Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Mark Lennan, der von Beaulieu durchgereist war, seine Wohnung in Chelsea betrat, ging er sofort zu dem kleinen Stoß Briefe, sah ihn zweimal hastig durch und stand dann ganz still, betäubt und mit wehem Gefühl. Warum hatte sie ihm nicht die versprochenen Zeilen gesandt? Und nun erkannte er, wenn auch noch nicht in vollem Umfang, was es hieß, eine verheiratete Frau zu lieben. In dieser Ungewißheit mußte er zumindest achtzehn Stunden warten, bis er vorsprechen konnte, um zu erfahren, was sie abgehalten hatte, bis er von ihren Lippen hören konnte, daß sie ihn noch immer liebte. Der kühlste rechtmäßige Liebhaber hatte Zutritt zu seiner Geliebten, doch er mußte sein Herz, das vor Leidenschaft glühte, zu dieser tödlichen Geduld zwingen, aus Angst, etwas zu tun, das sie gefährden könnte. Telegraphieren? Er wagte es nicht. Schreiben? Sie würde es mit der ersten Post erhalten; was aber konnte er Ungefährliches schreiben, falls Cramier es zufällig las? Sie besuchen? Das war noch unmöglicher, konnte frühestens erst um drei Uhr am nächsten Tag geschehen. Sein Blick wanderte durchs Atelier. Waren diese Hausgötter und alle seine Werke um ihn her wirklich noch dieselben, die er vor zwanzig Tagen verlassen hatte? Sie schienen nur noch zu dem einen Zweck zu existieren, daß sie kommen könnte, um sie zu sehen – kommen, um in jenem Stuhl dort zu sitzen und aus jener Tasse zu trinken, daß er ihr dieses Kissen für ihren Rücken zurechtlegen und jenen Schemel für ihre Füße herbeiholen dürfte. Und so lebhaft sah er sie in den Stuhl zurückgelehnt zu ihm herüberblicken, daß er kaum glauben konnte, sie habe noch niemals dort gesessen. Seltsam – ohne irgendeinen Entschluß gefaßt zu haben, ohne das Eingeständnis, daß ihre Liebe nicht platonisch bleiben konnte, ohne daß ihre Beziehungen sich irgendwie geändert hatten, abgesehen von einem bescheidenen Kuß und ein paar geflüsterten Worten, war doch alles anders geworden. Noch vor einem Monat hätte er sie ruhig sofort besucht, wenn er es gewünscht hätte. Es hätte harmlos und ganz natürlich ausgesehen. Jetzt aber war es unmöglich, auch nur den geringsten Schritt offen zu tun, der nicht genau den Regeln des Streng-Konventionellen entsprach. Früher oder später würde man ihn dabei ertappen, wie er das Konventionelle durchbrach, und erkennen, was er wirklich war – ein Liebender! Ein Liebender! Er kniete vor dem leeren Stuhle nieder und breitete die Arme aus. Kein Körper, keine Wärme, kein Duft, nichts! Sehnsucht allein strich durch den Raum wie der Wind durch das Gras.
Er schritt zu dem kleinen runden Fenster, das auf die Themse hinausging. Der letzte Abend im Mai; Zwielicht über dem Wasser, ruhsame Dämmerung in den Bäumen und die Luft so warm! Lieber ins Freie, in die Nacht hinaus, hinaus in die Ebbe und Flut der Dinge, unter Menschen, deren Herzen schlugen, als in diesem Zimmer bleiben, das ohne sie so kalt war, so bedeutungslos.
Die Lampen – die Passionsfrüchte der Großstadt – vertieften ihre Blässe zu orangefarbenem Gold, und die Sterne kamen hervor. Halb zehn! Um zehn Uhr, jedoch nicht früher, wollte er an ihrem Hause vorbeigehen. Dieses wenn auch noch so heimliche und nutzlose Ziel vor sich zu haben war wenigstens etwas. Aber am Samstagabend würde keine Sitzung im Parlament sein. Cramier war entweder zu Hause, oder sie waren beide aus oder vielleicht nach ihrem Haus am Fluß gefahren. Cramier! Welch grausamer Dämon hatte diesen Fehlgriff ihres Lebens zugelassen? Warum hatte er sie nicht getroffen, noch ehe sie sich an diesen Menschen gebunden? Seine stille Verachtung für einen, der entweder nicht feinfühlig genug war, um zu erkennen, daß seine Heirat ein Mißgriff gewesen, oder nicht ritterlich genug, um seine Frau diesen Mißgriff möglichst wenig fühlen zu lassen, war bereits zu eifersüchtigem Haß geworden gegen den Mann, den er für ein Ungeheuer hielt. Diesem Cramier in einem Kampf auf Tod und Leben, Auge in Auge gegenüberzustehen hätte allein seinen Gefühlen Genüge getan … Und doch war er von Natur aus sanft veranlagt!
Sein Herz schlug ungestüm, als er sich jener Gasse näherte, einer jener schönen, kleinen, alten Gassen, die einem verschwundenen London angehören. Sie war sehr eng und bot keinen Unterschlupf; und er dachte verwirrt daran, was er sagen sollte, wenn man ihn in dieser entlegenen Sackgasse antraf, die nirgends hinführte. Er würde gewiß irgendeine Lüge sagen. Lügen würden nun seine tägliche Aufgabe sein. Haß und Lüge, diese gewaltsamen Momente im Leben, würden ihm bei der Gewaltsamkeit seiner Liebe jetzt ganz natürlich vorkommen.
Einen Augenblick stand er zögernd an dem Gitter der alten Kirche. Schwarz mit weißen Adern und den sich im Halbdunkel verlierenden schattenhaften Spitzen stand sie da wie eine gigantische Vision. Das Geheimnis selbst schien hier Gestalt gewonnen zu haben. Er wandte sich um und ging rasch auf der gegenüberliegenden Seite dicht an den Häusern vorbei die Straße hinunter. Die Fenster ihres Hauses waren erleuchtet! So war sie also nicht aus! Ein trübes Licht im Speisezimmer, Licht im Zimmer darüber – gewiß ihr Schlafzimmer. Gab es denn keine Möglichkeit, daß sein Geist dort emporklettern und den ihren zu sich winken sollte? Vielleicht war sie nicht dort, vielleicht war es nur das Mädchen, das warmes Wasser heraufbrachte. Er befand sich jetzt am Ende der Straße, doch heimzukehren, ohne noch einmal vorbeigegangen zu sein, war unmöglich. Und diesmal ging er langsam, mit gesenktem Kopf, scheinbar in Gedanken verloren, und geizte mit jedem Zoll des Pflasters, und die ganze Zeit über forschte er heimlich nach dem Fenster, wo das Licht durch die Vorhänge schien. Nichts! Wieder stand er dicht an dem Gitter der Kirche, und wieder konnte er es nicht über sich bringen fortzugehen. In der kleinen, schwülen, einsamen Gasse bewegte sich keine Seele, nicht einmal ein Hund oder eine Katze; nichts war lebendig, nur die vielen, verschwiegenen erleuchteten Fenster. Wie verschleierte, regungslose Gesichter schienen sie seine Unentschlossenheit zu beobachten. Und er dachte: Ja, ja, wie viele sind genauso dran wie ich! Wie viele sind genauso nah und doch so fern! Wie viele müssen so leiden! Was hätte er nicht dafür gegeben, wenn sich jene Vorhänge geöffnet hätten! Durch eine herannahende Gestalt plötzlich aufgeschreckt, wandte er sich um und ging davon.