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Siebentes Kapitel

Oberst Ercott und seine Frau hatten jetzt keinen Frieden mehr. Sie kamen sich wie Verräter vor, und Verrat war nie ihre Sache gewesen. Wie aber konnten sie offen handeln, da doch der Grund zu ihrer Unruhe nur die Tatsachen waren, die sie zufällig heimlich gesehen hatten? Was nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt war, existierte nicht; kein Sittengesetz sonst konnte so unumstößlich sein. Ebensogut hätte man es verteidigen können, die Briefe eines andern zu öffnen, als die Möglichkeit zuzugeben, aus zufälliger Kenntnis einer Sache Nutzen zu ziehen. So weit ließen sie Tradition und wahrer Charakter sich eins fühlen und offen zusammen Pläne schmieden. Sie unterschieden sich jedoch in einer wichtigeren Sache. Mrs. Ercott hatte allerdings gesagt, daß hier etwas vorlag, was der Mensch nicht in seiner Hand hatte; der Oberst hatte es gefühlt – eine grundverschiedene Sache! Obzwar weniger tolerant in der Theorie, rührte es doch an sein Herz; Mrs. Ercott dagegen billigte es in der Theorie beinahe – sie las jene gefährliche Schriftstellerin George Eliot –, im Herzen jedoch stand sie der Nichte ihres Gatten kühl gegenüber. Aus diesen Gründen konnten sie keine Pläne schmieden, ohne am Ende plötzlich zu sagen: »Ach, es hat ja keinen Zweck, darüber zu reden!« und fingen fast sogleich wieder an, darüber zu reden.

Als der Oberst seiner Frau die Sache mit dem Maulesel vorschlug, hatte er nicht genügend Zeit gehabt oder wußte vielmehr noch nicht recht, wie er sich benehmen sollte, um ihr so unvermittelt die Notwendigkeit klarzumachen, ihn zu besteigen. Erst als sie zu seiner etwas unbegreiflichen Erleichterung die Teilnahme abgelehnt und Olive ohne sie fortgegangen war, hatte er ihr von der Begegnung im Park erzählt, deren Zeuge er gewesen. Da hatte sie sofort gesagt, daß, hätte sie eine Ahnung davon gehabt, sie selbstverständlich alles mit in Kauf genommen hätte, um an dem Ausflug teilzunehmen; nicht weil sie es für richtig hielte, sich einzumengen, sondern weil sie an Robert denken müßten! Und der Oberst hatte erwidert: »Der Kerl soll zum Teufel gehn!« Und dabei war die Angelegenheit für den Augenblick geblieben, denn beide fragten sich im stillen, welcher Kerl denn eigentlich zum Teufel gehen sollte. Hier lag in der Tat die Schwierigkeit. Wenn der Oberst seine Nichte nicht so lieb gehabt und Cramier für einen angenehmen, nicht für einen fast widerwärtigen Menschen gehalten hätte; wenn Mrs. Ercott nicht Mark Lennan für einen ›netten Burschen‹ erklärt und in der Nichte ihres Gatten im geheimen nicht eine Gefahr für ihren Seelenfrieden erblickt hätte; wenn kurzum diese drei mechanisch gelenkte Marionetten gewesen wären, so wäre die Sache für alle Beteiligten um so viel einfacher gewesen. Die Entdeckung, daß hier eine individuelle Gleichung vorlag anstatt der einfachen Regeldetri, brachte den Oberst außer Fassung und machte ihn fast zornig, bedrückte Mrs. Ercott und machte sie fast stumm … Diese beiden guten Seelen waren über ein Problem gestolpert, das die Welt von Urbeginn an entzweit hat. Soll man Geschehnisse nach individuellen Gründen beurteilen oder nach herkömmlichen Gesetzen?

Wenn auch der Oberst in Worten und Benehmen jetzt orthodoxer tat denn je zuvor, so verbarg sich dahinter doch nur sein gänzlich erschütterter Glaube an Autorität und gute Sitte; er konnte ganz einfach nicht von dem Anblick der beiden jungen Menschen loskommen, die da Seite an Seite gesessen hatten, noch den Ton von Olives Stimme vergessen, als sie seine bedauernden Worte über ihr Unglück zu Hause wiederholt hatte.

Wenn die Sache nur nicht so menschlich gewesen wäre! Wenn sie nur irgendeines andern Nichte gewesen wäre, so war es doch zweifellos ihre Pflicht gewesen, unglücklich zu bleiben! So wie die Dinge lagen, wußte er, je mehr er nachdachte, um so weniger, was er denken sollte. Als einer, der nie ein nennenswertes Vermögen auf der Bank gehabt und wegen seines fortwährenden Nomadenlebens keine übertriebene Achtung vor einer festen Stellung in der Gesellschaft hatte, sie vielmehr für etwas Lästiges hielt, übertrieb er auch nicht unverhältnismäßig die gesellschaftlichen Gefahren dieser Affäre; noch glaubte er wirklich, daß sie für ewig in der Hölle schmachten müsse, wenn es ihr nicht gelänge, diesem ›großen schwarzen Kerl‹, wie er Cramier bei sich nannte, Treue zu bewahren. Er fühlte einfach nur, daß es jammerschade war, hatte ungefähr die traurige Überzeugung, daß es bei den Frauen seiner Familie nicht Sitte war, solche Wege einzuschlagen; daß sein toter Bruder sich im Grab umdrehen würde; kurzum, daß man so etwas nicht tat! Dennoch gehörte er keineswegs zu jenen, die den Frauen im allgemeinen Freiheit zugestehen, jedoch mit Peitschen über die in ihrer eigenen Familie herfallen, die davon Gebrauch machen. Dagegen glaubte er, daß die Frauen im allgemeinen in den Augen der Welt fleckenlos dastehen sollten, war aber geneigt, für jede einzelne Frau, die er kannte und liebte, eine Ausnahme zu machen. Ein stets gehegter Verdacht, daß mit Cramiers Herkunft ›etwas nicht ganz sauber war‹, mochte ihn unwillkürlich ein ganz klein wenig beeinflußt haben. Er hatte in der Tat gehört, daß er nicht einmal zu dem Namen Cramier berechtigt war, sondern daß ein kinderloser Mann ihn adoptiert, aufgezogen und ihm einen Haufen Geld hinterlassen hatte. In dieser Tatsache lag etwas, das dem innersten Wesen des kinderlosen Obersten zuwider war. Er hatte niemals jemand adoptiert. Es fehlte einem gewissermaßen jede Garantie für den Wert eines Menschen, der adoptiert worden war – er war wie ein Wein, von dem man weder Jahrgang noch Herkunft wußte, oder wie ein Pferd ohne Stammbaum; man war nie ganz sicher, was er tun könnte, wo er doch keine Tradition in seinem Blute hatte. Auch Cramiers Erscheinung und Benehmen gaben diesem Mißtrauen Nahrung. Irgendwo ein schwarzer Einschlag; ein halsstarriger, schweigsamer Draufgänger! Warum in aller Welt hatte Olive ihn nur geheiratet? Aber die Weiber hatten ja immer allerhand Grillen im Kopf, die armen Dinger! Und der gute Lindsay mit seinem Bischofsornat und seinen Ansichten von Gehorsam mußte als Vater ein Tatar gewesen sein, der arme gute Kerl! Überdies war Cramier zweifellos, was die meisten Frauen gutaussehend nennen würden, mehr ins Auge fallend als solch ein stiller Mensch wie der junge Lennan, dessen Züge nichts Besonderes sagten, obgleich sie einen mit ihrem freundlichen Lächeln stets sympathisch berührten – ein junger Mann, den man gern haben mußte und der sicher niemals einer Fliege weh tun würde! Und plötzlich kam ihm der Gedanke: Warum sollte er nicht zu dem jungen Lennan gehen und von der Leber weg mit ihm reden? Daß er in Olive verliebt war? Vielleicht nicht ganz so – aber es würde ihm schon einfallen, wie er's anpacken sollte. Er brütete lange über dieser Idee und sprach am nächsten Morgen, während er sich rasierte, mit seiner Frau darüber. Ihre Antwort: »Ach, Unsinn, lieber John!« verscheuchte seine letzten Zweifel.

Ohne zu sagen, wo er hinging, schlenderte er sofort nach dem Frühstück hinaus – und nahm den Zug nach Beaulieu. Beim Hotel des jungen Mannes angelangt, schickte er seine Karte hinein und erhielt die Antwort, daß dieser Monsieur schon für den ganzen Tag ausgegangen sei. Da nun sein Plan, direkt vor die Kanonen zu marschieren, vereitelt war, blieb er nachdenklich und verwirrt stehen. Er kannte Beaulieu noch nicht (damals sprach man davon, daß es Zukunft hätte) und ging eine Anhöhe hinauf. Die ganze Seite des Hügels war mit Rosenbüschen bepflanzt. Tausende dieser Blumen schwebten wie Sterne über der Erde, und die verstreuten Blütenblätter vom Wind zerzauster Rosen bedeckten den Boden. Der Oberst steckte seine Nase hie und da in die Blüten, aber sie besaßen wenig Duft, als wüßten sie, daß ihre Zeit vorbei war. Ein paar blaublusige Bauern waren noch zwischen ihnen an der Arbeit. Und plötzlich stieß er auf den jungen Lennan, der auf einem Stein saß und mit seinen Fingern an einem Klumpen von kittigem Stoff herumdrückte. Der Oberst zögerte. Ganz abgesehen von offenbaren Ursachen zur Unbehaglichkeit hatte er dasselbe Gefühl der Kunst gegenüber wie so viele Leute seiner Klasse. Es war natürlich keine Arbeit, aber trotzdem gehörte was dazu – ihm unbegreiflich, wie nur jemand so etwas fertigbringen konnte! Als Lennan ihn erblickte, stand er auf und ließ sein Taschentuch über die Arbeit fallen, an der er modellierte, doch der Oberst hatte bereits einen unklaren Eindruck von etwas Bekanntem empfangen. Der junge Mann war ganz rot geworden, und auch der Oberst fühlte plötzlich die Hitze. Er streckte die Hand aus.

»Netter ruhiger Platz das«, stammelte er, »noch nie hier gewesen. Habe im Hotel nach Ihnen gefragt.«

Jetzt, wo er hätte reden können, wußte er weder ein noch aus. Der Anblick des Gesichtes, das aus jenem Klumpen von ›kittigem Stoff‹ entstanden war, hatte ihn total entwaffnet. Der Gedanke, daß dieser junge Mann ganz allein hier oben arbeitete, nur weil er ein oder zwei Stunden dem Urbild fernbleiben mußte, rührte ihn. Wie in aller Welt herausbringen, was er hatte sagen wollen? Er hatte sich's so ganz anders vorgestellt. Und auf einmal wurde es ihm klar – Dolly hatte recht! Sie hatte immer recht, zum Kuckuck!

»Sie sind beschäftigt«, sagte er, »ich darf Sie nicht stören.«

»Ganz und gar nicht, Herr Oberst. Es ist furchtbar nett von Ihnen, mich aufzusuchen.«

Der Oberst starrte ihn an. Es war etwas an dem jungen Lennan, das er früher nicht bemerkt hatte, ein Blick, der sagte: Nimm dir ja keine Freiheiten heraus!, was die Lage schwierig machte. Doch noch immer zögerte er und starrte den jungen Menschen nachdenklich an, der mit solcher Höflichkeit wartend dastand. Da schoß ihm eine ungefährliche Frage durch den Kopf:

»Hm! Und wann fahren Sie nach England zurück? Wir reisen Dienstag.«

Während er sprach, blies ein Windstoß das Taschentuch von dem modellierten Gesicht. Würde der junge Mensch es wieder zudecken? Er tat es nicht. Und der Oberst dachte:

Das hätte sich auch nicht gehört. Er weiß, daß ich die Situation nicht ausnützen werde. Jawohl, er ist ein Gentleman! Seine Hand zum Gruße hebend, sagte er: »Ich muß zurück. Werden wir Sie zum Abendessen sehn?« Er machte kehrt und marschierte davon.

Die Erinnerung an das Antlitz in dem ›kittigen Stoff‹ dort oben bei der Landstraße begleitete ihn nach Hause. Die Dinge standen schlimm, sehr schlimm! Und das Bewußtsein, daß er in der Sache nicht das geringste zu sagen hatte, erfüllte ihn mehr und mehr. Er erzählte niemandem, wo er gewesen war …

Nachdem der Oberst sich so förmlich verabschiedet und ihn verlassen hatte, setzte sich Lennan wieder auf den flachen Stein, nahm seinen ›kittigen Stoff‹ zur Hand und vernichtete bald darauf das Bild. Lange Zeit saß er ruhig da und beobachtete allem Anschein nach die kleinen blauen Schmetterlinge, die um die roten und braungelben Rosen spielten. Dann begannen seine Finger fieberhaft zu arbeiten und formten einen Kopf, nicht den eines Mannes noch den eines Tieres, sondern eine Art gehörntes, schwerfälliges Zwitterding. Etwas Wildes lag in den Bewegungen der ziemlich kurzen, stumpfen Finger, als ob sie das Geschöpf, das sie schufen, gleichzeitig erwürgen wollten.


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