, wo er sie hinführte, und keines von beiden sprach ein Wort, während er ins offene Wasser hinausruderte, hinüber nach dem jenseitigen Ufer.

Nur noch ein Feld lag zwischen ihnen und dem Wald, ein Feld voll jungen Weizens mit einer Hecke von Dornen und Erlen. Dicht bei dieser Hecke stiegen sie aus und faßten sich an den Händen. Noch immer sprachen sie kein Wort wie Kinder, die die Freude aufsparen. Sie hatte ihren Mantel angezogen, um ihr Kleid zu verbergen, und die Seide streifte raschelnd die silbrigen Halme des Weizens. Was hatte sie bewogen, diesen blauen Mantel anzulegen? Blau war der Himmel, die Blumen, die Vogelschwingen und glühend schwarzblau die Nacht! Blau – die Farbe alles Heiligen! Und so still war's im verglimmenden Schein der Sonne! Nicht der leiseste Laut eines Tieres, eines Vögleins, eines Baumes; keine einzige summende Biene! Auch nicht viel Farbe – nur die sterngleichen weißen Blüten des Schierlings und der Trollblume und der über den Weizen hinfließende Glanz des letzten warmen Lichtes.


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