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Neuntes Kapitel

Am nächsten Tag war er glückselig, denn den ganzen Nachmittag lag er im Schatten desselben Waldes ihr zu Füßen und blickte durch die Zweige der Lärchen empor. Es war so herrlich schön, nur die Natur um ihn. Und die Natur so lebendig, so tätig und groß!

Als er am Tag vorher von der Schutzhütte heruntergekommen war, hatte er eine Spitze erblickt, die der Gestalt einer Frau mit einem Tuch um den Kopf täuschend ähnlich sah – die größte Statue in der Welt; von weiter unten aus gesehen war sie zur Gestalt eines bärtigen Mannes geworden, der den Arm vor die Augen hielt. Hatte sie es auch bemerkt? Hatte sie auch bemerkt, wie alle Berge im Mondlicht oder ganz früh morgens sich wie Tigergestalten ausnahmen? Am eifrigsten strebte er danach, Abbilder von Tieren und Geschöpfen aller Art herstellen zu können, die dem Geiste der Natur glichen, ihn sozusagen in sich hatten, ihn förmlich ausströmten, so daß einem ihr Anblick so viel Freude machen konnte wie der Anblick von Bäumen, Tieren, Felsen und sogar mancher Menschen – nur nicht der von ›englischen Moralhelden‹.

Also hatte er sich zum Studium der Kunst endgültig entschlossen? – O ja, natürlich.

Er würde dann – von Oxford fortwollen! – Nein, ach nein! Freilich – eines Tages würde er es müssen.

Sie erwiderte: »Manche kommen nie davon los.«

Und er sagte rasch: »Natürlich werd ich nie von Oxford fortwollen, solange Sie dort sind.«

Er merkte, wie sie plötzlich den Atem anhielt.

»O ja, Sie werden's! Helfen Sie mir jetzt aufstehn!« Und sie ging mit ihm zum Hotel zurück.

Er blieb noch auf der Terrasse, nachdem sie hineingegangen war, und fühlte sich im Augenblick ruhelos und unglücklich. Eine Stimme dicht bei ihm sagte: »Na, Freund Lennan, tief in Gedanken – oder Katzenjammer? Wie?«

In einem jener hohen Korbstühle, die ihre Insassen von der übrigen Welt isolieren, erblickte er seinen Professor, wie er sich zurücklehnte, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und die Spitzen seiner Finger gegeneinandergepreßt. Er glich einem Götzenbild, wie er so träge dasaß, und doch war derselbe Mann gestern einen solchen Berg emporgeklettert!

»Nur wieder lustig! Sie werden sich noch früh genug das Genick brechen! Ich erinnere mich, wie schmerzlich ich es in Ihrem Alter empfunden habe, daß man mir nicht erlauben wollte, das Leben anderer aufs Spiel zu setzen.«

Lennan stammelte:

»Daran hab ich nicht gedacht! Ich hab nur gemeint, wo Mrs. Stormer hinginge, könnte ich auch hin.«

»Ah! Aber trotz all unserer Bewunderung können wir die Ebenbürtigkeit der Frau doch nicht anerkennen, wenn es wirklich auf die Probe ankommt, nicht wahr?«

Des Jungen Ergebenheit brach flammend hervor:

»Das mein ich nicht. Ich halte Mrs. Stormer für ebenso tüchtig wie nur irgendeinen Mann, nur … nur …«

»Nicht für ganz so tüchtig wie Sie selbst, eh?«

»Für hundertmal tüchtiger, Herr Professor.«

Stormer lächelte. Zynisches Scheusal!

»Lennan«, sagte er, »nur nicht gar so enthusiastisch!«

»Natürlich weiß ich ganz gut, daß ich nicht ordentlich klettern kann«, sprudelte der Junge wieder hervor, »aber – aber – ich hab gemeint, wo sie ihr Leben aufs Spiel setzen darf, sollt ich's auch dürfen!«

»Bravo! Das gefällt mir!« Es wurde diesmal ganz ohne jede Ironie geäußert, daß es den Jungen aus der Fassung brachte.

»Sie sind noch jung, Bruder Lennan«, fuhr sein Professor fort. »In welchem Alter, glauben Sie nun, fängt der Mann an, besonnen zu werden? Denn das eine sollten wir uns stets vor Augen halten: Den Frauen geht diese vortreffliche Eigenschaft gänzlich ab.«

»Ich glaub, die Frauen sind das Beste auf der Welt«, platzte der Junge wieder heraus.

»Mögen Sie noch lange dieser Meinung bleiben!« Der Professor hatte sich erhoben und betrachtete ironisch seine Knie. »Etwas steif«, sagte er. »Lassen Sie's mich wissen, wenn Sie Ihre Ansicht ändern.«

»Ich werd sie niemals ändern, Herr Professor!«

»Ah, ah! Niemals ist ein großes Wort, Lennan. Na, ich geh jetzt Tee trinken.« Und mit einem Lächeln ging er vorsichtig davon, als spöttelte er gewissermaßen über seine eigenen steifen Beine.

Lennan blieb mit flammenden Wangen zurück. Wieder schienen ihm die Worte seines Professors gegen sie gerichtet. Wie konnte nur ein Mann so über die Frauen reden! War es richtig, so wollte er's nicht wissen, und war es unrichtig, so fand er es häßlich, so zu sprechen. Es mußte doch furchtbar sein, niemals Edles empfinden zu können, immer und ewig spötteln zu müssen! Entsetzlich, den ›englischen Moralhelden‹ zu gleichen! Natürlich war er anders als sie, denn im Grunde genommen war der alte Stormer doch weit interessanter und intelligenter – gar nicht zu vergleichen; nur geradeso ›überlegen‹ wie sie. Manche kommen nie davon los. Hatte sie damit sagen wollen: von jener Überlegenheit? Gerade unter ihm mähte eine Bauernfamilie Gras und rechte es zusammen. Man konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie das tat und wie wunderschön sie mit einem bunten Tuch um den Kopf dabei aussehn würde; man konnte sich sehr gut vorstellen, daß sie irgend etwas Alltägliches tat – aber den alten Stormer konnte man sich unmöglich anders als in seiner gewohnten Tätigkeit denken. Und auf einmal fühlte sich der Junge elend, niedergedrückt durch diesen flüchtigen Einblick in das verfehlte Leben zweier aneinandergeketteter Menschen. Und er beschloß, nicht wie Stormer zu werden, wenn er einmal alt war. Nein, viel eher wollte er ein regelrechter Lump werden als so einer! …

Als er auf sein Zimmer ging, um sich zum Abendessen umzukleiden, erblickte er in einem Glas Wasser eine große Gartennelke. Wer hatte sie hingestellt? Wer anders konnte sie hingestellt haben als sie? Sie strömte denselben Duft aus wie die Bergnelken, die sie über ihn hatte rieseln lassen, nur noch stärker und köstlicher, einen Duft, der heimlich berauschend, verführerisch war. Er drückte sie an die Lippen, ehe er sie ins Knopfloch steckte.

Am Abend tanzte man wieder, diesmal gab es mehr Paare, und das Klavier wurde noch von einer Geige begleitet. Sie hatte eine schwarze Toilette an. Er hatte sie nie zuvor in Schwarz gesehen. Ihr sonnenverbrannter Hals und das Gesicht waren gepudert. Der erste Anblick dieses Puders flößte ihm einen leichten Schrecken ein. Er hatte sich irgendwie eingebildet, daß wahre Damen sich niemals pudern. Aber wenn sie es tat, dann war's in Ordnung! Und er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Er sah, wie der junge deutsche Geiger sie umschwärmte, sogar zweimal mit ihr tanzte, beobachtete sie, wie sie mit andern tanzte, aber ohne alle Eifersucht, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie von einem Traum befangen. Was war es nur? War er in diesen sonderbaren Zustand gezaubert worden – durch das Geschenk der Nelke in seinem Knopfloch? Was war es nur, das ihn, als er mit ihr tanzte und sie schwiegen, mit Seligkeit erfüllte? Er erwartete ganz und gar nicht, daß sie etwas sagen oder tun würde, er erwartete nichts, er wünschte nichts. Selbst als er mit ihr auf die Terrasse hinausging, selbst als sie den Hügel hinunterschritten und sich auf eine Bank setzten, von der man die Felder übersah, wo die Bauern gemäht hatten, empfand er noch immer nichts anderes für sie als stille, träumerische Anbetung. Dunkel und träumerisch war auch die Nacht, denn der Mond stand noch tief hinter den Bergen. Die kleine Kapelle spielte den nächsten Walzer; er aber saß ganz regungslos da, als ob man ihm alle Kraft zu handeln und zu denken genommen hätte. Und der Duft der Nelke in seinem Knopfloch stieg empor, denn es war windstill. Plötzlich hörte ihm das Herz zu schlagen auf. Sie hatte sich an ihn gelehnt, er hatte gefühlt, wie ihre Schulter seinen Arm berührte, ihr Haar seine Wange streifte. Da schloß er die Augen und wandte ihr das Gesicht zu. Er fühlte, wie sie ihre Lippen mit einem raschen, brennenden Kuß auf seinen Mund preßte. Er seufzte, streckte die Arme nach ihr aus. Nur die Luft war geblieben. Nur das Rascheln ihres Kleides durch das Gras hin vernahm er. Die Nelke – auch die war fort.


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