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Zehntes Kapitel

Am nächsten Tag um drei Uhr sprach er vor.

In der Mitte ihres weißen Salons, dessen Fenster mit den bleigefaßten Scheibchen die ganze Länge einer Wand einnahm, stand auf einem kleinen Tisch eine silberne Schale voll frühen Rittersporns, offenbar aus ihrem Garten an der Themse. Und Lennan wartete, die Augen auf die Blüten geheftet, die so sehr kleinen blauen Schmetterlingen glichen oder seltsam gefärbten Heimchen, die an den blaßgrünen Stengeln saßen. In diesem Zimmer verbrachte sie, vor ihm gesichert, ihre Tage. Höchstens einmal in der Woche würde er hierherkommen können – einmal in der Woche für eine oder zwei Stunden von den hundertachtundsechzig Stunden, die mit ihr zu verbringen er sich sehnte.

Plötzlich fühlte er, daß sie da war. Sie war lautlos eingetreten und stand am Klavier in ihrem hellen, cremefarbenen Kleid, so blaß, daß ihre Augen pechschwarz aussahen. Kaum erkannte er dies Gesicht wieder, das so verschlossen war wie eine Blume gegen die Kälte.

Was hatte er getan? Was war in diesen fünf Tagen geschehen, daß sie ihm so gegenübertrat? Er nahm ihre Hände und wollte sie küssen, aber sie sagte rasch:

»Er ist zu Hause!«

Hierauf stand er schweigend da und blickte in ihr Gesicht, das sich wie im Banne eines entsetzlichen Starrkrampfs befand, von dessen Lösung sein Leben abzuhängen schien. Schließlich sagte er: »Was ist geschehen? Bin ich dir nach alldem gar nichts mehr?«

Aber sowie er gesprochen, sah er auch schon, daß er nicht hätte zu fragen brauchen, und schlang die Arme um sie. Sie klammerte sich verzweifelt an ihn, machte sich dann frei und sagte:

»Nein, nein; wir wollen uns ruhig hinsetzen!«

Er gehorchte, halb ahnend, was hinter dieser seltsamen Kälte und der verzweifelten Umarmung lag, und halb sich weigernd, es zuzugeben: all das Mitleid mit sich, der Abscheu vor sich selbst, die Scham, Wut und Sehnsucht einer Frau, die in ihres Gatten Hause zum ersten Male ihrem Liebhaber gegenübersteht.

Sie schien sich jetzt Mühe zu geben, ihn ihr sonderbares Benehmen vergessen zu machen, wieder das zu sein, was sie während jener vierzehn Tage im Sonnenschein gewesen war. Doch plötzlich, kaum die Lippen bewegend, sagte sie:

»Rasch! Wann können wir uns treffen? Ich will zum Tee zu dir kommen – morgen.« Er folgte ihrem Blick und sah, wie die Tür aufging und Cramier eintrat. Ohne ein Lächeln, sehr groß in dem niedrigen Zimmer, kam er zu ihnen herüber und reichte Lennan die Hand; dann zog er sich einen niedrigen Stuhl zwischen ihre beiden Stühle und nahm Platz.

»Also wieder zurück!« sagte er. »Ist's schön gewesen?«

»Danke, sehr schön!«

»Gut für Olive, daß Sie dort waren; diese Orte sind langweilige Nester.«

»Es war gut für mich.«

»Zweifellos.« Und bei diesen Worten wandte er sich zu seiner Frau. Seine Arme ruhten auf den Lehnen des Stuhles, so daß die Handflächen seiner geballten Fäuste nach oben gerichtet waren; es war, als wenn er wüßte, daß er diese beiden, jeden in einer Hand, gepackt hielt.

»Ich kann nicht recht verstehen«, sagte er langsam, »daß Menschen wie Sie, die an nichts in der Welt gebunden sind, sich in einer Stadt wie London niederlassen. Ich hätte geglaubt, Rom oder Paris wäre euer Paradies.«

In seiner Stimme und in seinen etwas blutunterlaufenen Augen mit ihrem herrschsüchtigen Blick, in seinem ganzen Benehmen lag eine Art verhüllter Drohung und Verachtung, als dächte er: Wag es, meinen Weg zu kreuzen, und ich zermalme dich!

Und Lennan dachte: Wie lang muß ich noch hierbleiben? Dann flog an dieser Gestalt vorbei, die so ruhig zwischen ihnen saß, ein Blick zu ihm herüber, rasch, sicher, genau im rechten Augenblick, und wieder und immer wieder einer, als ob die nahe Gefahr sie dazu triebe. Einer dieser Blicke würde bestimmt, ganz bestimmt von Cramier aufgefangen werden! Brauchte man jedoch zu fürchten, daß eine Schwalbe gegen die Mauer stoßen würde, über die sie hinflog? Aber er konnte es nicht länger aushalten und stand auf.

»Schon?« Dieses eine unschuldige Wort wurde mit einem unnachahmlich beleidigenden Ton gesprochen.

Er sah kaum, wie seine Hand Cramiers schwere Faust berührte. Dann bemerkte er, daß sie so stand, daß man ihre Gesichter beim Abschied nicht sehen konnte. Ihre Augen hatten einen lächelnden, doch flehenden Ausdruck; ihre Lippen formten das Wort: ›Morgen!‹ Er drückte ihre Hand verzweifelt und ging hinaus.

Nie hatte er sich träumen lassen, daß es so entsetzlich sein würde, sie in Gegenwart des Mannes zu sehen, dem sie angehörte. Einen Augenblick lang dachte er, er müßte sie aufgeben, müßte eine Liebe aufgeben, die ihn zum Wahnsinn treiben würde.

Er kletterte auf einen Omnibus, der nach Westen fuhr. Wieder hatten vierundzwanzig Stunden des Hungerns begonnen. Es war ganz gleichgültig, was er mit ihnen anfing. Sie bedeuteten nichts weiter als ununterbrochenes Leiden, das er durchzukosten hatte – ununterbrochenes Leiden; und welche Erlösung am Ende? Ein oder zwei Stunden mit ihr, in denen er sich mit aller Gewalt zurückhalten mußte.

Wie die meisten Künstler und nur wenige Engländer lebte er mehr in Gefühlen als in Tatsachen und fand deshalb keine Erleichterung in endgültigen Entschlüssen. Doch er faßte viele – den Entschluß, sie aufzugeben; dem Ideal treu zu bleiben, sie zu lieben ohne Belohnung; sie zu beschwören, Cramier zu verlassen und zu ihm zu kommen – und jeden Entschluß faßte er viele Male.

Bei Hydepark Corner stieg er ab und ging in den Park, in der Meinung, daß ein Spaziergang ihn ablenken würde.

Eine ganze Menge von Leuten saß dort, die alle unbewußt das rechte Linderungsmittel gebrauchten; um ihnen auszuweichen, ging er am Gitter entlang und lief Oberst Ercott und seiner Frau fast in die Arme, die etwas erhitzt von Knightsbridge herkamen, nachdem sie im Hause irgendeines Generals zu Mittag gegessen und von ›Monte‹ geplaudert hatten.

Sie begrüßten ihn scheinbar ganz überrascht, obzwar sie sich oftmals gesagt hatten: Der junge Mann wird nicht schnell genug wieder zurück sein können! Sie freuten sich sehr, sagten sie, ihn zu treffen. Wann er angekommen wäre? Sie hätten gedacht, er würde nach Italien Weiterreisen – er sähe ziemlich abgespannt aus. Sie fragten ihn nicht, ob er sie besucht hätte – sie waren zu gütig und fürchteten vielleicht, daß er ja sagen könnte, was peinlich gewesen wäre; oder daß er nein sagen könnte, was noch peinlicher gewesen wäre, wenn sie herausfanden, daß er hätte ja sagen sollen. Möchte er sich nicht ein wenig mit ihnen hinsetzen? Sie wollten dann nachsehen, wie es Olive ging. Lennan fühlte, daß sie ihn warnten. Er zwang sich, ihnen gerade ins Gesicht zu sehen, und sagte: »Ich bin eben dort gewesen.«

Mrs. Ercott kleidete am selben Abend ihren Eindruck in folgende Worte: »Er sieht ganz abgehetzt aus, der arme Junge! Ich fürchte, es werden sich noch entsetzliche Dinge abspielen. Hast du bemerkt, wie schnell er von uns weggelaufen ist? Mager geworden ist er auch; wenn er nicht so braungebrannt wäre, würde er ganz krank aussehen. Seine Augen sind so rührend; und früher hat er doch immer so einen lieben, lächelnden Blick gehabt!«

Der Oberst, der ihr das Kleid zuhakte, hielt in einer Prozedur inne, die Konzentration erforderte.

»Es ist jammerschade«, brummte er, »daß er nichts zu tun hat. Dieses Herumspielen mit Lehm, oder was er sonst macht, hat doch gar keinen Sinn!« Und während er langsam einen Haken zumachte, gingen ein paar andere wieder auf.

Mrs. Ercott fuhr fort:

»Und ich hab Olive beobachtet, wie sie's nicht bemerkte; 's war geradeso, als hätte sie eine Maske abgenommen. Aber Robert Cramier wird es sich nie gefallen lassen. Er ist noch immer in sie verliebt; ich hab es gesehen. John, es ist tragisch!«

Der Oberst ließ die Hände von den Haken sinken.

»Wenn ich das glaube«, sagte er, »würd ich etwas tun.«

»Wenn du das könntest, dann war es eben nicht tragisch.«

Der Oberst sah erstaunt drein. Etwas konnte man doch immer tun!

»Du liest zuviel Romane«, sagte er, jedoch ohne Eifer. Mrs. Ercott lächelte, ohne auf diese Verleumdung, die sie nicht zum ersten Male hörte, etwas zu erwidern.


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