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Dreizehntes Kapitel

In der Nacht nach Cicelys Trauung stand der Junge am Fenster seiner anheimelnden Mansarde, die eine schräge Wand hatte und leicht nach Mäusen roch. Er war müde und aufgeregt und sein Gehirn voll von Bildern. Das war seine erste Trauung gewesen, und fortwährend schwebte ihm die kleine, weiße Gestalt seiner Schwester und ihr Gesicht mit den strahlenden Augen vor. Nun war sie fort, gehörte nicht mehr ihm! Wie gräßlich nur der Hochzeitsmarsch auf der Orgel geklungen hatte, auf jenem alten, keuchenden Kasten! Und erst die Predigt! Kein Mensch wollte so was hören, wo einem das Weinen doch viel näher war. Sogar Gordy schien feuchte Augen zu haben, wie er die Braut ›hinweggab‹. Noch ganz deutlich konnte er die Gruppe vor dem Altargitter sehen, als wäre er selbst gar nicht daran beteiligt gewesen: Cis in Weiß, Sylvia in duftigem Grau, die hohe, unbewegliche Gestalt seines Schwagers, Gordy mit dem gelben Gesicht und den halbgeschlossenen Augen, der im schwarzen Rock sehr komisch aussah. Das dümmste an der ganzen Sache war, daß man mit dem Herzen dabeisein wollte und dabei doch an den Ring denken mußte, und an die Handschuhe, und ob der unterste Knopf der Weste auch offenstand, wie sich's gehörte. Mädchen konnten beides gleichzeitig tun, so schien es – Cis schien die ganze Zeit über etwas Wundervolles zu sehen, und Sylvia hatte fast einer Heiligen geglichen. Ihn selbst hatte die Stimme des Pfarrers zu sehr in Anspruch genommen und dessen berufsmäßige Art und Weise, mit der er alles erledigte, als ob er ein Rezept zusammenstellte und Weisungen erteilte, wie es anzuwenden sei. Und dennoch war es in seiner Art recht schön gewesen alle Gesichter nach einer Richtung gewendet und eine ungeheure Stille, nur der brave alte Godden hatte sich in ein kolossales rotes Taschentuch geschneuzt; und das milde Dunkel im Dachstuhl oben und in den Kirchenstühlen unten; und das Sonnenlicht, das durch die südlichen Fenster fiel! Trotz alledem war es doch so viel schöner gewesen, sich irgendwo einfach bei den Händen zu fassen und vor Gott zu erklären, was man wirklich empfand, denn im Grunde genommen war Gott alles, war er überall, nicht allein in dumpfen Kirchen. So wollte er heiraten, im Freien, in einer Sternennacht wie dieser, wo alles ringsumher so herrlich war! Gott war doch gewiß nicht so klein, wie ihn die Leute immer machen wollten – zu einer Art von überlegenem Menschen, nur eine Kleinigkeit größer als sie selbst! Sogar die allerschönsten, wunderbarsten und erhabensten Dinge, die man sich vorstellen oder die man schaffen konnte, mußten einem Gott, der einen Tempel wie die Nacht da draußen hatte, soviel wie nichts bedeuten. Aber man konnte doch nicht allein heiraten, und kein Mädchen würde jemals heiraten wollen ohne Ring und Blumen und schöne Kleider und Worte, die alles hübsch und behaglich machten! Cis hätte es vielleicht getan, sie wollte nur nicht, um die Gefühle anderer zu schonen; doch Sylvia – niemals –, sie würde sich davor fürchten. Freilich, sie war ja noch so jung! Und die Kette seiner Gedanken brach entzwei – und die Gedanken zerstreuten sich wie Perlen, wenn die Schnur reißt.

Er lehnte sich hinaus, stützte das Kinn in die Hände und sog die Nachtluft begierig ein. Geißblatt? Oder war es noch immer der Duft der Lilien? Alle Sterne am Himmel und eine Menge Eulen im Freien – vier zumindest. Was wäre die Nacht ohne Eulen und Sterne? Aber das war's ja gerade – man konnte sich niemals vorstellen, wie die Dinge aussahn, wenn sie nicht gerade das waren und dort waren, wo sie eben waren. Auch wußte man niemals, was kommen würde, und doch, wenn es dann kam, schien es, als hätte es gar nicht anders kommen können. Seltsam, man glaubte alles tun zu können, was einem gefiel, bis man's getan hatte; aber wenn's einmal getan war, dann wußte man natürlich, daß man's hatte tun müssen … Was war das für ein Licht, da unten links? Wessen Zimmer? Der alten Tingle? Nein, das kleine Fremdenzimmer – Sylvias! Sie war also noch wach! Er lehnte sich weit hinaus und flüsterte mit einer Stimme, von der sie gesagt hatte, sie wäre noch immer samtweich:

»Sylvia!«

Das Licht flackerte, er konnte gerade ihren Kopf sehen mit dem gelösten Haar, und ihr Gesicht schaute zu ihm auf. Nur undeutlich nahm er es wahr, halb mußte er sich's denken, es schien geheimnisvoll, verschwommen; er flüsterte wieder:

»Ist es nicht himmlisch?«

Das Flüstern flog zurück:

»Himmlisch!«

»Bist du nicht müde?«

»Nein; und du?«

»Kein bißchen. Hörst du die Eulen?«

»Natürlich.«

»Riecht's nicht fein?«

»Wunderbar! Kannst du mich sehn?«

»Nur grad so, nicht sehr gut. Kannst du?«

»Ich kann deine Nase nicht sehn. Soll ich die Kerze holen?«

»Nein, das wär nicht schön. Wo sitzt du denn?«

»Auf dem Fenstersims.«

»Du wirst dir noch den Hals verrenken.«

»Nein – nur – nur ein kleines bißchen.«

»Hast du Hunger?«

»Ja.«

»Wart 'nen Augenblick. Ich laß dir ein Stück Schokolade hinunter in meinem großen Badetuch; es wird bis zu dir hinunter reichen; streck die Hand aus!«

Ein deutlich sichtbarer weißer Arm reichte empor.

»Fang! Du, du frierst doch nicht?«

»Ach, keine Spur!«

»Es ist zu schön, um zu schlafen, nicht wahr?«

»Mark!«

»Ja?«

»Welcher ist dein Stern? Meiner ist der weiße, der über dem obersten Ast der großen Sykomore, von hier aus.«

»Und meiner ist der glitzernde rote über dem Gartenhaus. Sylvia!«

»Ja!«

»Fang!«

»Ach, ich könnt nicht – was war es?«

»Nichts.«

»Sag doch, was es war!«

»Nur mein Stern. Er hat sich in deinem Haar verfangen.«

»Oh!«

»Horch!«

Schweigen; dann ihr erschrecktes Wispern:

»Was gibt's?«

Und wie verhauchend flüsterte es zu ihr herab:

»Cave!«

Hatte sich etwas geregt, ein Fenster geöffnet? Vorsichtig spähte er die Fassade des dunklen Hauses entlang. Nirgends ein Licht, und auch aus ihrem Fenster unten bewegte sich nichts Verschwommen-Weißes mehr. Alles war dunkel, schien weit weg zu sein, nur der süße Duft von etwas Wundervollem lag noch in der Luft. Und dann sah er, was dieses Etwas war. Längs der Mauer unter seinem Fenster blühte weißer Jasmin – Sterne, nicht nur am Himmel. Vielleicht war der Himmel wirklich eine Wiese voll weißer Blumen, und Gott wandelte dort und pflückte die Sterne …

Als er am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam, lag ein Brief auf seinem Teller. Er konnte ihn nicht öffnen, während Sylvia an der einen Seite saß und die alte Tingle an der andern. Mit einem Gefühl des Ärgers öffnete er ihn endlich doch. Seine Angst war grundlos gewesen. Der Brief war so geschrieben, daß jeder ihn hätte lesen können; er erzählte von einem Aufstieg, von schlechtem Wetter und daß sie heimkämen. Fühlte er sich erleichtert, bestürzt, erfreut, daß sie zurückkamen, oder nur unruhig und beschämt? Sie hatte seinen zweiten Brief noch nicht erhalten. Er fühlte, wie die alte Tingle sich nach ihm umwandte mit ihren merkwürdigen, scharfen, zwinkernden Augen und Sylvia ihm freimütig ins Gesicht sah. Und als er spürte, daß er im nächsten Augenblick erröten würde, sagte er zu sich: Ich will nicht! Und er wurde auch nicht rot. In drei Tagen spätestens würden sie in Oxford sein. Wollten sie dann sofort hierherkommen?

Die alte Tingle sprach. Er hörte Sylvia antworten: »Nein, ich kann vorstehende Backenknochen nicht vertragen. Sie sind so spitz!« Sylvia hatte freilich keine, ihre Wangen wölbten sich rund bis unter die Augen.

»Kannst du sie leiden, Mark?«

Er entgegnete langsam:

»Bei manchen.«

»Solche Leute haben einen starken Willen, nicht wahr?«

Hatte Anna einen starken Willen? Es wurde ihm auf einmal klar, daß er sie überhaupt nicht kenne.

Als das Frühstück vorüber und er nach seinem alten Gewächshaus gegangen war, beschlich ihn eine seltsame, unglückliche Stimmung. Er war ein schlechter Kerl, er hatte nicht halb soviel an sie gedacht, als er hätte sollen! Er zog den Brief hervor und betrachtete ihn mit furchtbarem Stirnrunzeln. Warum konnte er nicht stärker für sie empfinden? Was war eigentlich mit ihm los? Warum war er nur so ein Unmensch, Tag und Nacht nicht an sie zu denken? Lange stand er untröstlich, den Brief in der Hand, in dem kleinen dunklen Gewächshaus zwischen den Bildnissen seiner Tiere.

Bald darauf stahl er sich hinaus und ging unbemerkt nach dem Bach hinunter. Wie tröstlich – das sachte, plätschernde Geräusch des Wassers! Wie wunderbar tröstlich, ganz still auf einem Stein zu sitzen und auf die Dinge zu warten, die rund umher geschahn! Man verlor sich ganz, wenn man so dasaß, wurde gleichsam eins mit Zweigen und Steinen, Wasser und Vögeln und Himmel, kam sich nicht mehr wie solch ein Unmensch vor. Gordy würd es nie begreifen, warum er sich nichts aus dem Fischen machte, wobei doch ein Geschöpf versuchte, ein anderes zu fangen – anstatt andere Geschöpfe zu beobachten und verstehen zu lernen! Man kam niemals auf den Grund, wenn man ins Wasser blickte oder ins Gras oder Farnkraut – immer wieder gab es etwas Neues und Sonderbares. Und mit sich selbst ging es einem ebenso, wenn man so recht in sich hineinsah – furchtbar interessant doch zu verfolgen, wie alles in der Seele sich gestaltete!

Ein leichter Regen fiel jetzt nieder und klatschte leise auf die Blätter, aber Lennan hatte noch immer eine kindische Freude am Naßwerden, und so blieb er, wo er war, auf dem Stein. Manch einer sah Elfen in den Wäldern oder Nymphen tief im Wasser oder sagte wenigstens, er sehe welche; das schien ihm gar nicht so großartig zu sein. Wirklich interessant war es herauszufinden, wie sich jedes Ding vom andern unterschied und wodurch; das mußte man zuerst einsehen, ehe man ordentlich zeichnen oder modellieren konnte. Wie reizvoll war es doch, wenn die Geschöpfe, die man darstellte, genau ihre natürliche Gestalt annahmen, ohne daß man recht verstand, wieso es kam! Aber in diesen Ferien taugte er zu nichts, konnte keinen Strich zeichnen oder modellieren!

Nicht weit von ihm hatte sich ein Eichelhäher niedergelassen und blieb ruhig sitzen, seine bunten Federn ordnend. Von allen Geschöpfen waren die Vögel doch am anziehendsten! Er beobachtete ihn lange Zeit, und als er wegflog, folgte er ihm über die hohe Mauer in den Park hinein. Obwohl er die Mittagsglocke in der Ferne läuten hörte, ging er doch nicht ins Haus. Solange er hier draußen im sanften Regen mit Bäumen, Vögeln und anderen Geschöpfen zusammen war, fühlte er sich von jener trostlosen Stimmung vom Morgen frei. Erst gegen sieben ging er wieder zurück, durch und durch naß und recht hungrig.

Während des ganzen Abendessens kam es ihm vor, als ob Sylvia ihn in einem fort anblickte, als hätte sie ihn etwas fragen wollen. Sie sah sehr lieblich aus in ihrem weißen Kleid, das den Hals frei ließ, und dem goldigblassen Haar, das fast dem Mondlicht glich; und er wollte ihr zu verstehen geben, daß er keineswegs ihretwegen den ganzen Tag allein fortgewesen war. Als nach dem Essen der Tisch zum Kartenspielen hergerichtet wurde, flüsterte er ihr zu:

»Hast du gestern nacht geschlafen – danach?«

Sie nickte eifrig.

Es regnete jetzt sehr stark und rauschte und strömte in der Dunkelheit; er wisperte:

»Unsere Sterne würden heute nacht ertrinken.«

»Glaubst du wirklich, daß wir Sterne haben?«

»Vielleicht. Meiner freilich ist sicher. Dein Haar ist wirklich hübsch, Sylvia!«

Sie sah ihn an voll Zärtlichkeit und Überraschung.


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