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Fünfzehntes Kapitel

Marks neunzehnter Geburtstag erhob sich aus grauem Nebel, ließ allmählich seine Schleier aufs Gras sinken und stand klar und glänzend da. Er erwachte zeitig. Von seinem Fenster konnte er in dem steil ansteigenden Park nichts anderes gewahren als die leichten Umrisse der blaugrünen, ballonförmigen Eichen, die zwischen den runden Felsblöcken eine über der andern zu hängen schienen. Am frühen Morgen verspürte er immer am stärksten den Wunsch zu modellieren, und auch nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es wegen des mangelnden Lichtes unmöglich war. Diesen Morgen hatte ihn ein ungestümes Verlangen ergriffen, und das Bewußtsein, daß er im Augenblick nichts schaffen konnte, drückte ihn nieder. Seine Zeichnungen, seine Modellierarbeiten – sie waren ja alle noch so plump, so unreif! Wenn das nur sein einundzwanzigster Geburtstag wäre und er sein Geld hätte und tun könnte, was ihm beliebte! Er wollte nicht in England bleiben. Er wollte sofort nach Rom oder Athen oder sogar nach Paris gehen, um dort zu arbeiten, bis er wirklich was Ordentliches leistete. Während der Ferien würde er die Tiere und Vögel in unkultivierten Ländern studieren, wo es deren noch eine Menge gab und wo man sie noch in ihren Schlupfwinkeln beobachten konnte. Es war zu dumm, in einem Ort wie Oxford bleiben zu müssen; aber bei dem Gedanken an das, was ihm Oxford war, flatterte seine unstete Phantasie wie ein von einem Habicht gebannter Vogel empor, hielt einen Augenblick im Fliegen inne und stürzte dann zur Erde nieder. Und das Bedürfnis zu schaffen schwand plötzlich. Ihm war's, als wäre er zu seinem eigenen Selbst erwacht; und dann wieder, als ob er dieses Selbst verloren hätte. Ganz leise ging er die Treppe hinunter. Die Tür in den Garten war gar nicht verschlossen, nicht einmal die Läden waren zu – gewiß hatte man es gestern abend vergessen. Gestern abend! Nie hätte er geglaubt, daß es ihm so zumute sein würde, wenn sie käme – so verwirrt und verworren, zu ihr hingezogen und doch durch etwas zurückgehalten. Und er ward ungeduldig, böse auf sich selbst, fast böse auf sie. Warum konnte er nicht froh und heiter sein, so heiter wie dieser Morgen? Er nahm seinen Feldstecher und suchte die Wiese ab, die an den Bach hinunterführte. Jawohl, ein paar Kaninchen waren dort. Die Wiese mit den weißen Margeriten und den Spinnetzen voller Tautropfen glich einem silberglänzenden Blumenbeet, das durch die Kaninchen noch schöner aussah. Er hätte so gerne eines zum Modellieren gehabt und geriet einen Augenblick in Versuchung, seine Schrotflinte zu holen. Aber was sollte ihm ein totes Kaninchen? Und obendrein sahen sie ja so glücklich aus! Er legte den Feldstecher hin und ging nach dem Gewächshaus, um einen Zeichenblock zu holen. Er wollte sich auf die Mauer setzen, um etwas wie eine Sommernachtstraum-Skizze mit Blumen und Kaninchen zu malen. Jemand war dort, der sich niederbeugte und sich mit seinen Tieren zu schaffen machte! Wer konnte nur so unverschämt sein? Ah, Sylvia war's – im Schlafrock! Es überlief ihn erst heiß, dann kalt vor Zorn. Der Gedanke war ihm unerträglich, daß irgend jemand sein Heiligtum betrat! Es war ihm schon verhaßt, wenn einer seine Sachen nur ansah; sie – sie aber schien sie sogar zu betasten! Er riß die Tür auf und rief: »Was tust du hier?« So sehr war er von heiligem Zorn erfüllt, daß er kaum merkte, wie sie zusammenschrak und gegen die Wand taumelte. Sie lief an ihm vorbei und verschwand ohne ein Wort. Er ging zu seinen Geschöpfen und sah, daß sie auf den Kopf eines jeden einen kleinen Zweig Jasmin gelegt hatte. Was sollte das? Es war idiotisch! Ganz besonders fiel es ihm auf, wie lächerlich sich die Blumen auf den Köpfen seiner Tiere ausnahmen.

Dann aber rührte ihn dieser verzweifelte Versuch, etwas Anmutiges zu erfinden, etwas, das ihm Freude machen sollte; denn jetzt merkte er, daß es eine Geburtstagsdekoration sein sollte. Schon im nächsten Augenblick war er vor sich selbst entsetzt. Die arme kleine Sylvia! Was für ein Unmensch er gewesen war! Sie hatte all den Jasmin pflücken, sich aus dem Fenster hängen müssen und sich der Gefahr ausgesetzt, dabei herunterzufallen; und sie war zeitig aufgestanden und im Schlafrock herausgekommen, nur um ihm etwas Liebes zu erweisen! Entsetzlich, was er da angerichtet hatte! Nun, da es zu spät war, sah er nur zu deutlich ihr erschrockenes weißes Antlitz, ihre bebenden Lippen und wie sie gegen die Wand getaumelt war. Wie hübsch sie in ihrem Schlafrock ausgesehen hatte, mit aufgelöstem Haar und so zu Tode erschrocken! Alles, alles wollte er jetzt tun, um sie zu versöhnen, denn er hatte sich schändlich benommen! Das Gefühl, das ihn nie ganz verließ: daß er sich um sie kümmern müßte, und das ohne Zweifel von der Zeit datierte, als er sie gegen die Stiere schützen mußte, die gar nicht existierten, und das Gefühl, daß sie stets so lieb und nett zu ihm war, und noch ein anderes Gefühl dazu – all das kam ihm plötzlich ganz überwältigend zum Bewußtsein. Er mußte sie einfach versöhnen! Er lief ins Haus zurück und stahl sich die Treppe hinauf. Vor ihrem Zimmer horchte er angestrengt, konnte jedoch nichts hören; dann klopfte er leise mit der Fingerspitze an, legte den Mund ans Schlüsselloch und flüsterte: »Sylvia!« Immer wieder flüsterte er ihren Namen. Er faßte sogar den Griff, um die Tür einen Spalt weit zu öffnen, aber sie war verriegelt. Einmal glaubte er ein Schluchzen zu vernehmen, was ihn noch unglücklicher machte. Schließlich gab er es auf; sie wollte also nicht kommen, wollte sich nicht trösten lassen! Er wußte, daß er nichts Besseres verdiente, aber trotzdem empfand er es sehr schwer. Und entsetzlich verstimmt ging er auf sein Zimmer und versuchte zu schreiben:

 

›Liebste Sylvia!

Es ist wirklich furchtbar lieb von Dir gewesen, Deine Sterne auf meine Tiere zu legen. Etwas Reizenderes hättest Du gar nicht tun können. Ich war ein entsetzlicher Grobian, aber wenn ich eine Ahnung davon gehabt hätte, was Du tun wolltest, wäre ich natürlich entzückt darüber gewesen. Kannst Du mir verzeihen? Ich weiß ja, ich verdien es nicht – aber schau, heut ist ja mein Geburtstag!

Dein tief bekümmerter
Mark‹

 

Er nahm den Brief mit sich, schob ihn unter der Tür durch, klopfte leise, damit sie ihn bemerken sollte, und stahl sich fort. Das beruhigte ihn ein wenig, und er ging wieder hinunter.

Im Gewächshaus setzte er sich auf einen Schemel und betrachtete die gekrönten Tiere reuevoll. Sie bestanden aus einer Krähe, einem Schaf, einem Truthahn, zwei Turteltauben, einem Pony und verschiedenen Fragmenten. Sie hatte die Jasminzweige mit einem Kleckschen feuchten Tons oben auf den Köpfen befestigt und war offenbar dabei überrascht worden, als sie einen Zweig in den Schnabel einer der Tauben legen wollte, denn er hing daran an einem kleinen Tonfaden. Er löste den Zweig los und steckte ihn sich ins Knopfloch. Die arme kleine Sylvia – sie nahm sich alles furchtbar zu Herzen! Nun wollte er den ganzen Tag entsetzlich nett zu ihr sein! Auf dem Schemel balancierend, starrte er in einem fort die Wand an, gegen die sie getaumelt war; die Linie ihres weichen Kinns und ihres Halses schienen jetzt das einzige zu sein, woran er sich erinnerte. Höchst sonderbar, daß er nichts anderes sehen konnte – immer nur, wie ihr so weißer, weicher Hals auf und ab flog, etwas hinunterwürgte. Und er war daran schuld gewesen! Die Zeit bis zum Frühstück zog sich endlos hin.

Als die Stunde herannahte, drückte er sich im Vorraum herum in der Hoffnung, daß sie als erste herunterkommen würde. Endlich vernahm er Schritte und verbarg sich hinter der Tür des leeren Speisezimmers, damit sie bei seinem Anblick nicht davonliefe. Er hatte einstudiert, was er tun wolle – sich auf ihre Hand herabbeugen, sie küssen und dazu sagen: Dulcinea del Toboso ist die schönste Dame auf der Welt, und ich bin der unseligste Ritter auf Erden – die Lieblingsstelle seines Lieblingsbuches ›Don Quichotte‹. Dann würde sie ihm gewiß vergeben, und das Herz würde ihm nicht länger weh tun. Sie konnte ihn doch unmöglich weiter so elend machen, sobald sie seine wahren Gefühle kannte. Zu einer solchen Handlungsweise war sie doch zu weich und sanftmütig. Aber ach! Es war nicht Sylvia, die kam, sondern Anna, vom Schlaf erfrischt, mit ihren eisgrünen Augen und dem glänzenden Haar; und plötzlich von einer unerklärlichen Antipathie gegen sie, diese starke, kernige Gestalt ergriffen, stand er stumm da. Und dieser erste Augenblick des Alleinseins, den er in der Phantasie so oft von ihren Armen umschlossen verbracht, ging vorbei, ohne daß es auch nur zu einem Kuß gekommen wäre, denn jetzt erschienen rasch die übrigen einer nach dem andern. Von Sylvia aber erfuhr er nur durch Mrs. Doone, daß sie Kopfweh hatte und im Bett geblieben war. Ihr Geschenk lag auf der Anrichte, ein Buch namens ›Sartor Resartus‹ mit der Widmung ›An Mark – von Sylvia, 1. August 1880‹ zusammen mit einem Scheck von Gordy, einer Vorstecknadel mit einer Perle von Mrs. Doone, den ›Bausteinen von Venedig‹ von der alten Tingle und noch einem kleinen, in Seidenpapier gewickelten Paket: vier seidenen handgestrickten Krawatten in verschiedenen Schattierungen von grün, rot und blau – ein Geschenk, das wer weiß wie viele durch den Gedanken verkürzte Stunden gekostet hatte, daß er das Ergebnis dieser Arbeit tragen würde. Zwar ließ er es an äußerlicher Dankbarkeit nicht fehlen, aber ahnte er auch, was in diese Krawatten hineingestrickt worden war? Damals noch nicht.

Geburtstage existieren wie die Weihnachtstage nur dazu, zu enttäuschen. Stets nur die erzwungene Lustigkeit, die man arrangiert, stets die auf einen gerichtete Pistole: Zum Teufel, so amüsier dich doch! Wie konnte er sich amüsieren, wenn er an Sylvia in ihrem Zimmer dachte, die seine Brutalität krank gemacht hatte! Der Anblick ihres auf und ab wogenden Halses, wie sie ihren Kummer hinunterwürgte, verfolgte ihn wie ein winziges, bleiches, scheues Gespenst während der ganzen langen Fahrt über das Heidemoor, des Picknicks im Heidekraut und der langen Heimfahrt – verfolgte ihn so sehr, daß, sobald Anna ihn berührte oder ansah, er nicht den Mut besaß, ihr zu antworten, nicht einmal den Mut, ein Alleinsein mit ihr zu suchen, sondern förmlich Angst davor empfand.

Und als sie endlich wieder zurück waren und sie flüsterte: »Was ist es nur? Was hab ich denn getan?«, konnte er nur murmeln:

»Nichts! Ach nichts! Ich bin nur so 'n Unmensch gewesen!«

Bei dieser rätselhaften Antwort forschte sie begreiflicherweise in seinem Gesicht.

»Ist es wegen meines Mannes?«

Darauf durfte er jedenfalls erwidern.

»Ach nein!«

»Was ist es sonst? Sagen Sie mir's doch!«

Sie standen in dem innern Torweg und betrachteten anscheinend die alte Seekarte, die stets dort hing und über und über mit Delphinen bemalt war und mit kleinen aufgetakelten Galionen, die soeben in ihre Häfen einliefen.

»Sagen Sie mir's doch, Mark! Ich mag nicht darunter leiden!«

Was konnte er sagen, da er es selbst nicht wußte? Er stammelte, versuchte zu sprechen und brachte doch nichts heraus.

»Ist es dieses Mädchen?«

Bestürzt blickte er weg und sagte:

»Natürlich nicht!«

Sie fröstelte und ging ins Haus.

Doch er blieb stehen und starrte die Karte an, während ein Sturm der Gefühle in ihm tobte: Scham und Verwirrung, Mitleid, Ungeduld, Furcht, alles durcheinander. Was hatte er getan, gesagt, verloren? Es war das schreckliche Gefühl, nicht liebevoll und nicht ganz ehrlich gewesen zu sein, obgleich man liebevoller hätte sein können, wäre man noch weniger ehrlich gewesen. Ach, es war alles so verworren! So traurig und kalt war es in ihm geworden, als hätte er plötzlich jedermanns Liebe verloren. Da bemerkte er seinen Professor.

»Ah, Freund Lennan, Sie vertiefen sich wohl in die Vergangenheit, um die weniger romantische Gegenwart zu vergessen? Nette Dinger, diese alten Seekarten! Die Delphine sind besonders komisch.«

Es war nicht leicht, in diesem Augenblick den Anstand zu wahren. Warum war Stormer so spöttisch? Er konnte gerade nur mit Mühe entgegnen:

»Ja, Herr Professor; ich wünschte, es gäbe heute noch solche Karten.«

»Wir wünschen uns gar oft den Mond, Lennan, und er fällt doch nicht herunter.«

Seine Stimme klang fast ernst, und des Knaben Unmut wich. Stormer tat ihm leid, aber warum, wußte er nicht recht.

»Inzwischen«, hörte er seinen Professor sagen, »wollen wir uns zum Diner umkleiden.«

Als er in den Salon hinunterkam, saß Anna in ihrem mondlichtfarbenen Kleid auf dem Sofa und sprach mit – Sylvia. Er hielt sich von beiden fern; gewiß konnten sie ihn nicht brauchen. Aber seltsam schien es ihm, der nicht zuviel von Frauen verstand, daß sie so heiter reden konnte, wo sie doch erst vor einer halben Stunde gesagt hatte: »Ist es dieses Mädchen?«

Beim Essen saß er neben ihr. Wieder war es ihm unverständlich, daß sie über Gordys Geschichten so gelassen lachen konnte. Bedeuteten ihr die Worte, die sie im Toreingang geflüstert hatte, gar nichts? Und Sylvia wollte ihn nicht anblicken; er war überzeugt, daß sie jedesmal die Augen abwandte, sobald sie merkte, daß er nach ihr hinsehen wollte. Und dies rief in ihm ein wehes Gefühl hervor, alles an jenem Abend schien das Gefühl zu erregen, daß man ihm unrecht tat; er war ein Ausgestoßener und konnte nicht sagen, warum. Keine von beiden hatte er kränken wollen! Warum nur gingen sie beide darauf aus, ihn so zu kränken? Und bald überkam ihn ein Empfinden, als ob es ihm ganz egal wäre: Sie sollten ihn nur behandeln, wie sie wollten! Es gab noch andres auf der Welt als Liebe! Wenn sie ihn nicht mochten – er mochte sie auch nicht! Und er schwelgte in diesem rücksichtslosen, unseligsten Gefühl der Gleichgültigkeit mit all der Inbrunst, deren nur die Jugend fähig ist.

Doch selbst Geburtstage haben ein Ende. Und die Stimmungen und Gefühle, die so verzweifelt wirklich scheinen, gehen unter in der Unwirklichkeit des Schlafes.


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