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In ihrem äußerst vornehmen Hotel ›Le Cœur d'Or‹, das längst umgebaut und umgetauft ist, lag Mrs. Ercott in ihrem Messingbett und schaute beim Sternenlicht nach dem Oberst in seinem Messingbett. Ihr Kopfkissen war sorgsam von den Ohren zurückgeschoben, denn sie glaubte einen Moskito zu hören. Da sie über dreißig Jahre lang die Lebensgefährtin eines Mannes gewesen war, dessen Wohlbefinden von der liebevollen Aufmerksamkeit dieser kleinen Biester abhing, so waren sie ihr unsympathisch. Das war der einzige Punkt, in dem vielleicht ihre Phantasie stärker war als ihr gesunder Menschenverstand. Denn in Wirklichkeit war und konnte gar kein Moskito da sein, weil der Oberst, wenn er nach einem Orte kam, der südlicher lag als der 46. Breitengrad, sofort die Fenster weit öffnete und über diesen luftigen Raum ein Moskitonetz mit vielen kleinen Reißstiften annagelte, während sie ihn fest bei den Rockschößen hielt. Die Tatsache, daß andere ihre Fenster nicht so verwahrten, störte den Oberst durchaus nicht, der als wahrer Engländer gern handelte, wie er selbst es für gut hielt, aber dachte, wie andere es für gut hielten. Hernach pflegten sie zu warten, bis es dunkel wurde, brannten dann eine besondere kleine Lampe mit einem besondern leichten Geruch, und in dem grellen Gaslicht standen sie in Pantoffeln auf Stühlen, die Augen auf wirkliche oder vermeintliche Biester geheftet. Hierauf fielen kleine Klapse, die meist ein kleines Blutbad anrichteten, und kleine freudige oder schmerzliche Rufe wurden hörbar: »Den hab ich erwischt!« »Ach, John, ich hab daneben gehauen!« Und in der Mitte des Zimmers stand der Oberst in Nachtgewand und Brille (welch letztere er nur in sehr feierlichen Momenten ganz vorne auf der Nase trug) und drehte sich langsam um, während seine Augen, in denen ein Blick lag, der dem Tode Trotz beut und den er schon lange angenommen hatte, Wände und Decke Zoll für Zoll absuchten, bis er schließlich sagte: »Na, Dolly, wir haben sie alle!« Worauf sie dann erwiderte: »Gib mir einen Kuß, Lieber!« und er sie küßte und sich ins Bett legte.
Es war also kein Moskito vorhanden, nur dessen Geist, der gewöhnlich in der Phantasie dieser Frau spukte, die ihrem Gatten so ergeben war. Während sie nach seinem Profil spähte – denn er lag auf dem Rücken –, unterdrückte sie die Worte: ›John, bist du wach?‹ Ein pfeifender Laut kam aus der Nase, die, obwohl ursprünglich gerade, durch die Ausübung militärischer Pflichten eine leichte Krümmung erhalten hatte, einen halben Zoll unter den angegrauten Augenbrauen, die ein wenig in die Höhe gezogen waren, wie aus Erstaunen über die Töne da unten. Sie konnte ihn kaum sehen, aber sie dachte: Wie lieb er aussieht! Und das war in der Tat richtig. Es war das Gesicht eines Mannes, der einer bösen Handlung unfähig ist, und zeigte in seinem Schlafe die Aufrichtigkeit eines Menschen, der im Herzen ein Kind ist, die Aufrichtigkeit derer, die nie verstanden haben, auf Abenteuer des Geistes auszugehen und stets nur Abenteuer des Körpers suchten. Dann sagte sie doch auf einmal:
»John! Schläfst du?«
Der Oberst, der sofort wie in frühern Zeiten bei einem Angriff wach wurde, erwiderte:
»Ja.«
»Der arme junge Mann!«
»Wer?«
»Mark Lennan. Hast du's nicht gesehn?«
»Was?«
»Mein Lieber, es geschah vor deiner Nase. Aber für solche Dinge hast du ja keine Augen!«
Der Oberst drehte langsam den Kopf herum. Seine Frau besaß eine starke Einbildungskraft! Sie war immer so gewesen. Undeutlich fühlte er, daß ihr irgendeine romantische Sache auf der Zunge schwebte. Doch mit der fast berufsmäßigen Sanftmut eines Mannes, der seinerzeit manch einem Kopf und Arme abgehauen, fragte er:
»Was für Dinge?«
»Er hat ihr Taschentuch aufgehoben.«
»Wessen?«
»Olives. Er hat es in seine Tasche gesteckt. Ich hab es ganz genau gesehen.«
Schweigen folgte; dann ertönte Mrs. Ercotts Stimme wieder, wie unpersönlich, weit weg:
»Was mich bei jungen Leuten immer wieder in Erstaunen setzt, ist, daß sie glauben, man sieht sie nicht – die armen Hascher!«
Noch immer herrschte Schweigen.
»John, denkst du nach?«
Denn ein lautes Atmen, kein bloßes Pfeifen mehr, kam von dem Oberst – ein sicheres Zeichen für seine Frau.
Und er dachte wirklich nach. Dolly besaß eine starke Einbildungskraft, aber etwas sagte ihm, daß sie in diesem besonderen Falle doch nicht weit übers Ziel geschossen hatte.
Mr. Ercott setzte sich auf. Er sah freundlicher aus denn je; eine kleine verwunderte Falte stand zwischen seinen hochgezogenen Augenbrauen und verlor sich in den Runzeln auf seiner Stirn.
»Ich hab Olive sehr gern«, sagte er.
Mrs. Ercott fiel auf die Kissen zurück. In ihrem Herzen saß gerade nur eine Spur von Bitternis, die bei einer Frau über fünfzig, deren Gatte eine Nichte hat, so natürlich ist.
»Zweifellos«, murmelte sie.
Irgendeine unerklärliche Regung bewegte den Oberst; er streckte seine Hand aus. In dem Streifchen Dunkel zwischen den Betten traf sie eine andere Hand, die die seine fest drückte.
Er sagte: »Hör mal, meine Liebe!« und schwieg wieder.
Mrs. Ercott dachte nun ihrerseits nach. Ihre Gedanken waren flink und eintönig wie die Stimme, doch besaß sie jene Art von Gefühl, das die geistigen Anstrengungen von Frauen mit gutem Herzen begleitet. Der arme junge Mann! Die arme Olive! Aber brauchte man eine Frau zu bemitleiden, die so hübsch war wie sie? Wenn man alles recht bedachte, hatte sie doch einen sehr gut aussehenden Mann zum Gatten – im Parlament, mit einer Karriere, und der sie gern hatte, ganz entschieden. Ihr kleines Haus in London, so nahe bei Westminster, war wirklich entzückend, und etwas Reizenderes als ihr Landhaus an der Themse konnte es gar nicht mehr geben. War Olive denn zu bemitleiden? Und dennoch – war sie nicht glücklich. Es nützte nichts, sich vorzutäuschen, daß sie glücklich war. Man hatte gut sagen, daß solche Dinge in der eigenen Hand lägen, wer jedoch Romane las, der wußte, daß es anders war. Es gab so etwas, das man ›Nichtzusammenpassen‹ nannte. Jawohl! Und dazu kam noch der Unterschied in ihrem Alter! Olive war sechsundzwanzig. Robert Cramier zweiundvierzig. Und nun war dieser junge Mark Lennan in sie verliebt. Wie aber, wenn auch sie in ihn verliebt war? Dann würde es John vielleicht klarwerden, daß jung sich zu jung gesellte. Denn die Männer, sogar die besten wie John, waren komisch! Sie würden nicht im Traume daran denken, für einen ihrer Neffen das zu empfinden, was John offenbar für Olive empfand.
Die Stimme des Obersten unterbrach ihre Gedanken:
»Netter junger Mensch, dieser Lennan! Wirklich schade! Würde besser kehrtmachen, wenn er zu sehr …«
Ein wenig unerwartet gab sie zurück:
»Wenn er nun aber nicht mehr kann?«
»Nicht mehr kann?«
»Hast du noch nie etwas von einer ›grande passion‹ gehört?«
Der Oberst stützte sich auf seinen Ellbogen. Das war wieder eine jener Gelegenheiten, die ihm bewies, wie während der letzten Jahre seines Dienstes in Madras und Ober-Burma, als Dolly die Hitze nicht vertragen konnte, sie in London eine merkwürdige Art angenommen hatte, die Dinge zu betrachten – als wenn sie nicht so – nicht ganz so recht oder unrecht wären, wie sie's seinem Empfinden nach eben waren. Und er wiederholte diese beiden französischen Worte auf seine Weise und fügte hinzu:
»Sag ich nicht genau dasselbe? Je eher er ihr aus dem Weg geht, um so besser.«
Jetzt setzte sich Mrs. Ercott ebenfalls auf.
»Sei kein Unmensch!« sagte sie.
Der Oberst hatte plötzlich das gleiche Gefühl, wie wenn man sein Essen nicht verdaut. Weil der junge Lennan in Gefahr war, sich in eine ehrlose Sache zu verstricken, mußte er sich sagen lassen, er solle kein Unmensch sein! Wahrhaftig, Dolly war …! Der weiße verschwommene Fleck ihrer neuen Nachthaube kam ihm plötzlich unangenehm zum Bewußtsein. Sie fing doch nicht am Ende an – unenglisch zu werden! In ihrem Alter!
»Ich denk an Olive«, sagte er, »ich will nicht, daß sie von solchen Sachen behelligt wird.«
»Vielleicht kann Olive für sich selber sorgen. Heutzutage ist es eine undankbare Geschichte, sich in Liebesaffären einzumengen.«
»Liebesaffären!« murrte der Oberst. »Wie? Bah!«
Wenn die eigene Frau so – so 'ne Sache Liebe nannte, warum war er ihr dann treu geblieben – noch dazu in sehr heißem Klima – die ganzen Jahre hindurch? Ein Gefühl der Vergeudung und der Ungerechtigkeit bäumte sich in ihm auf gegen alle seine Grundsätze, die mit gewissen Worten einen gewissen Sinn verbanden und nach denen er gehandelt hatte. Und dieser Aufruhr verursachte ihm ein seltsames, peinliches Gefühl. Liebe! Es war kein Wort, das man so leichtsinnig gebrauchen sollte! Liebe führte zur Ehe; dies konnte nicht zur Ehe führen, höchstens durch eine Scheidung. Und plötzlich sah der Oberst seinen verstorbenen Bruder Lindsay, Olives Vater, vor sich; wie er da im Dunkel stand mit seinem ernsten, scharf geschnittenen, elfenbeinblassen Antlitz unter dem schwarzen Haar, das von einer französischen Ahnfrau stammen sollte, die bei dem Blutbad der Bartholomäusnacht geflohen war. Immer ein anständiger Kerl gewesen, der Lindsay – schon ehe man ihn zum Bischof gemacht hatte! Eigentlich komisch, daß Olive seine Tochter war. Nicht, daß sie nicht aufrecht gewesen wäre, durchaus nicht! Aber sie war nachgiebig! Lindsay war anders gewesen. Wenn der gesehen hätte, wie der junge Mensch ihr Taschentuch einsteckte! Aber hatte der junge Lennan das wirklich getan? Dolly besaß 'ne rege Phantasie! Wahrscheinlich hatte er es für seines gehalten; wenn er sich zufällig die Nase geputzt hätte, würde er es schon gemerkt haben. Denn bei seiner fast kindlichen Rechtschaffenheit hatte der Oberst wirkliches Verwaltungstalent und einen gut entwickelten Sinn für praktische Werte; eine Unze Tatsachen war ihm mehr wert als ein Pfund Theorien! Die Theorie war eben Dollys Steckenpferd. Gott sei Dank handelte sie niemals danach! Er sagte sanft:
»Meine Liebe, der junge Lennan ist vielleicht ein Künstler oder so was, aber er ist ein Gentleman. Ich kenn den alten Heatherley, seinen Vormund. Ich selbst hab ihn doch Olive vorgestellt!«
»Was hat das damit zu tun? Er ist in sie verliebt.«
Als einer aus der großen Masse derer, die sich ohne viel Federlesens zu einem Glauben bekennen, ohne auch nur im Traum daran zu denken, seinen Wurzeln und Gründen nachzuforschen, fühlte sich der Oberst in Verlegenheit gebracht. Wie ein Eingeborener auf einer Insel, umbrandet von stürmischen Meeren, die er sein ganzes Leben lang nur mit verächtlichem Schrecken betrachtet hat, auf die er sich aber nie hinausgewagt, wurde er nun aus der Fassung gebracht, da er jetzt die Küste verlassen sollte. Und noch dazu seine eigene Frau verlangte es!
Mrs. Ercott hatte eigentlich gar nicht beabsichtigt, so weit zu gehen; doch es war in ihr wie in allen Frauen, deren Gehirne tätiger sind als die ihrer Gatten, etwas, das sie stets anstachelte, ein wenig weiter zu gehen, als sie wollte. Mit wahrer Zerknirschung hörte sie den Oberst sagen:
»Ich muß aufstehn und 'nen Schluck Wasser trinken.«
Im nächsten Augenblick war sie aus dem Bett. »Nicht ungekocht!«
Sie hatte ihn also ernstlich beunruhigt! Jetzt würde er nicht schlafen können – das Blut stieg ihm so rasch zu Kopf! Er würde nur so wach daliegen und sich bemühen, sie nicht zu stören. Sie konnte es nicht ertragen, daß er sie nicht stören wollte. Sie kam sich dann so furchtbar egoistisch vor! Sie hätte doch wissen können, daß dieses Thema zu gefährlich war, um bei Nacht diskutiert zu werden. Sie fühlte, wie er gerade hinter ihr stand; seine Gestalt sah recht mager aus in dem dünnen Gewand, sein Gesicht seltsam abgespannt.
»Wenn du mir nur nicht diesen Gedanken in den Kopf gesetzt hättest!« sagte er. »Ich hab Olive sehr gern.«
Wieder empfand Mrs. Ercott jenen eifersüchtigen Schmerz, den sie jedoch diesmal über der mütterlichen Fürsorge einer kinderlosen Frau für ihren Gatten schnell vergaß. Er sollte sich keine Sorge machen! Sie durfte ihm keine Sorgen machen! Und sie sagte:
»Das Wasser kocht. Schlürf langsam ein volles Glas und geh zu Bett, sonst muß ich deine Temperatur messen.«
Gehorsam nahm der Oberst das Glas aus ihrer Hand, und während er das Wasser schlürfte, streichelte sie leise seinen Kopf.