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Viertes Kapitel

In dem Zimmer unter ihnen lag der Gegenstand ihrer Diskussion ganz wach da. Olive wußte, daß sie sich verraten hatte, daß sie Mark Lennan zu verstehen gegeben, was sie bis jetzt nicht einmal sich selbst eingestanden hatte. Aber der Blick der Liebe, den sie für ihr Leben nicht hätte zurückhalten können, wurde von einem Gefühl abgelöst, als ob sie sich etwas vergeben hätte. Denn bisher war die Frauenwelt von ihr ohne weiteres eingeteilt worden in solche, die derlei Dinge taten, und solche, die sie nicht taten; und es erschreckte sie, jetzt nicht mehr genau zu wissen, zu welcher Hälfte sie gehörte. Doch was nützte es nachzudenken, sich erschrecken zu lassen? Es konnte ja doch zu nichts führen. Gestern hatte sie nicht gewußt, daß es so kommen würde; und nun wußte sie nicht, was der nächste Tag brachte. Die heutige Nacht war genug, diese Nacht mit ihrer flutenden Herrlichkeit! Nur fühlen! Lieben und geliebt werden!

Es war etwas ganz Neues für sie, von den Liebeleien ihrer Mädchenzeit und ihrer Heirat so grundverschieden wie das Licht von der Finsternis. Denn sie war noch nie verliebt gewesen, nicht einmal in ihren Gatten. Jetzt wurde es ihr klar. Die Sonne enthüllte ihr eine Welt, von deren Existenz sie nichts geahnt. Es konnte nichts daraus werden. Aber die Sonne schien, und in dem Sonnenschein wollte sie sich ein wenig wärmen.

Ganz ruhig fing sie an zu überlegen, was sie beide tun könnten. Noch sechs Tage hatten sie vor sich. Sie waren noch nicht in Gorbio oder Castellar gewesen, hatten noch keinen dieser weiten Spaziergänge oder Ritte unternommen, die sie ihrer Schönheit wegen geplant. Würde er morgen früh herkommen? Was konnte sie anfangen? Niemand sollte erfahren, was diese sechs Tage ihr bedeuten würden, nicht einmal er. Mit ihm zusammen sein, sein Gesicht betrachten, seine Stimme hören und ab und zu ihn ganz leise berühren! Sie konnte sich zutrauen, niemand etwas merken zu lassen. Und dann würde alles – vorbei sein! Obwohl sie ihn natürlich in London wiedersehen würde.

Und dann würde alles – vorbei sein! Obwohl sie ihn natür- [Zeile fehlt im Buch. Re.] Begegnung im Hydepark an einem Sonntagmorgen. Der Oberst besuchte gewissenhaft die Kirchenparade und kam sogar eigens den weiten Weg von seiner Wohnung in Knightsbridge nach Westminster, um seine Nichte abzuholen. Sie erinnerte sich, wie er während seines Umherschlenderns plötzlich vor einem alten Herrn mit aufgedunsenem Gesicht und halbgeschlossenen Augen stehengeblieben war.

»Ah, Mr. Heatherley – von Devonshire hergekommen? Wie geht's Ihrem Neffen – dem – eh – Bildhauer?«

Und der alte Herr in seinem grauen Zylinder, der, wie es ihr schien, ein wenig unter seinen Augenlidern hervorglotzte, hatte erwidert: »Oberst Ercott, nicht wahr? Hier ist der junge Mann selber – Mark!« Und ein junger Mann hatte den Hut gelüftet. Zuerst hatte sie nur bemerkt, daß sein dunkles Haar nicht lang, doch sehr dicht war und daß seine Augen sehr tief lagen. Dann sah sie ihn lächeln; in sein Gesicht trat dabei ein Ausdruck des Verlangens, und dennoch blieb es schüchtern; und sie war zu dem Schluß gekommen, daß er nett sei. Bald danach war sie mit den Ercotts zu ihm gegangen, um ›seine Sachen‹ zu sehen, denn es war natürlich, und besonders in jenen Tagen, ein großes Ereignis, einen Bildhauer zu kennen – ungefähr so, wie wenn man ein Zebra in seinem Park hat. Der Oberst war entzückt und fühlte sich ein wenig erleichtert, als er fand, daß die ›Sachen‹ fast alle Vierfüßler und Vögel darstellten. ›Sehr interessant für einen, der viele merkwürdige Geschichten von ihnen wußte, seinerzeit eine ganze Menge umgebracht hatte und schließlich eine seltsame Abneigung dagegen empfand, noch mehr umzubringen, der er jedoch nie Ausdruck verlieh.

Nach diesem ersten Besuch in seinem Atelier war die Bekanntschaft schnell vorwärtsgeschritten, und jetzt fühlte sie sich erleichtert, daß Mark Lennan sich fast ganz den Vierfüßlern und Vögeln widmete statt der menschlichen Gestalt, die man göttlich nennt. Ach ja – sie hätte darunter gelitten; nun, da sie ihn liebte, wußte sie's. Jedenfalls konnte sie sich für seine Arbeit interessieren und sie durch ihre Teilnahme fördern. Damit tat sie doch nichts Böses …

Endlich schlief sie ein und träumte, daß sie in der Nähe ihres Landhauses allein in einem Boot die Themse hinuntertrieb zwischen stacheligen Blumen gleich Asphodelen, während Vögel um sie herumflogen und sangen. Sie konnte weder Antlitz noch Glieder bewegen, ohne daß sie dies hilflose Gefühl unangenehm empfand, bis sie sich bewußt ward, daß sie näher und näher zu etwas hintrieb, was weder Wasser noch Land war, weder Licht noch Dunkel, sondern ein unerklärliches Etwas. Und dann sah sie, aus dem Schilf am Ufer, nach ihr herüberstarrend, einen großen Stierkopf. Er bewegte sich, sobald sie sich bewegte, er war zu beiden Seiten von ihr und doch immer nur ein Kopf. Sie versuchte die Hände zu heben und die Augen zu bedecken, aber sie konnte nicht – und sie wachte mit einem Schluchzen auf … Es war Tag.

Schon fast sechs Uhr! Nach diesem Traum hatte sie kein Verlangen mehr zu schlafen. Der Schlaf war jetzt ein Räuber jeder Minute dieser wenigen Tage! Sie stand auf und blickte hinaus. Der Morgen war schön, die Luft schon warm, duftend von Tau und den Heliotropblüten an der Mauer vor ihrem Fenster. Sie brauchte nur die Läden zu öffnen und in die Sonne hinauszugehen. Sie zog sich an, nahm ihren Sonnenschirm, öffnete heimlich die Läden und stahl sich hinaus. Damit ihr ungewöhnlich früher Spaziergang ihre Gemütsverfassung nicht verrate, vermied sie den Hotelgarten und ging hindurch nach der Straße zum Kasino. Ohne es vielleicht zu wissen, schlug sie die Richtung ein, wo sie gestern nachmittag mit ihm gesessen und der Kapelle zugehört hatte. Ohne Hut, doch von ihrem Sonnenschirm beschützt, erregte sie die Bewunderung der wenigen Kenner, die bereits im Freien waren und in blauen Blusen zur Arbeit schlenderten; und diese naive Bewunderung machte ihr Freude. Diesmal war sie sich der Anmut ihrer Glieder wirklich bewußt, fühlte tatsächlich die sanfte Erregung ihres Gesichtes mit seinem gelblichweißen Teint, den fast schwarzen Haaren und Augen – ein merkwürdiges, höchst angenehmes Empfinden!

In den Kasinogärten ging sie langsamer, sog den Duft der Bäume ein, blieb fast bei jeder Blume stehen und beugte sich nieder, um sie zu betrachten; dann ließ sie sich auf derselben Bank nieder, wo sie gestern mit ihm gesessen hatte. Nicht weit davon waren die Stufen, die zur Bahnstation emporführten und die Unzählige Tag für Tag, Nacht für Nacht voller Hoffnung hinaufstiegen, die dann froh oder sorgenvoll wieder herunterkamen. Über ihr mischten zwei Fichten, ein Pfefferbaum und eine Palme ihre Schatten ineinander ganz phantastisch, jenes Verschmelzen von Natur und Seele an diesem sonderbaren Ort. Sie rollte ihren Sonnenschirm zusammen und lehnte sich zurück. Ihr offener, freundlicher Blick schweifte von Ast zu Ast. Von dem hellen, noch nicht von Hitze und Staub getrübten Himmel hoben sich die Äste geisterhaft zart ab, wie sie so scharf und flach in der Luft lagen. Sie pflückte ein Büschel rötlicher Beeren von dem Pfefferbaum und rieb und zerdrückte sie zwischen den Fingern, damit sie ihren Duft ausströmten. All die Schönheit und Anmut um sie her schien teilzuhaben an ihrer Freude, daß sie geliebt ward, an diesem plötzlichen Sommer in ihrem Herzen. Der Himmel, die Blumen, dies Juwel: die grünblaue See, die hellen Akazien – alles atmete nur Liebe.

Und die wenigen Vorübergehenden, die sie unter dem Pfefferbaum sitzen sahen, wunderten sich gewiß über die Ruhe dieser ›dame bien mise‹, die so früh aufgestanden war.


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