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Während sie im Wagen saß, und später dann in ihrem Zimmer, sah sie immer nur diesen Blick ihres Geliebten vor sich, diesen harten, schmerzerfüllten Blick. Sie wußte, wie leicht er verzweifelte, wie rasch er entschlossen war, nichts mehr zu wollen. Sie hatte ihn damals am Ufer des Arno gesehen, wie er vor ihr flüchten wollte. Damals war sie trotz ihrer Angst und allem Schmerz noch glücklich gewesen, denn sie hatte ihm nachstürzen dürfen und ihm zugerufen: »Komm!«
Und auch dieses Mal, obgleich sie von Menschen umgeben und beobachtet war, hätte sie irgendeinen Ausweg finden, ihm irgendein Wort sagen müssen, ihn nicht in dieser stummen Verzweiflung fortgehen lassen dürfen. Aber sie war zu sehr erschrocken gewesen; all ihre Kraft hatte sie verlassen. Der ganze Zwischenfall war so sinnlos gewesen und so rasch vor sich gegangen. Gegen Le Ménil fühlte sie jenen primitiven Zorn, wie gegen einen Stein, an dem man sich den Kopf gestoßen hat. Aber sich selbst machte sie die bittersten Vorwürfe, daß sie ihren Freund hatte fortgehen lassen, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Blick, in dem ihre ganze Seele lag.
Sie ging ungeduldig auf und ab, während Pauline auf sie wartete, um sie auszukleiden. Dann blieb sie plötzlich stehen. In dem dunklen Spiegel, der das Licht der Kerzen widerstrahlte, sah sie den Korridor des Theaters und Dechartre, der sie verließ, um nie wieder zu ihr zurückzukehren.
Wo mochte er jetzt sein? Und was dachte er in seiner Einsamkeit? Es war eine Todesqual für sie, nicht gleich zu ihm eilen zu können.
Sie preßte beide Hände vor die Brust, als ob sie ersticken müßte. Pauline stieß einen leichten Schrei aus, als sie Blutstropfen auf der weißen Taille ihrer Herrin sah. Ohne es selbst zu merken, hatte Thérèse sich die Hand an der roten Lilie geritzt. Sie löste das Kleinod von der Brust, das blutende Symbol ihres Geheimnisses, das sie vor aller Welt am Herzen getragen. Und während sie es zwischen den Fingern hielt, betrachtete sie es lange. Sie dachte an die Tage in Florenz, an die Zelle in San Marco, wo der Kuß des Geliebten sanft ihre Lippen berührt hatte, während sie mit halbgeschlossenen Augen die Engel und den blauen Himmel auf den Wandgemälden, in verschwommenen Umrissen vor sich sah. Sie sah die Loggia dei Lanzi und den Eishändler mit seinem blitzenden Kupfergefäß auf dem roten Tischtuch, und sie dachte an das Gartenhaus in der Via Alfieri mit den Nymphen und Ziegen und an das Zimmer, wo die Schäfer auf den Wandschirmen den Schrei ihrer Wonne und ihr langes Schweigen mit angehört hatten.
Und alles das konnte ja nicht nur der Schatten von etwas Vergangenem, nicht nur das Gespenst ihrer einstigen Liebesstunden sein. Es war die greifbare Gegenwart der Liebe. Und ein törichtes Wort, das ein Fremder zwischen sie geworfen hatte, sollte jetzt alles zerstören! Nein, zum Glück war das nicht möglich. Ihre Liebe konnte nicht von solchen elenden Kleinigkeiten abhängen. Hätte sie nur zu ihm hineilen können, so wie sie war, halb ausgekleidet jetzt in der Nacht in sein Zimmer treten. Sie würde ihn vor dem Feuer sitzend finden, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf zwischen den Händen – ganz in seinem Schmerz versunken. Und dann würde sie seine Haare streicheln und ihn zwingen, den Kopf zu erheben und zu sehen, daß sie ihn liebte, daß sie sein war, sein Eigentum, sein lebender Reichtum an Freude und Liebe.
Sie hatte die Kammerjungfer fortgeschickt und sich zu Bett gelegt. Und während sie bei der brennenden Lampe dalag, bewegte sie nur einen einzigen Gedanken in ihrem Geiste.
Es war ein Zufall, ein unsinniger Zufall. Er mußte es ja einsehen, daß ihre Liebe mit dieser Dummheit nichts zu schaffen hatte. Was für ein Wahnsinn, sich um eines andern willen zu beunruhigen! Als ob es für sie überhaupt noch einen andern Mann auf der Welt gäbe!
Ihr Gatte hatte leise die Tür geöffnet, und als er das Licht sah, trat er ein.
»Schläfst du noch nicht, Thérèse?«
Er hatte noch mit seinen Kollegen bei Berthier d'Eyzelles konferiert und wollte seine Frau um einige Punkte befragen, er gab sehr viel auf ihr Urteil. Vor allem lag ihm daran, eine aufrichtige Ansicht zu hören.
»Jetzt wären wir also soweit«, sagte er, »ich weiß, teure Freundin, daß du mir helfen wirst. Meine Stellung ist, obgleich mich alle darum beneiden, eine äußerst schwierige und gefährliche. Und zum Teil verdanke ich sie ja dir, da es vor allem der mächtige Einfluß deines Vaters ist, der mich vorwärts getragen hat.«
Dann fragte er sie um Rat wegen der Wahl eines Kabinettssekretärs.
Sie riet ihm, so gut sie konnte. Sie fand ihn ganz vernünftig und ruhig und wenigstens nicht unverständiger als die andern.
Er erging sich jetzt in Betrachtungen.
»Ich muß das Budget jetzt vor dem Senat so verfechten, wie es von der Kammer verabschiedet worden ist. Es enthält Neuerungen, die ich nicht billigte. Als Deputierter habe ich sie bekämpft, aber als Minister muß ich sie verteidigen. Damals betrachtete ich die Dinge von außen, aber von innen gesehen, erscheinen sie mir in einem ganz anderen Licht. Und außerdem bin ich jetzt nicht mehr frei in meinen Entschlüssen.«
Dann seufzte er: »Ach, wenn man wüßte, wie wenig wir ausrichten können, wenn wir ans Ruder gelangt sind.«
Dann erzählte er ihr von seinen Eindrücken. Berthier verhielt sich reserviert, und die andern ließen nichts durchblicken. Nur Loyer trat sehr diktatorisch auf.
Sie hörte ohne besondere Aufmerksamkeit, aber auch ohne Ungeduld zu. Sein bleiches Gesicht und seine matte Stimme zeigten ihr wie eine Uhr die Minuten, die langsam eine nach der andern verrannen.
»Bizarre Einfälle hat Loyer gehabt. Im gleichen Atem erklärte er sich als strenger Anhänger des Konkordates und rief: ›Die Bischöfe sind geistliche Präfekten. Ich werde sie schützen, da sie zu mir gehören. Und mit ihnen werde ich auch die Gendarmerie der Seele, die Pfarrer, in der Hand haben.‹«
Dann machte er sie darauf aufmerksam, daß sie jetzt in einer andern Gesellschaft verkehren müsse als die, welche sie gewohnt war. Ohne Zweifel würden diese Leute ihr manchmal gewöhnlich vorkommen. Aber seine jetzige Stellung machte es notwendig, gegen alle höflich zu sein. Übrigens konnte er ja auf ihren Takt und auf ihre Selbstlosigkeit rechnen.
Sie sah ihn etwas erschrocken an: »Aber das eilt ja nicht, mein Freund, das werden wir alles später sehen.«
Er war müde und angegriffen und wünschte ihr jetzt gute Nacht. Sie sollte doch lieber schlafen. Sie würde ihre Gesundheit noch zugrunde richten, wenn sie des Nachts immer lese. Damit verließ er sie.
Thérèse lauschte dem Geräusch seiner Schritte, die etwas schwerer klangen als gewöhnlich, wie er durch sein Arbeitskabinett, in dem diplomatische Schriftstücke und Zeitungen sich häuften, in sein Zimmer ging, vielleicht um zu schlafen. Und nun senkte sich die nächtliche Stille bedrückend auf sie herab. Sie blickte auf die Uhr, es war halb zwei.
Und sie dachte: ›Er leidet jetzt ebenso wie ich. Er hat mich so zornig und verzweifelt angeblickt.‹
Aber ihr leidenschaftlicher Mut war ungebrochen. Was sie so ungeduldig machte, war, daß sie hier gefangen war, wie eine Gefangene in Einzelhaft. Aber wenn der Tag anbrach, war sie wieder frei und konnte zu ihm gehen, ihn sehen und ihm alles erklären. Es war ja alles so klar. Und während sie immer von denselben schmerzlichen Gedanken gequält dalag, horchte sie auf die Wagen, die in langen Zwischenräumen über den Quai rollten. Dieses Geräusch, das ihr die Stunden teilte, beschäftigte sie und interessierte sie beinah. Aufmerksam lauschte sie dem Rasseln, das erst schwach, wie aus weiter Ferne, klang und dann immer lauter herankam. Man konnte deutlich das Rollen der Räder, das Knarren der Achsen und das Stampfen der Hufe unterscheiden. Dann wurde es allmählich schwächer und verlor sich in der Ferne.
Und wenn es wieder still geworden war, kamen die Gedanken von neuem über sie.
Er mußte ja fühlen, daß sie ihn liebte, daß sie niemals einen andern geliebt hatte. Das Unglück war, daß die Nacht so langsam verging. Sie wagte nicht auf die Uhr zu sehen aus Furcht, daß sie nichts zeigte als die niederdrückende Unbeweglichkeit der Zeit.
Nun stand sie auf, ging an das Fenster und schlug die Vorhänge zurück. Ein bleicher Lichtschein lag über dem bewölkten Himmel. Sie glaubte, daß es schon der erste Schein des anbrechenden Tages sei, und schaute auf die Uhr. Es war halb vier. – Dann kehrte sie, von der dunklen Unendlichkeit da draußen angezogen, zum Fenster zurück und blickte hinab. Auf dem Trottoir spiegelten sich die Gasflammen, und ein stiller Regen rieselte vom bleichen Himmel herab. Plötzlich klang eine menschliche Stimme durch die Nacht, erst in schrillen Tönen, dann immer dumpfer und abgerissener, als ob sie sich in mehrere Stimmen gespalten hätte, die einander antworteten. Es war ein Betrunkener, der über das Trottoir wankte und hier und da gegen die Bäume anstieß. Dabei hatte er einen langen Wortwechsel mit den Gestalten seiner Träume, denen er edelmütig seine Stimme lieh und die er dann mit mächtigen Worten und Gebärden niederschmetterte. Thérèse sah den armen Kerl in seinem weißen Kittel die Quaimauer entlangschwanken, einem Fetzen gleich, der vom Nachtwind getrieben wird. Sie konnte einzelne Worte verstehen, die er immer wiederholte: »Ja, das werde ich ihr sagen, der Regierung!«
Allmählich wurde ihr kalt, und sie legte sich wieder ins Bett. Und jetzt kam ihr eine Befürchtung. Sie dachte: Er ist wahnsinnig eifersüchtig. Das ist etwas, was in seinem Blut und seinen Nerven liegt. Aber auch seine Liebe liegt in seinem Blut und seinen Nerven. Liebe und Eifersucht ist eins bei ihm. Ein anderer würde begreifen und sich zufriedengeben, wenn nur seine Eitelkeit nicht darunter litte. Aber er war eifersüchtig im tiefsten Innern und mit jeder Fiber seines Körpers. Sie wußte, daß er geradezu physisch darunter litt und daß die Wunde durch seine lebhafte, quälende Phantasie immer wieder aufgerissen wurde. Ja, sie wußte, wie tief er litt. Sie hatte gesehen, wie bleich er geworden war, als sie vor der Bronzestatue des heiligen Markus einen Brief in den Kasten an der Mauer des alten Hauses geworfen hatte, und damals besaß er sie nur in der Sehnsucht und im Traum.
Sie dachte an seine halbunterdrückten Klagen, an die jähe Traurigkeit, die ihn später manchmal nach ihrer Umarmung befallen hatte, und an den geheimnisvollen Schmerz, der in seinen oft wiederholten Worten lag: »Ich muß dich in dir selbst vergessen.« Der Brief, den er ihr nach Dinard geschrieben, fiel ihr wieder ein – seine maßlose Verzweiflung über ein Wort, das er bei Tisch in irgendeinem Restaurant gehört hatte. Aber sie verlor den Mut nicht. Sie wollte ihm alles sagen, alles gestehen. Und ihr Geständnis sollte ihm zurufen: »Ich liebe dich, ich habe nie einen andern geliebt.« Nein, sie hatte ihn nicht verraten. Sie konnte ihm nichts sagen, was er nicht schon längst ahnte. Sie hatte ja so wenig wie möglich gelogen und nur, um ihm einen Schmerz zu ersparen. Wie sollte er das nicht verstehen? Es war besser, wenn er alles wußte, denn dieses alles war ja ein bloßes Nichts. Sie dachte immer wieder dieselben Gedanken durch und wiederholte sich immer wieder die gleichen Worte.
Die Lampe verbreitete jetzt nur noch ein trübes, qualmendes Licht. Thérèse zündete eine Kerze an – es war halb sieben. Sie bemerkte, daß sie einen Augenblick geschlummert hatte. Dann eilte sie an das Fenster. Der Himmel war dunkel und floß mit der Erde in ein düsteres Chaos zusammen. Sie war auf einmal begierig, genau zu wissen, wann denn eigentlich die Sonne aufginge. Sie hatte keine Ahnung davon. Sie dachte nur, daß die Nächte im Dezember sehr lang waren. Sie suchte sich zu erinnern, konnte aber nicht daraufkommen, und es fiel ihr nicht einmal ein, den Kalender, der auf dem Tisch lag, zu befragen. Wie eine glückbringende Verheißung schlugen die schweren Schritte der Arbeiter, die jetzt truppweise vorbeikamen, und das Gerassel der Milch- und Gemüsewagen an ihr Ohr. Und bei diesen ersten Tönen, die aus der erwachenden Stadt zu ihr herüberdrangen, erbebte sie.