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Dechartre war erschienen, um den beiden Damen Lebewohl zu sagen. Als sie sich getrennt hatten, fühlte Thérèse, was er für sie war. Er hatte ihrem Leben einen neuen, köstlichen Reiz verliehen, der so frisch und wirklich war, daß sie ihn auf ihren Lippen fühlte. Wie in einem Traum lebte sie jetzt dem Wiedersehen entgegen und blickte nur dann und wann in stillem Staunen auf, wenn Madame Marmet während der Fahrt irgendeine Bemerkung machte: »Ich glaube, wir sind schon über die Grenze«, oder: »Sehen Sie, wie die Rosen dort an der Küste blühen.«
Ihre innere Freude hielt an, als sie nach einer Hotelnacht in Marseille die grauen Olivenbäume auf den steinigen Halden sah, die Maulbeerbüsche und das ferne Profil des Pilatus, die Rhone, Lyon und dann die heimischen Gegenden, die Bäume, die den Strauß ihrer Wipfel hoch erhoben. Vor kurzem waren sie noch düster und violett gewesen, und jetzt standen sie in einem Kleide von zartem Grün da. Sie sah die kleinen gestreiften Teppiche der bebauten Felder an den Hängen wieder und die Pappelreihen an den Flußufern. Die Reise floß ihr gleichmäßig dahin. Sie kostete die Fülle der durchlebten Stunden und das Erstaunen über so viel Glück noch einmal durch. Mit dem Lächeln einer aus dem Traum erwachenden Schläferin begrüßte sie im fahlen Licht der Bahnhofshalle ihren Mann, der glücklich war, sie wiederzusehen. Dann umarmte sie die gute Madame Marmet und dankte ihr von ganzem Herzen. Und sie empfand auch wirklich eine tiefe Dankbarkeit gegen alles, was sie umgab. Es ging ihr wie dem heiligen Franziskus, von dem Choulette ihr so viel erzählt hatte.
Als sie dann in ihrem Coupé die Quais unter dem golden leuchtenden Staub des Abends entlangfuhren, hörte sie ohne Ungeduld zu, während ihr Mann ihr von seinen Erfolgen auf der Rednertribüne, von den Absichten seiner Partei, von seinen Plänen und Hoffnungen erzählte und schließlich von der Notwendigkeit sprach, demnächst zwei oder drei große politische Diners zu geben. Sie schloß die Augen, um sich ihren Träumen ungestört hingeben zu können, und dachte: ›Morgen habe ich einen Brief von ihm, und in acht Tagen sehen wir uns wieder.‹
Als sie über die Brücke kamen, blickte sie hinab auf das Wasser im feurigen Widerschein, auf die rauchdunklen Brückenreihen, die langen Platanenreihen und die blühenden Kastanienbäume am Cours-la-Reine. Die wohlbekannte Umgebung erschien ihr in einem zauberisch neuen Licht. Es war ihr, als ob ihre Liebe das ganze Weltall verklärt hätte. Und dann fragte sie sich, ob wohl die Steine und Bäume sie wiederkannten, und dachte bei sich: ›Wie ist es möglich, daß meine Augen, mein ganzes Wesen, ja selbst mein Schweigen – wie ist es möglich, daß Himmel und Erde nicht von meinem Geheimnis reden?‹
Monsieur Martin-Bellème, der sie für übermüdet hielt, riet ihr, sich auszuruhen.
Als es Nacht war, hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, und in dem tiefen Stillschweigen, in dem sie nur ihr Herz klopfen hörte, schrieb sie einen Brief an den fernen Geliebten – einen Brief voll jener Liebesworte, die in ihrer ewigen Neuheit den Blumen gleichen: »Ich habe Dich lieb und sehne mich Dir entgegen. Ich bin glücklich! Ich fühle, daß Du mir nah bist und daß nichts auf der Welt ist als Du und ich. Von meinem Fenster aus sehe ich einen Stern, der in bläulichem Lichte zittert. Und während ich ihn anblicke, denke ich daran, daß Du ihn auch in Florenz siehst. Auf meinem Tisch liegt der kleine Löffel mit der roten Lilie. Komm bald! Der Gedanke an Dich brennt in meiner Seele! Komm!«
Es waren die ewigen, uralten Gefühle und Bilder, die in ihrem Herzen zu neuem Leben erwachten.
So lebte sie eine Woche ganz in sich selbst versunken dahin. Die süße Glut der Tage in der Via Alfieri brannte noch in ihr. Es war ihr, als ob sie noch jeden Kuß fühlte, den er ihr damals gegeben, und sie liebte sich selbst, weil sie sich von ihm geliebt wußte.
Sie ließ sich neue Toiletten machen und überwachte die Anfertigung mit Geschmack und liebevoller Sorgfalt. Sie fand sich selbst schön und wollte sich selbst gefallen.
Wenn nichts von ihm auf der Post war, befiel sie eine wahnsinnige Unruhe, aber wenn der Schalterbeamte ihr durch das kleine Gitter einen Brief reichte, auf dem sie die breite, schwungvolle Handschrift ihres Freundes erkannte, so zitterte sie vor Freude und verschlang jedes seiner Worte, das von Erinnerungen, Wünschen und Hoffnungen sprach.
So verfloß die Zeit schnell in heißen, von auf und nieder wogenden Gefühlen zerrissenen Stunden.
Nur der Morgen des Tages, an dem Jacques ankommen sollte, kam ihr entsetzlich lang vor.
Lange, ehe der Zug ankam, war sie am Bahnhof. Es war eine Zugverspätung gemeldet worden, und das brachte sie ganz außer sich. Sie war optimistisch in allen ihren Lebensplänen, und wie ihr Vater, wollte sie sich ihr Schicksal nach ihrem eigenen Willen gestalten – so erschien ihr diese Verzögerung, die sie nicht vorausgesehen hatte, wie ein Verrat. Das fahle Licht, das während dreier Viertelstunden durch die Glasscheiben der Halle auf sie herabsickerte, kam ihr vor wie die Körner einer ungeheuren Sanduhr, die die Minuten abmaß, die man ihrem Glück gestohlen hatte.
Sie war schon nahe daran zu verzweifeln, als die riesige Schnellzuglokomotive, folgsam wie ein Tier, endlich im letzten roten Schein der untergehenden Sonne auf dem Bahnsteig hielt und sie Jacques' hohe, schlanke Gestalt durch das Gedränge der Aussteigenden auf sich zukommen sah. Er blickte sie an mit jener dunklen, wilden Freude, die sie an ihm kannte, und sagte: »Endlich hab' ich dich wieder. Ich hatte schon Angst zu sterben, ehe ich dich wiedersehen würde. Du weißt ja nicht, und ich habe es selbst nicht gewußt, was für eine Qual es ist, eine ganze Woche von dir getrennt zu sein. Ich bin wieder in dem kleinen Gartenhaus in der Via Alfieri gewesen, und in dem Zimmer – du weißt – vor dem alten Pastell habe ich geweint vor Raserei und Liebe.«
Sie sah ihn mit glücklichem Blick an. »Und ich – meinst du nicht, daß auch ich dich herbeirief, daß ich dich bei mir haben wollte und in meiner Einsamkeit die Arme nach dir ausstreckte? Ich habe deine Briefe in dem Schrank verborgen, wo ich meine Schmucksachen aufbewahre, und in der Nacht las ich sie immer und immer wieder. Es war unvorsichtig von mir, aber ich war glücklich. In deinen Briefen fühlte ich dich, dein ganzes Selbst – nur zu sehr und doch zu wenig.«
Sie gingen über den Vorplatz, wo die kofferbeladenen Fiaker daherrasselten. Thérèse fragte ihn, ob sie nicht einen Wagen nehmen wollten. Er gab keine Antwort, er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben.
Dann sagte sie: »Einmal bin ich bis zu deinem Hause gegangen, aber ich wagte nicht, es zu betreten. Ich habe nur durch das Gitter geblickt; da sah ich die Fenster im Hintergrund des Hofes hinter einer Platane und unter lauter Rosen, und ich dachte: ›Dort ist es.‹ – Ich bin niemals so bewegt gewesen.«
Er sah und hörte nicht mehr. Eilig überquerte er mit ihr den Fahrdamm; sie stiegen eine schmale Treppe hinab und kamen in eine verlassene Straße, die etwas tiefer lag als der Bahnhofsplatz. Und dort zwischen Holzplätzen und Kohlenschuppen sah sie ein kleines Hotel mit Tischen vor der Tür und einem Restaurant im Erdgeschoß. Die Fenster unter dem gemalten Wirtshausschild waren mit weißen Vorhängen verhüllt.
Dechartre blieb vor der kleinen Tür stehen und schob Thérèse in den dunklen Gang hinein.
»Wo führst du mich hin«, fragte sie, »und was ist die Uhr? Ich muß um halb acht zu Hause sein. – Wir sind von Sinnen.«
Und dann, in einem Zimmer mit roten Fliesen, einem Bett von Nußbaumholz und einem kleinen Teppich, auf dem ein Löwe dargestellt war, schwelgten sie einen Augenblick in weltentrücktem Vergessen.
Als sie die Treppe wieder hinabstiegen, sagte sie: »Jacques, mein Freund, wir sind zu glücklich. Wir begehen einen Raub am Leben.«