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Als der Oberst frühmorgens erwachte, schien ihm die Affäre mit dem Taschentuch zusehends wichtiger zu werden. Der Gatte seiner Nichte war keineswegs ein Mensch, den er besonders gern mochte – ein wortkarger Geselle, vielleicht obendrein noch brutal veranlagt, ein Mensch, der kaum 'nen andern neben sich aufkommen lassen wollte; aber da Dolly und er nun einmal Olive in ihrer Obhut hatten, war die Idee, daß der junge Lennan sich vor ihrer Nase in sie verliebte, beunruhigend für einen, der von Natur aus für Sitte und Ordnung war. Erst nachdem er wieder eingeschlafen und dann in vollem Morgenlicht erwachte, fiel ihm das Heilmittel ein. Man mußte sie ablenken! Dolly und er waren zu lässig gewesen, hatten sich zu sehr für diese merkwürdige Stadt, für die merkwürdige Gesellschaft hier interessiert! Sie hatten sie vernachlässigt, sie zu sehr … Die reinsten Kinder noch! – Das sollte man sich stets vor Augen halten. Aber es war noch nicht zu spät! Sie war doch die Tochter des guten Lindsay, konnte sich also nicht vergessen. Der arme gute Lindsay – ein feiner Kerl; nur vielleicht zuviel von einem – Hugenotten in ihm! Komisch, diese Rückschläge! Er hatte bei Pferden bemerkt: hin und wieder weiße Haare im Schweif, Haltung des Kopfes – übersprangen Generationen und traten dann wieder auf. Und Olive hatte etwas vom Aussehen ihres Vaters – denselben Elfenbeinteint, dieselbe Farbe der Augen und des Haars! Nur war sie nicht so streng wie er, nicht ganz so! Und wieder durchzuckte den Oberst die ungewisse Furcht, als hätte er ein Vertrauensamt vernachlässigt. Diese Stimmung schwand jedoch in seinem Bad.
Vor acht Uhr war er draußen – eine magere, aufrechte Gestalt in steifem Strohhut und grauen Flanellkleidern; er schritt in dem unbeschreiblichen, leichten Gang des englischen Soldaten, in jenem Gang, der so verschieden ist von dem des Franzosen, Deutschen oder irgendeiner anderen Nationalität, weil er trotz seines Drills durch die ungezwungene Haltung der Schultern das Recht, Zivil zu tragen, mit jener durchaus ruhigen, unaufdringlichen Überzeugung zu beweisen sucht, daß – was man auch dagegen sagen mag – es doch nur eine Art gibt, Kleider zu tragen und die Beine zu bewegen. Und wie er so dahinschritt, glättete er seinen herabhängenden grauen Schnurrbart und überlegte, wie seine Nichte am besten abzulenken wäre. Er ging an der Terrasse vorbei und schaute einen Augenblick nach dem Meer hinter den Taubenschießplätzen. Dann schritt er weiter um das Kasino herum nach den rückwärtigen Gärten. Ein herrlicher Ort! Kolossale Sorgfalt hatten sie auf die Pflanzen verwendet! Es erinnerte ihn ein wenig an Tushawore, wo sein alter Freund, der Raja – ein geriebener alter Gauner! –, ähnliche Gärten um seinen Palast hatte. Er ging wieder nach der Vorderseite. Es war schön und ruhig, zeitig am Morgen, die See dort unten prachtvoll, noch niemand da, der versucht hätte, einen übers Ohr zu hauen. Jawohl, es gab Kerle, die sich nicht glücklich fühlten, wenn sie einem nicht das Geld aus der Tasche stehlen konnten. Er hatte Männer gekannt, die sich nicht um Tod und Teufel scherten, Männer, die eine Ehrensache daraus machten, einen Freund um ein paar Pfund zu beschwindeln! Komischer Platz, dieses ›Monte‹ – so 'n Garten Eden, wo der Böse regierte. Und all die wahre, jedoch nie geäußerte Liebe zur Natur, die dem Oberst ein Trost gewesen war in Wüsten und in Dschungeln, bei Transporten zur See und in Zeltlagern im Gebirg, erwachte angesichts der Anmut dieses Parks. Seine liebe Mutter! Er hatte niemals die Worte vergessen, mit denen sie ihm die untergehende Sonne durch das Buschwerk da draußen in dem alten Withes Norton gezeigt, als er neun Jahre alt war: »Das ist Schönheit, Jack! Fühlst du's, Liebling?« Damals hatte er nichts gefühlt, ein dickköpfiger, nichtsnutziger Bub, der er war. Sogar als er das erstemal nach Indien ging, hatte er kein Auge für den Sonnenuntergang. Freilich, die heranwachsende Generation war anders. Das junge Paar dort zum Beispiel unter dem Pfefferbaum, das kein Wort sprach und nur in die Bäume starrte. Wie lange mochten sie wohl schon dasitzen? Und plötzlich gab's dem Oberst einen Ruck; in seinen stahlgrauen Augen erschien wieder jener Blick, der dem Tode Trotz beut. Einen Husten hinunterwürgend, machte er kehrt und ging wieder nach der Stelle, wo er vorhin gestanden, über den Taubenschießplätzen … Olive und der junge Mensch! Ein Stelldichein! So früh am Morgen! Die Erde fing zu wanken an! Das Kind seines Bruders – seine Lieblingsnichte! Die Frau, die er am meisten bewunderte – die Frau, die ihm mehr als jede andere ans Herz greifen konnte! Er lehnte sich über das Steingeländer, sah jedoch nicht mehr das weiche Grün der Taubenschießplätze noch das weiche Blau der See dahinter, er war erregt, bestürzt, verstört über alle Maßen. Vor dem Frühstück! So weit also war's gekommen! Ein umfassendes Bekenntnis sozusagen. Und obendrein hatte er gesehen, wie sich ihre Hände auf der Bank berührten. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, er hatte gesehen, ausspioniert, was nicht für seine Augen bestimmt war. Nette Lage, das! Dolly hatte zwar gestern abend auch etwas gesehen. Aber das war anders. Frauen durften allerhand sehen – man erwartete es ja von ihnen. Ein Mann jedoch – ein – ein Gentleman! Nach und nach enthüllte sich ihm die ganze Schwierigkeit seiner Lage. Die Hände waren ihm gebunden. Konnte er überhaupt Dolly befragen? Er hatte plötzlich ein Gefühl des Isoliertseins, äußerster Einsamkeit. Niemand, kein Mensch in der Welt konnte dieses geheime, dieses furchtbare Unbehagen verstehen. Stellung zu nehmen – die Stellung, die er einnehmen mußte als Olives nächster Verwandter und Beschützer und als – wie hieß es gleich – als ›Hüter‹, mit Hilfe einer Kenntnis, zu der er auf solche Art gelangt war, wenn auch noch so unabsichtlich! Kein einziges Mal während der ganzen Zeit im Regiment – und manche peinliche Ehrensache war ihm vorgekommen – hatte er mit solch einer Geschichte zu tun gehabt! Armes Kind! Aber sie verdiente es nicht, daß er so von ihr dachte. Nein, wahrhaftig nicht! Sie hatte sich nicht benommen, als ob … Und hier hielt er inne, seltsamerweise nicht imstande, sie zu verdammen. Wenn sie nun aufstünden und hierherkämen!
Er zog die Hände von dem Steingeländer zurück und begab sich nach dem Hotel. Seine Handflächen waren weiß von der Gewalt des Griffes. Im Gehen sagte er zu sich: ›Ich muß die ganze Sache ruhig überlegen; ich muß darüber nachdenkend Das beruhigte ihn etwas. Auf alle Fälle konnte er auf den jungen Lennan böse sein. Doch sogar dabei kam er zu seiner Bestürzung zu keinem endgültigen Urteilsspruch. Und diese Aussichtslosigkeit, zu einer festen Meinung zu gelangen, die ihm ganz ungewohnt war, verstimmte ihn entsetzlich. In der Art und Weise, wie der junge Mann neben ihr gesessen – so still, fast schüchtern –, lag etwas, das ihn gerührt hatte. Eine schlimme Sache, alle Wetter! – Sehr schlimm! Die beiden gaben aber doch ein hübsches Paar ab. Hol's der Kuckuck! So ging's nicht weiter! Der Kaplan der kleinen englischen Kirche, der in diesem Augenblick vorbeiging, rief ihm zu: »Schöner Morgen, Herr Oberst!« Der Oberst nickte dankend und gab keine Antwort. Dieser Gruß in einem solchen Augenblick erschien ihm lächerlich! Wie konnte nur ein Morgen schön sein, an dem er eine solche Entdeckung gemacht. Er trat ins Hotel, ging ins Speisezimmer und setzte sich nieder. Es war niemand da. Alle nahmen ja ihr Frühstück auf ihrem Zimmer ein, sogar Dolly. Olive allein stand ihm gewöhnlich bei, während er sein englisches Frühstück zu sich nahm. Und plötzlich merkte er, daß er dieser schrecklichen Situation schon Auge in Auge gegenüberstand. Zu frühstücken, ohne wie sonst auf sie zu warten, schien zu absichtlich. Sie könnte jetzt jede Minute hereinkommen. Auf sie warten und mit ihr essen, ohne irgend etwas merken zu lassen – wie sollte er das fertigbringen?
Er hörte ein leichtes Rascheln hinter sich. Da war sie schon – und noch immer kein Entschluß gefaßt. In diesem Augenblick hoffnungsloser Verwirrung handelte der Oberst aus reinstem Instinkt, indem er aufstand, ihr die Wange streichelte und ihr einen Stuhl zurechtschob.
»Nun, meine Liebe«, sagte er, »hungrig?«
Sie sah so sanft, so lieblich aus! Ihr cremefarbenes Kleid ließ die dunklen Haare und die Augen, die woanders hinzuschweifen schienen, voll zur Geltung kommen; ja – es war seltsam, aber er konnte keinen andern Ausdruck dafür finden. Ihr Anblick brachte ihm keine Sicherheit, keinen Trost. Und langsam zog er die Schale von der Banane, mit der er stets sein Frühstück anfing. Ebensogut mochte man von ihm verlangen, eine zahme Taube zu schießen oder eine schöne Blume zu zerpflücken, als erwarten, daß er sie zur Rede stellen sollte, selbst wenn er es in Ehren gekonnt hätte! Und er suchte Zuflucht in der Frage:
»Ausgewesen?« Dann hätte er sich die Zunge abbeißen mögen! Wenn sie nun ›Nein‹ antwortete?
Aber sie tat es nicht. Das Blut stieg ihr zwar in die Wangen, doch sie nickte: »Es ist so herrlich!«
Wie hübsch sie aussah, als sie das sagte! Jetzt hatte er sich selbst eine Schlinge gelegt – konnte ihr nie sagen, was er gesehen hatte, nachdem er ihr diese Falle gestellt; und kurz danach fragte er:
»Irgendwelche Pläne für heute gemacht?«
Sie entgegnete, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken:
»Mark Lennan und ich wollen mit Maultieren von Mentone hinauf nach Gorbio.«
Er war einfach baff über ihre Festigkeit – noch nie hatte er seines Wissens eine Frau getroffen, die sich so nach allen Seiten hin verschanzte, um eine Liebe zu bewahren, die der Welt ins Gesicht schlug. Wie sollte man wissen, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg? Und in einer Verwirrung der Gefühle, die sich fast zum Schmerz steigerte, hörte er sie sagen:
»Wirst du und Tante Dolly mitkommen?«
Zwischen seinem Verantwortlichkeitsgefühl und der Abneigung, Spielverderber zu sein; zwischen der Kenntnis der Gefahr, in der sie schwebte, und der halb mitleidigen Bewunderung bei ihrem Anblick; zwischen der wirklichen Mißbilligung einer unerlaubten und heimlichen Geschichte (denn was war es schließlich andres?) und einer vagen Vermutung, daß hier etwas vorläge, das zu ergründen er vollkommen unfähig war – etwas, das vielleicht niemand andern anging als diese beiden – zwischen diesen Extremen schwankte er haltlos hin und her. Und er stammelte:
»Ich muß deine Tante fragen; sie ist – sie verträgt das Reiten auf dem Maultier nicht recht.«
Dann, von einem Impuls reiner Zuneigung getrieben, sagte er mit überraschender Plötzlichkeit: »Meine Liebe, ich hab dich schon oft fragen wollen – bist du zu Hause glücklich?«
»Zu Hause?«
Es lag etwas Trostloses in dem Ton, mit dem sie diese Worte wiederholte, als ob sie der Begriff seltsam berührte.
Sie trank ihren Kaffee und stand auf; und der Oberst fürchtete sie, wie sie so dastand, fürchtete das, was sie ihm sagen würde. Er wurde ganz rot. Doch schlimmer als alles sie sagte überhaupt nichts, zuckte nur die Achseln mit einem schwachen Lächeln, das ihm ins Herz schnitt.