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Man hatte sich zum Diner angekleidet. Miß Bell saß im Salon und zeichnete Ungeheuer, in der Art der phantastischen Zeichnungen Leonardos. Sie schuf sie, um zu wissen, was sie dann sagen würden; denn sie war ganz sicher, daß sie sprechen und in seltsam phantastischen Versen ungewöhnliche Gedanken äußern würden. Sie würde ihnen lauschen. Auf diese Weise ersann sie meistens ihre Gedichte.
Am Klavier saß Fürst Albertinelli und spielte leise die Siziliana: O Lola. Seine weichen Finger berührten kaum die Tasten.
Choulette benahm sich noch unpassender als gewöhnlich. Er bat um Nadel und Faden, um sich selbst seine Kleider auszubessern, und jammerte darüber, daß er sein bescheidenes, kleines Necessaire verloren hatte, das er seit dreißig Jahren bei sich trug und das ihm teuer war wegen der angenehmen Erinnerungen und der guten Ratschläge, die er von ihm empfing. Er glaubte es in einem der profanen Säle des Palazzo Pitti verloren zu haben und hielt deshalb Schmähreden auf die Medici und sämtliche italienische Maler.
Dann warf er einen bösen Blick auf Miß Bell und sagte: »Ich habe immer gedichtet, während ich meine Lumpen zusammenflickte. Mir ist am wohlsten, wenn ich mit den Händen arbeite. Wenn ich mein Zimmer ausfege, singe ich meine Lieder. Und deshalb sind sie auch den Menschen zu Herzen gegangen wie die Gesänge jener alten Bauern und Handwerker, die vielleicht schöner sind als die meinen, aber jedenfalls nicht natürlicher. Ich setze meinen Stolz darein, mein eigner Diener zu sein. Die Küsterfrau wollte mir meine Lumpen ausbessern, aber ich habe es nicht gelitten. Es ist nicht schön, wenn wir von anderen das sklavisch verrichten lassen, was wir selbst in edler Freiheit tun können.«
Der Fürst spielte nachlässig seine gleichgültige Melodie weiter. Thérèse, die seit acht Tagen mit Madame Marmet die Kirchen und Museen besuchte, dachte daran, wie langweilig die alte Dame war, wenn sie unaufhörlich auf den Bildern der alten Meister Ähnlichkeiten mit irgend jemand von ihren Bekannten herausfand. Heute morgen hatte sie im Palazzo Ricardi schon auf den Fresken Benozzo Gozzolis eine ganze Menge gefunden: Garain, Lagrange, Monsieur Schmoll, die Prinzessin Seniavine als Pagen und Monsieur Renan zu Pferde. Sie erschrak selbst, Monsieur Renan überall zu begegnen. Mit einer geschickten Wendung, die ihre Freundin zur Verzweiflung brachte, kam sie stets mit ihren Gedanken auf ihren kleinen Kreis von Gelehrten und Gesellschaftsmenschen zurück. Mit sanfter Stimme erinnerte sie an die öffentlichen Sitzungen der Akademie und an die Vorlesungen in der Sorbonne wie an die Gesellschaftsabende, an denen geistvolle und mondäne Philosophen brillierten. Und was die Frauen anbetraf, so waren sie ihrer Ansicht nach samt und sonders entzückend und untadelig. Sie ließ sich überall einladen. Und Thérèse dachte: ›Die gute Madame Marmet ist wirklich zu brav. Sie langweilt mich.‹ Sie trug sich mit dem Gedanken, sie in Zukunft oben in Fiesole zu lassen und allein in die Kirchen zu gehen. Im stillen sagte sie sich mit einem Worte, das sie von Le Ménil gehört hatte: ›Ich werde Madame Marmet abhängen.‹
Ein schlanker alter Herr betrat den Salon. Seine gewichsten Schnurrbartspitzen und sein weißer Spitzbart gaben ihm das Aussehen eines alten Offiziers. Aber sein Blick hinter den Brillengläsern verriet die zarte Güte der Augen, die sich im Dienst der Wissenschaft und des Lebensgenusses verbraucht hatten. Es war ein Florentiner, ein Freund Miß Bells und des Fürsten, der Professor Arrighi, ehemals ein Liebling der Frauen und jetzt eine Berühmtheit in der Toskana und der Ämilia wegen seiner Abhandlungen über Landwirtschaftsfragen. Gräfin Martin gefiel er auf den ersten Blick. Und wenn sie sich auch keine sehr günstigen Vorstellungen vom Landleben in Italien machen konnte, so fragte sie ihn doch interessiert über seine Methoden und die von ihm erzielten Erfolge aus.
Er ging mit Energie und Bedachtsamkeit zu Werke. »Die Erde«, meinte er, »ist wie die Frauen. Sie will, daß man ihr gegenüber weder schüchtern noch brutal ist.«
Das Ave-Maria, das von allen Glockentürmen ringsum geläutet wurde, schuf aus dem Himmel ein einziges riesiges Instrument der Kirchenmusik.
»Merken Sie, Darling, wie klingend und silbern die Florentiner Luft abends vom Geläut der Glocken ist?«
»Es ist sonderbar«, sagte plötzlich Choulette, »wir sehen aus, als ob wir auf jemand warteten.«
Vivian Bell erwiderte, sie erwarteten auch wirklich jemanden, nämlich Monsieur Dechartre. Er müßte eigentlich schon dasein, und sie fürchtete, er möchte den Zug versäumt haben. Choulette ging auf Madame Marmet zu und fragte sehr ernsthaft: »Sind Sie imstande, Madame Marmet, irgendeine Tür zu sehen, eine einfache Holztür wie Ihre – nehme ich an – oder meine, diese Tür hier oder irgendeine andere, ohne von Furcht und Schrecken gepackt zu werden bei dem Gedanken an den Besucher, der jeden Augenblick eintreten kann? Die Türen unserer Wohnungen, Madame Marmet, öffnen sich in die Unendlichkeit. Haben Sie das je bedacht? Wissen wir jemals den wahren Namen dessen, der in menschlicher Gestalt, in wohlvertrauten Zügen und in gewöhnlichen Kleidern bei uns eintritt?«
Er für seine Person könne in seinem Zimmer niemals auf die Tür sehen, ohne daß ihm diese Furcht die Haare sträubte.
Madame Marmet sah indessen die Türen ihres Salons ohne alles Grauen aufgehen. Sie kannte die Namen aller, die sie besuchten: lauter entzückende Menschen.
Choulette sah sie melancholisch an und schüttelte den Kopf: »Madame Marmet, Madame Marmet, jeder, den Sie mit seinem irdischen Namen nennen, hat noch einen zweiten Namen, den Sie nicht kennen und der sein wahrer Name ist.«
Madame Martin fragte Choulette, ob er glaube, daß ein Unglück die Schwelle überschreiten müsse, um Eingang zu den Menschen zu finden. »Es ist erfinderisch und äußerst gewandt. Es kommt durch das Fenster und durchdringt die Wände. Es zeigt sich nicht immer, aber es ist stets da. Die armen Türen sind wirklich unschuldig am Kommen solch bösen Besuches.«
Streng belehrte Choulette die Gräfin Martin, daß sie das Unglück nie und nimmer einen bösen Besuch nennen dürfte. »Das Unglück ist unser größter Lehrmeister und unser bester Freund. Es lehrt uns den Sinn des Lebens. Meine Damen, wenn Sie leiden, dann wissen Sie, was zu wissen not tut, dann glauben Sie, was zu glauben not tut, dann tun Sie, was getan werden muß, dann sind Sie, was Sie sein müssen. Sie werden die Freude finden, die das Vergnügen verjagt hat. Die Freude ist schüchtern und fühlt sich auf Festen nicht heimisch.«
Fürst Albertinelli erklärte, Miß Bell und ihre beiden französischen Freundinnen hätten es nicht nötig, erst unglücklich zu werden, um vollkommen zu sein. Die Lehre von der Vervollkommnung durch Leiden sei eine barbarische Grausamkeit und unter dem heiteren Himmel Italiens ein Greuel. Das Gespräch wurde matter, und er bemühte sich, die Läufe der graziösen und doch so banalen Siziliana wiederzufinden; sehr vorsichtig, denn er fürchtete, in eine ganz ähnliche Melodie aus dem »Troubadour« zu geraten.
Vivian Bell unterhielt sich ganz leise mit den Ungeheuern, die ihr Bleistift gebar, und beklagte sich über ihre ungereimten und listig boshaften Antworten.
»Im Augenblick«, sagte sie, »möchte ich mich nur mit Gobelinfiguren unterhalten, die ebenso blasse, altertümliche und preziöse Dinge sagen, wie sie selbst sind.«
Der schöne Fürst fing, von dem Fluß seiner Melodie getragen, zu singen an. Seine Stimme entfaltete sich wie ein Pfauenrad, blies sich auf und verklang dann in hinsterbendem »Ah – ah – ah!«.
Die gute Madame Marmet blickte nach der Glastür und sagte: »Ich glaube, da kommt Monsieur Dechartre.«
Er trat ein, frisch und angeregt, einen freudigen Zug auf dem ernsten Gesicht.
Miß Bell empfing ihn mit fröhlichem Gezwitscher: »O Monsieur Dechartre, wir warten schon ganz ungeduldig auf Sie. Monsieur Choulette hat uns böse Dinge von Türen erzählt – ja, von Türen in den Wohnungen. Er behauptete, daß das Unglück ein höchst gefälliger alter Herr sei. All diese schönen Geschichten haben Sie nun versäumt. Sie haben uns aber lange warten lassen. Und warum?«
Er entschuldigte sich; er war nur erst ins Hotel gegangen, um etwas Toilette zu machen. Er hatte nicht einmal seinen großen und guten Freund begrüßt, den bronzenen heiligen Markus in seiner Nische an der Außenmauer von Or San Michele. Dann sagte er der Dichterin einige Komplimente und wandte sich an Madame Martin. Er vermochte seine Freude nicht ganz zu unterdrücken, während er sie begrüßte: »Ehe ich von Paris abreiste, habe ich Sie noch einmal am Quai Debilly aufgesucht, und da erfuhr ich, daß Sie in Florenz bei Miß Bell den Frühling erwarten wollten. Ich habe mich so gefreut, Sie hier in Italien wiederzusehen, das mir noch nie so lieb gewesen ist wie jetzt.«
Sie fragte ihn, ob er über Venedig gereist sei und ob er in Ravenna die leuchtenden Gespenster und die Kaiserinnen im Heiligenschein aufgesucht habe.
Nein, er hatte sich nirgends aufgehalten.
Sie sagte nichts. Ihr Blick ruhte auf der Glocke des heiligen Paulinus von Nola in der Ecke.
»Sie sind ja so versunken in die Noleserin«, sagte er zu ihr.
Vivian Bell warf Papier und Bleistift beiseite. »Sie werden bald ein Wunder sehen, das Sie noch mehr rühren wird, Monsieur Dechartre. Ich habe Hand auf die Königin aller Glöckchen gelegt. Ich fand sie in Rimini, in einer ganz verfallenen Kelter, die jetzt als Speicher dient. Ich suchte dort nach alten, öldurchzogenen Holzstöcken, die ganz hart, dunkel und doch so leuchtend geworden sind. Ich habe die Glocke gekauft und eigenhändig verpackt. Ich lebe nicht mehr – ich warte nur noch. Sie werden sie ja sehen. Sie hat auf ihrem Glockenleib einen Christus am Kreuz mit der heiligen Jungfrau und dem Johannes, die Jahreszahl vierzehnhundert und das Wappen der Malatesta . . . Monsieur Dechartre, Sie passen nicht genügend auf; Sie müssen genau zuhören. Im Jahre vierzehnhundert hat sich Lorenzo Ghiberti auf der Flucht vor Krieg und Pest nach Rimini zu Paolo Malatesta begeben. Ganz gewiß stammen die Figuren auf meiner Glocke von seiner Hand. Sie werden also in der nächsten Woche hier bei mir eine Arbeit Ghibertis sehen können.«
Der Diener erschien und meldete, daß angerichtet sei. Miß Bell entschuldigte sich, daß sie ihre Gäste mit italienischer Küche bewirten müsse. Ihr Koch war ein Dichter aus Fiesole.
Als sie dann bei Tisch vor den maisstrohumflochtenen Flaschen saßen, sprachen sie von dem glückseligen fünfzehnten Jahrhundert, das sie alle so liebten. Fürst Albertinelli pries die Künstler jener Zeit; er sprach von ihrer heißen Liebe zur Kunst, von ihrem allumfassenden Geist und dem Feuer des Genies, das in ihnen loderte.
Dechartre bewunderte sie ebenfalls, aber in anderer Weise.
»Um jenen Männern, von Cimabue bis Masaccio, die ihrer Kunst so treulich dienten, wirklich gerecht zu werden, müßte das Lob einfach und klar sein wie sie selbst. Man muß sie sich in ihrem Atelier oder in ihrer Werkstatt vorstellen, wo sie als schlichte Handwerker lebten. Wenn man sie bei ihrer Arbeit gesehen hätte, würde man ihre Einfachheit und ihr Genie erst richtig beurteilen können. Sie waren unwissend und roh, hatten wenig gesehen und wenig gelesen. Ihre Augen und ihr Geist reichten nicht weiter als bis zu den Hügeln, die Florenz umschließen. Sie kannten nur ihre Stadt, die Heilige Schrift und einige Überreste von antiken Skulpturen, an denen sie studierten und die sie über alles liebten.«
»Sie haben recht«, sagte Professor Arrighi. »Ihre einzige Sorge war, die besten Verfahren in Anwendung zu bringen. Sie verwandten ihren ganzen Geist darauf, den Wandbewurf als Malgrund für ihre Fresken gut vorzurichten und die Farben gut zu reiben. Und der galt für ein Genie, der auf den Gedanken kam, eine Leinwand über das Holz zu spannen, damit das Gemälde, wenn das Holz bräche, nicht auch zunichte würde. Jeder Meister hatte seine Rezepte und seine Mischformeln, die er sorgsam geheimhielt.«
»Ach, es waren glückliche Zeiten«, fuhr Dechartre fort, »wo man noch nichts von dieser Originalität wußte, nach der wir heute so gierig streben. Damals suchte der Lehrling es seinem Meister gleichzutun. Er hatte keinen anderen Ehrgeiz als diesen; und wenn er sich von den andern unterschied, so kam das, ohne daß er es selbst gewollt hatte. Sie arbeiteten nicht um des Ruhmes willen, sondern nur, um leben zu können.«
»Und daran taten sie recht«, sagte Choulette, »es gibt nichts Besseres, als von seiner Arbeit zu leben.«
»Sie kümmerten sich nicht um die Nachwelt«, fuhr Dechartre fort, »sie wußten nichts von der Vergangenheit und dachten nicht an die Zukunft. Ihre Wünsche gingen nicht über ihr eigenes Leben hinaus. Sie setzten die ganze Kraft ihres Willens daran, gut zu arbeiten. Und in dieser Schlichtheit ihres Gemüts gerieten sie nicht so leicht auf Irrwege. Sie sahen die Wahrheit, die unser Intellekt uns verbirgt.«
Während er noch sprach, erzählte Choulette Madame Marmet, er habe heute einen Besuch bei der Prinzessin gemacht, an die er einen Empfehlungsbrief von der Marquise de Rieu erhalten hatte. Es machte ihm Freude, hervorzuheben, daß er, der Bohemien und Vagabund, bei dieser Prinzessin aus königlichem Hause empfangen wurde, zu der weder Miß Bell noch die Gräfin Martin Zutritt bekommen hätten. Sogar Fürst Albertinelli war stolz darauf, ihr einmal bei irgendeiner Zeremonie vorgestellt worden zu sein.
»Sie ist sehr fromm«, sagte der Fürst, »sie bringt den ganzen Tag mit Andachtsübungen zu.«
»Sie ist bewunderungswürdig in ihrer schlichten Hoheit«, erwiderte Choulette. »In ihrem Hause hält sie, umgeben von den Herren und Damen ihres Gefolges, auf die strengste Etikette, um sich eine Buße für ihre vornehme Herkunft aufzuerlegen, und jeden Morgen geht sie in die Kirche, um den Fußboden aufzuwaschen. Es ist eine einfache Dorfkirche, wo die Hühner aus und ein laufen und der Pfarrer mit dem Küster Briskola spielt.« Dabei beugte er sich auf den Tisch nieder und zeigte mit seiner Serviette, wie die Prinzessin den Boden aufwusch. Dann richtete er sich wieder auf und sagte bedeutungsvoll: »Nachdem ich gebührend in den verschiedenen Salons hatte warten müssen, wurde ich zum Handkuß zugelassen.«
Als er schwieg, fragte Madame Martin etwas ungeduldig: »Nun, und was hat denn diese Prinzessin mit ihrer bewunderungswürdigen schlichten Hoheit zu Ihnen gesagt?«
»Sie hat mich gefragt: ›Haben Sie Florenz besucht? Ich habe gehört, daß es seit kurzem in der Stadt sehr schöne Läden geben soll, die des Abends erleuchtet sind.‹ Und dann sagte sie: ›Wir haben hier einen sehr guten Apotheker. Selbst in Österreich gibt es keinen besseren. Er hat mir vor sechs Wochen ein Pflaster auf das Bein gelegt, das jetzt noch festsitzt.‹ – Das sind die Worte, die Maria Theresa an mich zu richten geruht hat. O diese schlichte Hoheit! Diese christliche Tugend! O Tochter des heiligen Ludwig! O wundervoller Widerhall deiner Stimme, hochheilige Elisabeth!«
Madame Martin lächelte. Sie glaubte, Choulette machte sich über die Prinzessin lustig. Aber er wies diesen Verdacht mit Entrüstung zurück. Und Miß Bell gab ihrer Freundin unrecht. Sie meinte, die Franzosen neigten dazu, immer alles als Scherz aufzufassen.
Dann wurde das Gespräch über Kunst wieder aufgenommen, die man in diesem Land mit der Luft einatmet.
»Was mich betrifft«, sagte die Gräfin Martin, »so bin ich nicht gelehrt genug, um Giotto und seine Schule bewundern zu können. Was mir besonders auffällt, ist die Sinnlichkeit dieser Kunst des Quattrocento, des sogenannten frommen Jahrhunderts. Frömmigkeit und Reinheit habe ich einzig in den trotzdem sehr hübschen Bildern von Fra Angelico gefunden. Das übrige, die Jungfrauen und Engel, sind wollüstig, kokett und mitunter von einer naiven Verderbtheit. Was haben sie denn Frommes an sich, diese jungen Heiligen Drei Könige, die schön wie Frauen sind; der von Jugend strotzende Sankt Sebastian, der eher einem schmerzensreichen christlichen Bacchus gleicht?«
Dechartre antwortete ihr, daß er genauso dächte wie sie und daß sie beide wohl recht haben müßten, da ja auch Savonarola ihre Ansicht geteilt habe, der in keinem Werk der Kunst Frömmigkeit fand und deshalb alle verbrennen wollte.
»Schon zu den Zeiten des halbmaurischen stolzen Manfred«, erklärte er weiter, »gab es in Florenz Männer, die, wie man sagte, der Sekte Epikurs angehörten. Sie suchten nach Argumenten gegen die Existenz Gottes. Der schöne Guido Cavalcanti verachtete die Dummköpfe, die noch an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Von ihm zitiert man das Wort: ›Der Tod des Menschen ist dasselbe wie der Tod des Tieres.‹ Als sich später die antike Schönheit aus den Gräbern erhob, erschien der christliche Himmel düster. Die Maler, die in Kirchen und Klöstern arbeiteten, waren weder fromm noch keusch. Perugino war Atheist und machte kein Hehl daraus.«
»Ja«, sagte Miß Bell, »aber man behauptet, daß er schwer von Begriff war und daß himmlische Wahrheiten seinen harten Schädel nicht zu durchdringen vermochten. Er war gierig und geizig und steckte ganz und gar in materiellen Interessen. Er dachte an nichts anderes als daran, sich Häuser zu kaufen.«
Professor Arrighi übernahm die Verteidigung des Pietro Vanucci aus Perugia.
»Er war ein ehrlicher Mann«, erklärte er, »und der Prior von San Gesù di Firenze tat sehr unrecht daran, ihm zu mißtrauen. Dieser Mönch übte die Kunst, Ultramarinblau herzustellen, indem er ausgeglühten Lapislazuli zerrieb. Ultramarin war also sein Gewicht in Gold wert, und der Prior, der das Geheimnis besaß, schätzte es höher als Rubine und Saphire. Er forderte Pietro Vanucci auf, die beiden Kreuzgänge seines Klosters auszumalen, und er erwartete wahre Wunder an Schönheit, weniger von der Geschicklichkeit des Meisters als von der Schönheit der mit diesem Ultramarin gemalten Himmelsgründe. Während der ganzen Zeit, die der Maler in den Kreuzgängen an dem Leben Christi arbeitete, wich der Prior nicht von seiner Seite und reichte ihm das kleine Säckchen mit dem kostbaren Pulver, das er nicht aus der Hand geben wollte. Pietro mußte unter der Aufsicht des heiligen Mannes aus dem Säckchen schöpfen. Aber er tauchte seinen Pinsel mit Farbe stets in einen Eimer Wasser, ehe er die Wand zu malen begann. Auf diese Weise verbrauchte er große Mengen von dem Pulver. Und der gute Pater seufzte, während er das Säckchen magerer und magerer werden sah: ›Jesus, welche Massen Ultramarin verschlingt doch diese Kalkwand.‹ Als die Fresken vollendet waren und Perugino von dem Mönch den vereinbarten Preis erhalten hatte, drückte er ihm ein Päckchen blaues Pulver in die Hand und sagte: ›Das gehört Euch, Pater; Euer Ultramarin, das ich mit meinem Pinsel schöpfte, sank in meinem Eimer auf den Boden. Ich habe es alltäglich gesammelt und gebe es Euch hiermit zurück. Aber lernt in Zukunft, ehrlichen Menschen nicht zu mißtrauen.‹«
»Ach«, sagte Thérèse, »es liegt gar nichts Außergewöhnliches in der Tatsache, daß Perugino geizig und doch rechtschaffen dabei war. Eigennützige Menschen sind oft sehr gewissenhaft; es gibt viel ehrliche Geizhälse.«
»Natürlich, Darling«, meinte Miß Bell, »Geizhälse wollen nicht schuldig bleiben, während die Verschwender es ganz erträglich finden, verschuldet zu sein. Sie denken kaum an das Geld, was sie haben, geschweige denn an das, was sie schulden. Ich habe ja auch nicht gesagt, daß Pietro Vanucci aus Perugia ein unehrlicher Mensch gewesen sei. Ich habe nur gesagt, daß er ein Dickschädel war und viele Häuser gekauft hat. Ich bin sehr froh, daß er dem Prior von San Gesù das Ultramarin wiedergegeben hat.«
»Da Ihr Pietro reich war«, sagte Choulette, »mußte er das Ultramarin wiedergeben. Reiche Leute sind moralisch verpflichtet, ehrenhaft zu sein, die Armen nicht!«
In dem gleichen Augenblick hielt er die Hände unter den parfümierten Wasserstrahl, den der Haushofmeister aus der Wasserkanne in das silberne Becken laufen ließ. Es war eine getriebene Kanne und eine Schale mit doppeltem Boden, die Miß Bell dem Gebrauch der Alten entsprechend nach dem Essen reichen ließ.
»Ich wasche mir die Hände«, sagte er, »von dem Übel, das Madame Martin mit Worten oder auf andere Weise anrichtet oder anrichten kann.«
Und er erhob sich grimmig und ging hinter Miß Bell, die Professor Arrighis Arm genommen hatte, aus dem Zimmer.
Der Kaffee wurde im Salon eingenommen. »Warum verurteilen Sie uns«, fragte sie, während sie einschenkte, »zu der traurigen, barbarischen Gleichheit, Monsieur Choulette? Warum? Daphnis' Flöte hätte schlecht geklungen, wenn sie aus sieben gleich langen Schilfrohren gemacht gewesen wäre. Sie wollen die schöne Harmonie von Herr und Diener, von Adel und Bürger zerstören. Sie sind ein Barbar, Monsieur Choulette! Sie haben Mitleid mit den Bedürftigen und sind erbarmungslos gegen die göttliche Schönheit, die Sie aus der Welt bannen möchten. Sie verjagen sie, Monsieur Choulette; Sie verstoßen sie, nackt und weinend. Seien Sie dessen sicher: Sie wird nicht auf Erden bleiben, wenn die armen Menschenkinder ausnahmslos schwach, armselig und unwissend sind. Wer die kunstvoll ersonnenen Gruppen, die die verschiedenen Stände der menschlichen Gesellschaft, niedere und hohe, miteinander bilden, zerstören will, ist nicht nur ein Feind von arm und reich, sondern ein Feind des Menschengeschlechtes überhaupt.«
»Feinde des Menschengeschlechtes!« erwiderte Choulette und warf Zucker in seinen Kaffee. »So nannten auch die harten Römer die Christen, die ihnen die Liebe wiesen.«
Dechartre saß neben Madame Martin und fragte sie um ihre Ansichten über die Kunst und das Schöne. Wenn sie etwas bewunderte, stimmte er ihr bei, führte sie weiter und regte sie an, es noch mehr zu bewundern; er bestürmte sie bisweilen mit zärtlichem Ungestüm. Sie sollte alles sehen, was er gesehen hatte, alles schön finden, was er schön fand. Wenn jetzt der Frühling kam, sollte sie die Gärten von Florenz besuchen. Er sah sie in Gedanken auf den edelgeschwungenen Terrassen stehen. Er sah, wie das Licht auf ihrem Nacken und in ihren Haaren spielte und wie der Schatten der Lorbeerbäume ihre Augensterne dunkler erscheinen ließ. Für ihn waren Erde und Himmel von Florenz nur da, um dieser jungen Frau als Schmuck zu dienen.
Dann machte er ihr Komplimente über die einfache Eleganz, mit der sie sich kleidete, ganz der Eigenart ihrer anmutigen Gestalt angemessen; er bewunderte die bezaubernde Kühnheit der Linien bei jeder ihrer Bewegungen. Er liebte diese heiter lebendigen, weich fließenden Toiletten voller Geist und Ungezwungenheit, die man so selten sieht und die man nie vergißt.
Sie war an Huldigungen gewöhnt, aber noch nie hatte ihr ein Kompliment so viel Freude gemacht. Sie wußte sehr wohl, daß sie sich gut zu kleiden verstand und daß ihr kühner Geschmack immer das richtige zu treffen wußte. Aber außer ihrem Vater hatte noch kein Mann ihr darüber wirklich verständnisvolle Anerkennung gezollt. Und sie hatte bisher geglaubt, daß die Männer nur die Wirkung einer Toilette zu empfinden vermöchten, ohne die sinnreiche Anordnung der Einzelheiten zu verstehen. Es gab ja wohl Männer, die Sinn für Putz hatten, aber die widerten sie gewöhnlich durch ihre weibischen Mienen und ihren zweideutigen Geschmack an. So hatte sie sich ganz darein ergeben, ihre Eleganz nur von Frauen bewundert zu sehen, aber bei diesen steckte meistens nur kleinlich übelwollender Neid dahinter. Die Bewunderung, die Dechartre ihr als Mann und Künstler entgegenbrachte, überraschte und erfreute sie. Sie nahm sein Lob freundlich entgegen, ohne es zu vertraulich und beinahe zudringlich zu finden.
»Sie sehen also auf Toiletten, Monsieur Dechartre?«
O nein, er sah nicht weiter darauf. Man sah so wenig gutangezogene Frauen, selbst heutzutage, wo sie sich ebensogut, wenn nicht besser als früher anziehen. Es machte ihm kein Vergnügen, diese wandelnden Pakete anzuschauen. Aber wenn er eine Frau vorübergehen sah, die Rhythmus und Linie hatte, so segnete er sie.
Er sprach jetzt etwas lauter, während er fortfuhr: »Wenn ich eine Frau sehe, die sich jeden Tag die Mühe gibt, sich schönzumachen, so muß ich daran denken, was für eine ernste Lektion sie uns Künstlern gibt. Sie verwendet so viel Sorgfalt auf ihre Toilette und ihre Frisur, und das alles nur für ein paar Stunden; aber diese Mühe ist nicht verloren. Wir sollten es ebenso machen – das Leben schmücken, ohne an die Zukunft zu denken. Für die Nachwelt zu schreiben, zu malen oder Bildwerke zu schaffen – das ist nichts weiter als törichte Eitelkeit.«
»Monsieur Dechartre«, fragte Fürst Albertinelli, »was meinen Sie zu einem malvenfarbenen, mit silbernen Blumen durchwirkten Négligé für Miß Bell?«
»Ich denke so wenig an die Zukunft hier auf Erden«, sagte Choulette, »daß ich meine schönsten Gedichte auf Blättchen Zigarettenpapier geschrieben habe. Sie sind in leichtem Rauch aufgegangen, aber meine Verse haben auf diese Weise eine Art metaphysische Existenz behalten.«
Er suchte sich absichtlich diesen Anschein von Nachlässigkeit zu geben. In Wirklichkeit hatte er niemals auch nur eine Zeile von seinen Gedichten verloren. Dechartre war aufrichtiger. Er hatte durchaus keine Lust, sich selbst zu überleben, aber Miß Bell fand das sehr unrecht von ihm. »Um groß und voll zu sein«, sagte sie, »bedarf das Leben ebensogut der Vergangenheit wie der Zukunft. Wir müssen unsere künstlerischen oder poetischen Werke vollbringen zur Ehre derer, die uns vorausgegangen sind, und in Gedanken an die kommenden Generationen. Auf diese Weise werden wir teilnehmen an dem, was war, was ist und was sein wird. Sie wollen nicht unsterblich sein, Monsieur Dechartre – sehen Sie sich vor, daß Gott Ihren Wunsch nicht erhört.«
»Oh, mir genügt es, noch einen Augenblick zu leben«, antwortete er. Dann verabschiedete er sich mit dem Versprechen, morgen in aller Frühe wieder zu erscheinen, um Madame Martin in die Kapelle Brancacci zu führen.
Eine Stunde später war Thérèse in ihrem Zimmer, das mit erlesenem Geschmack eingerichtet war und wie ein Märchengarten aussah. Die Wände waren mit einem Stoff bespannt, auf dem Zitronenbäume ihre mit mächtigen goldenen Früchten beladenen Zweige ausbreiteten. Den Kopf auf dem Kissen, den schönen nackten Arm über den Kopf gebogen, träumte sie beim Schein der Lampe und sah die Bilder ihres neuen Lebens verworren vorübertreiben: Vivian Bell und ihre Glocken, die Gesichter der Präraffaeliten, leicht wie Schatten, die einsamen und gleichgültigen Damen und Kavaliere inmitten frommer Szenen, ein wenig traurig und dem Kommenden zugewandt oder gefälliger und freundschaftlicher in ihrer weichen Lethargie; und dann den Abend in der Villa in Fiesole, den Fürsten Albertinelli, Professor Arrighi, Choulette, die behenden Worte und bizarren Ideen, und Dechartre, mit dem jungen Auge in dem etwas müden Gesicht, mit dem Teint und dem Spitzbart eines Arabers.
Mit seiner hinreißenden Phantasie und seiner Seele, die reicher war als alle, die sich ihr erschlossen hatten, übte er einen Reiz auf sie aus, dem sie nicht länger zu widerstehen vermochte. Sie hatte immer gewußt: Er besaß die Gabe zu gefallen. Jetzt spürte sie: Er wollte gefallen. Und dieser Gedanke erfüllte sie mit solcher Freude, daß sie die Augen schloß, als ob sie ihn hätte festhalten wollen. Aber dann durchfuhr sie ein plötzlicher Schauder. Ihr war, als ob sie auf einmal einen dumpfen Schlag im Innern gefühlt habe, einen Schmerz im Geheimsten ihres Wesens.
Wie ein Traumbild sah sie unvermutet ihren Freund vor sich, wie er mit der Flinte unter dem Arm durch die Wälder ging. Mit seinem festen, regelmäßigen Schritt wanderte er durch die tiefen Alleen dahin. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, und das beunruhigte sie. Sie zürnte ihm ja nicht mehr, sie war nicht einmal mehr unzufrieden mit ihm. Sie war jetzt nur unzufrieden mit sich selbst. Und Robert ging geradeaus seinen Weg, ohne sich umzuwenden – weiter, immer weiter, bis er nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in dem öden Walde war. Sie hielt sich für launenhaft, schroff und hart, daß sie ihn verlassen hatte, ohne ihm Lebewohl zu sagen, ohne ihm auch nur ein Wort zu schreiben. Und er war doch ihr Freund gewesen, der einzige, den sie auf der Welt besaß. ›Nein, ich will nicht, daß er meinetwegen unglücklich ist‹, dachte sie.
Allmählich beruhigte sie sich wieder. Er liebte sie ja, das wußte sie; aber er war nicht sehr sensibel. Es war zum Glück nicht seine Art, sich mit Gedanken zu quälen. »Er amüsiert sich jetzt auf der Jagd«, sagte sie sich, »und dabei fühlt er sich ganz zufrieden. Und dann besucht er seine Tante de Lannoix, die er immer so bewundert.« Sie beruhigte sich und gab sich wieder der zauberisch tiefen Heiterkeit von Florenz hin. In den Uffizien war ein Bild, das Dechartre besonders liebte. Sie hatte es leider nur flüchtig angesehen. Es war ein abgeschnittenes Medusenhaupt, und der Bildhauer hatte ihr gesagt, daß Leonardo in diesem Werk die grübelnde Tiefe und die tragische Zartheit seines Geistes ausgedrückt habe. Sie wollte es sich noch einmal ansehen und ärgerte sich darüber, daß sie es nicht von selbst eingehender betrachtet hatte. Dann löschte sie die Lampe aus und schlief ein.
Gegen Morgen träumte ihr, daß sie in einer verödeten Kirche Robert Le Ménil begegnete. Er war in einen Pelzmantel gehüllt, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, und wartete auf sie. Aber eine Schar von Priestern und Gläubigen hatte sie plötzlich voneinander getrennt. Nun wußte sie nicht, wo er hingekommen war. Sie hatte wieder sein Gesicht nicht sehen können, und das beängstigte sie.
Als sie aufwachte, hörte sie vor dem offenen Fenster einen kurzen, traurig eintönigen Vogelschrei und sah in der milchigen Morgendämmerung eine Schwalbe vorüberschießen. Da begann sie zu weinen, ohne Sinn, ohne Grund. Verzweifelt wie ein Kind weinte sie über sich selbst.