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In der Tafelmitte stand ein Korb, der mit seinem breiten Goldbronzereif ein wahres Blumenmassiv umschloß. Adler breiteten ihre Schwingen über die schweren Füllhörnergriffe inmitten einer Unzahl von Sternen und Bienen. An den Seiten trugen geflügelte Siegesgöttinnen die Flammenarme der Kandelaber. Der Tafelaufsatz im Empirestil war 1812 dem Grafen Martin de l'Aisne, dem Großvater des jetzigen Grafen Martin-Bellème, von Napoleon als Geschenk überreicht worden. Martin de l'Aisne, der 1809 Deputierter der Gesetzgebenden Körperschaft war, wurde im Jahre darauf Mitglied der Finanzkommission, deren stille und unermüdliche Arbeit dem fleißigen, scheuen Manne sehr zusagte. Obwohl nach Familie und Neigung liberal, gefiel er dem Kaiser doch wegen seiner Pflichttreue und seiner strengen, wenn auch niemals lästigen Redlichkeit. Zwei Jahre lang regnete es Gnadenbezeigungen auf ihn nieder. 1813 gehörte er zu jener Majorität der Gemäßigten, die den Bericht Lainés unterstützten, in dem dem bereits schwankenden Kaisertum einige verspätete Lehren erteilt und der Staat ebenso wie die Niederlage der Kritik unterzogen wurden. Am 1. Januar 1814 mußte er mit seinen Kollegen in die Tuilerien. Der Kaiser bereitete ihnen einen furchtbaren Empfang. Gewalttätig und düster im Bewußtsein seiner damaligen Machtstellung und in der Angst des bevorstehenden Sturzes lud er seinen ganzen Zorn und seine Verachtung auf sie ab.
Er schritt die Reihen der erschrockenen Deputierten auf und nieder, packte den Grafen Martin bei den Schultern, schüttelte ihn, schleifte ihn und schrie: »Ihr meint, ein Thron seien vier mit Samt überzogene Stücke Holz? Nein! Ein Thron ist ein Mann, und dieser Mann bin ich. Ihr habt mich mit Schmutz bewerfen wollen. Ist es etwa an der Zeit, mir Vorwürfe zu machen, wenn zweihunderttausend Kosaken die Grenze überschreiten? Euer Lainé ist ein böses Subjekt. Man wäscht seine schmutzige Wäsche zu Hause.« Und während seine Wut, bald trivial, bald erhaben, sich über sie ergoß, zerknüllte er noch immer den goldgestickten Kragen des Deputierten de l'Aisne. »Das Volk kennt mich. Euch kennt es nicht. Ich bin der Erwählte der Nation. Ihr seid obskure Delegierte irgendeines Departements.« Er prophezeite ihnen das Schicksal der Girondisten. Das Klirren seiner Sporen begleitete seine lauten Ausbrüche. Graf Martin aber blieb von da an für sein ganzes Leben schwerzüngig und voll Furcht. Und in dieser Furcht rief er auch nach dem Sturz des Kaisers aus dem Versteck seines Hauses zu Laon die Bourbonen herbei. Vergebens übersäten die Regierungen der beiden Restaurationen, der Julitage und des zweiten Kaiserreiches seine stets beengte Brust mit Orden und Ehrenzeichen. Zu den höchsten Würden erhoben, von drei Königen und einem Kaiser mit Ehren beladen, spürte er doch unablässig auf seiner Schulter die Hand des Korsen. Er starb als Senator unter Napoleon III. und ließ einen mit Furcht erblich belasteten Sohn zurück.
Dieser Sohn nun hatte sich mit Mademoiselle Bellème, der Tochter des Gerichtspräsidenten von Bourges, und dank ihr auch mit dem politischen Ruhm einer Familie ehelich verbunden, die dem gemäßigten Königtum drei Minister schenkte. Die Bellèmes, die unter Ludwig XV. Herren von der Robe waren, brachten die dem Ursprung nach jakobinischen Martins zu neuen Ehren. Der zweite Graf Martin gehörte bis zu seinem 1881 erfolgten Tode jedem Parlamente an. Sein Sohn, Charles Martin-Bellème, nahm ohne viel Mühe seinen Sitz in der Kammer ein. Nachdem er Thérèse Montessuy geheiratet hatte, deren Mitgift seine politische Karriere stützen sollte, trat er diskret unter den vier oder fünf Bourgeois von Stand und Vermögen hervor, die sich der Demokratie und der Republik anschlossen und von den hochgekommenen Republikanern mit um so geringerem Mißtrauen aufgenommen wurden, als ihnen aristokratische Namen schmeichelten und geistige Mittelmäßigkeit sie beruhigte.
In dem Speisesaal, über dessen Türen sich hier und da im Schatten das gefleckte Fell der Hunde von Oudry erraten ließ, machte Graf Martin-Bellème vor dem mit goldenen Sternen und Bienen besetzten Tafelaufsatz zwischen den beiden kerzentragenden Siegesgöttinnen die Honneurs mit der etwas müden Grazie und melancholischen Höflichkeit, die noch vor kurzem im Élysée auserlesen worden war, bei einer Großmacht des Nordens das isolierte und wiedererstandene Frankreich zu repräsentieren. Er richtete von Zeit zu Zeit ein paar blasse Worte nach rechts, an Madame Garain, die Gattin des ehemaligen Siegelbewahrers, und zur Linken an die brillantenbeladene Prinzessin Seniavine, die sich zum Sterben langweilte. Ihm gegenüber saßen auf der anderen Seite des Korbes die Gräfin Martin und neben ihr General Larivière und Monsieur Schmoll von der Académie des Inscriptions. Sie fächelte liebkosend ihre weißen und zarten Schultern. An den beiden Hufeisenbogen der Tafel waren placiert: Monsieur Montessuy, eine kräftige Erscheinung mit blauen Augen und gesunder Gesichtsfarbe, Madame Bellème de Saint-Nom, eine junge Cousine des Hauses, die ihre langen, mageren Arme verlegen machten, der Maler Duvicquet, Monsieur Daniel Salomon, Paul Vence, der Deputierte Garain, Monsieur Bellème de Saint-Nom, ein unbekannter Senator und Dechartre, der zum ersten Male hier eingeladen war. Die anfänglich spärliche und matte Unterhaltung kam allmählich in Fluß und pflanzte sich in einem undeutlichen Stimmengewirr fort, aus dem sich die Stimme Garains abhob.
»Jede falsche Idee ist gefährlich. Wer da meint, Träumer könnten kein Unheil anrichten, irrt sich. Sie richten sehr viel an. Die scheinbar harmlosesten Utopien üben in Wahrheit eine schädliche Wirkung aus. Sie führen dazu, Widerwillen gegen die Wirklichkeit zu erregen.«
»Vielleicht«, sagte Paul Vence, »liegt es daran, daß die Wirklichkeit nicht schön ist.«
Der ehemalige Siegelbewahrer erklärte, er sei für alle nur möglichen Verbesserungen. Er vergaß, daß er unter dem Kaiserreich für die Abschaffung der stehenden Heere und 1880 für die Trennung von Kirche und Staat eingetreten war, und behauptete, er bleibe getreu seinem Programm ein ergebener Diener der Demokratie. Seine Devise, sagte er, laute Ordnung und Fortschritt. Er glaube wirklich die rechte gefunden zu haben.
Montessuy entgegnete mit derber Bonhomie: »Nun seien Sie einmal aufrichtig, Monsieur Garain. Gestehen Sie doch, daß es mit Ausnahme der Änderung der Briefmarkenfarben eigentlich überhaupt keine Reformen gibt. Ob gut oder schlecht, die Dinge sind nun mal so, wie sie sein müssen. Ja«, fügte er hinzu, »die Dinge sind, wie sie sein müssen. Aber sie ändern sich fortwährend. Seit achtzehnhundertsiebzig hat die industrielle und finanzielle Lage des Landes vier oder fünf Revolutionen durchgemacht, die die Wirtschaftspolitiker nicht vorausgesehen hatten und die sie heute noch nicht verstehen. In der Gesellschaft wie in der Natur kommen die Wandlungen von innen heraus.«
Was die Frage der Regierungsform anbeträfe, so halte er sich an das Nächstliegende, an klare, bestimmte Anschauungen. Er hänge mit allen Kräften an der Gegenwart und kümmere sich wenig um die Zukunft. Die Sozialisten machten ihm weiter keine Sorge. Es sei ihm gleichgültig, ob Kapital oder Sonnenlicht eines Tages ihren Glanz verlieren würden, einstweilen genieße er sie noch. Wenn es nach ihm ginge, dann ließe man die Dinge laufen, wie sie wollten. Nur Narren und Wahnsinnige stemmten sich gegen den Strom oder suchten ihm vorauszueilen.
Graf Martin, der von Natur Melancholiker war, hatte düstere Ahnungen. Mit verschleierten Worten verkündigte er eine Katastrophe.
Seine furchtsamen Worte über den Blumenkorb hinweg erregten Monsieur Schmoll, der zu seufzen und zu prophezeien anfing. Er setzte auseinander, daß die christlichen Nationen unfähig wären, von allein völlig aus der Barbarei herauszukommen, und daß Europa ohne die Juden und Mauren noch heute wie zur Zeit der Kreuzzüge in Unwissenheit, Elend und Grausamkeit leben würde.
»Das Mittelalter«, erklärte er, »hat nur in den Geschichtsbüchern ein Ende, die man den Schuljungen zur Verfälschung ihres Geistes in die Hand gibt. In Wirklichkeit bleiben Barbaren immer Barbaren. Es ist die Mission Israels, die Völker zu lehren. Israel hat im Mittelalter Europa die Weisheit Asiens gebracht. Der Sozialismus jagt Ihnen Furcht ein? Er ist genauso eine christliche Krankheit wie das Mönchtum. Und der Anarchismus, erkennen Sie nicht in ihm die alte Lepra des Albigenser- und Waldensertums wieder? Die Juden allein, die Europa Wissen und Gesittung gebracht haben, könnten es auch heute von diesem verzehrenden christlichen Übel retten. Aber sie haben ihre Pflicht versäumt. Sie sind Christen unter Christen geworden. Und Gott straft sie. Er läßt zu, daß man sie ins Exil schickt und ausraubt. Der Antisemitismus macht überall erschreckende Fortschritte. In Rußland werden meine Glaubensgenossen gejagt wie die wilden Tiere. In Frankreich ist ihnen die Zivil- wie die Militärlaufbahn verschlossen. In aristokratischen Kreisen haben sie keinen Zutritt mehr. Mein Neffe, der junge Isaak Coblentz, hat die diplomatische Karriere nach dem glänzendsten Zulassungsexamen aufgeben müssen. Die Frauen einiger meiner Kollegen legen mit Absicht antisemitische Schriften aus, wenn meine Frau sie besucht. Und sollte man es für möglich halten, daß der Unterrichtsminister mir das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion verweigert hat, als ich ihn darum ersuchte? Da haben Sie den Undank der Welt! Welche Verwirrung! Der Antisemitismus ist der Tod, jawohl, der Tod der europäischen Zivilisation.«
Der kleine Mann hatte ein Temperament, das sich über alle Konventionen hinwegsetzte. Grotesk und dabei schonungslos aufrichtig, brachte er die ganze Tafelrunde in Verlegenheit. Madame Martin machte ihm amüsiert ein Kompliment.
»Monsieur Schmoll, Sie verteidigen doch wenigstens Ihre Glaubensgenossen. Sie sind nicht so wie eine sehr schöne jüdische Bekannte von mir, die überall herumläuft und erzählt, daß man sie beleidigt habe, weil sie in der Zeitung gelesen hat, bei ihr verkehre die Elite der jüdischen Gesellschaft.«
»Ich bin überzeugt, gnädige Frau, daß Sie nicht ahnen, wie schön und allen andern überlegen die jüdische Ethik ist. Kennen Sie das Gleichnis von den drei Ringen?«
Seine Frage verlor sich im Gesumm der Gespräche, in denen sich auswärtige Politik, Bilderausstellungen, Klatschgeschichten aus der Gesellschaft und wissenschaftliche Diskussionen kreuzten. Man sprach von dem neuesten Roman und dem nächsten Theaterstück. Es war eine Komödie mit Napoleon in einer Nebenrolle.
Die Unterhaltung verweilte nun bei Napoleon, wie er mehrmals auf der Bühne und neuerdings in vielgelesenen Büchern dargestellt worden war: Napoleon als Gegenstand der Sensationslust, als moderne Romanfigur. Das war nicht mehr der Volksheld, der gestiefelte Halbgott des Vaterlandes wie in den Tagen, als Norvins und Béranger, Charlet und Raffet seine Legende schufen, sondern eine interessante Persönlichkeit, amüsant durch menschliche, allzu menschliche Züge; eine Figur, deren Eigenart den Künstlern gefiel, deren bewegtes Leben das breite Publikum fesselte.
Garain, der seine politische Karriere auf dem Haß gegen das Kaisertum aufgebaut hatte, meinte allen Ernstes, daß diese Wiederbelebung des Geschmacks am Nationalen nur eine lächerliche Geschmacksverirrung sei. Er sah darin keine Gefahr und fürchtete auch weiter nichts davon. Furcht kam bei ihm jäh und wild zum Ausbruch. Für den Augenblick war er ganz ruhig. Er sprach weder davon, die Aufführungen zu verbieten oder die Bücher zu beschlagnahmen, noch davon, die Autoren ins Gefängnis zu bringen oder sonst irgend etwas zu unterdrücken. In seiner nüchternen Strenge sah er in Napoleon nur den Condottiere Taines, der Volney einen Tritt in den Leib versetzt hatte.
Jeder wollte den wahren Napoleon definieren. Graf Martin sprach angesichts des kaiserlichen Tafelaufsatzes und der geflügelten Siegesgöttinnen mit Achtung von Napoleon als Organisator und Administrator und stellte ihn besonders als Präsidenten des Staatsrates, wo seine Worte auch in die dunkelsten Fragen Licht gebracht hätten, sehr hoch.
Garain behauptete, Napoleon habe in diesen nur allzu berühmten Sitzungen unter dem Vorwande, eine Prise nehmen zu wollen, den Staatsräten ihre mit Miniaturen und Edelsteinen geschmückten goldenen Schnupftabakdosen abgenommen, die man dann niemals wiedergesehen hätte. Schließlich habe man in den Staatsrat nur noch »Rattenschwänze« mitgenommen: Dosen aus Birkenrinde mit einem Riemchen am Deckel. Der jüngere Mounier hatte ihm diese Anekdote selbst erzählt.
Montessuy schätzte Napoleons Ordnungssinn.
»Er hatte«, meinte er, »ordentlich gemachte Arbeiten gern. Und das ist eine Vorliebe, die man heutzutage kaum noch findet.«
Der Maler Duvicquet, der alles nur vom Standpunkt des bildenden Künstlers aus ansah, hatte seine Zweifel. Er vermöchte in der von St. Helena stammenden Totenmaske durchaus nicht die Züge des schönen, machtvollen Gesichtes wiederzuerkennen, das Medaillen und Büsten verewigten. Davon könne man sich jetzt überzeugen, wo die nach der wiederaufgefundenen Maske gemachte Bronze in jedem Trödlerladen unter vergoldeten Holzadlern und Sphinxen zu finden wäre. Seiner Meinung nach könne die Seele Napoleons nicht napoleonisch sein, da ja nicht einmal sein äußeres Gesicht wirklich napoleonisch gewesen sei. Vielleicht eine gute Bürgerseele. Man behaupte es, und er neige dazu, es zu glauben. Übrigens wüßte er, Duvicquet, der stolz darauf sei, die Porträts seiner Zeit gemalt zu haben, daß berühmte Männer nur höchst selten der Vorstellung glichen, die man sich von ihnen mache.
Daniel Salomon machte darauf aufmerksam, daß die erwähnte Maske, die von dem entseelten Kaiser gemacht und von seinem Arzt Antommarchi nach Europa gebracht worden sei, zum ersten Male unter Louis-Philippe 1833 in Bronze gegossen und nur an Subskribenten abgegeben worden wäre. Schon damals habe sie Erstaunen und Mißtrauen geweckt. Man habe diesen Italiener, einen schwatzhaften und halbverhungerten Scharlatan, verdächtigt, der Welt ein Schnippchen geschlagen zu haben. Auch die Anhänger Doktor Galls, dessen wissenschaftliches System damals in Mode war, hätten die Maske angezweifelt. Sie hätten bei ihr die Schädelhöcker des Genies vermißt, und die nach der Theorie dieses Meisters untersuchte Stirnbildung habe gleichfalls nichts Bemerkenswertes gezeigt.
»Natürlich«, meinte die Prinzessin Seniavine, »Napoleon war ja auch nur darum bemerkenswert, weil er Volney einen Fußtritt in den Leib gegeben und diamantenbesetzte Tabatieren gestohlen hat, wie Sie eben von Monsieur Garain gehört haben.«
»Und dabei weiß man nicht einmal genau«, warf Madame Martin ein, »ob er ihm den Fußtritt wirklich gegeben hat.«
»So kommt schließlich alles an den Tag«, erklärte die Prinzessin belustigt. »Napoleon hat eben nichts geleistet. Er hat nicht einmal Volney einen Fußtritt gegeben und hatte den Schädel eines Kretins.«
General Larivière, der seinerseits den Augenblick für eine Attacke gekommen hielt, ließ die Phrase steigen: »Napoleons Kampagne von achtzehnhundertdreizehn ist auch höchst anfechtbar.«
Der General hatte nur den einen Gedanken, Garain zu gefallen. Andere Gedanken hatte er nicht. Aber es gelang ihm doch mit einiger Anstrengung, ein Gesamturteil zu formulieren: »Napoleon hat Fehler gemacht. In seiner Stellung durfte er das nicht.« Und er schwieg mit hochrotem Kopf.
Madame Martin fragte: »Monsieur Vence, was halten Sie eigentlich von Napoleon?«
»Ich für meinen Teil, gnädige Frau, finde wenig Gefallen an Haudegen, und Eroberer erscheinen mir ganz einfach als gefährliche Irre. Aber die Gestalt des Kaisers interessiert mich trotzdem genauso wie das Publikum. Ich finde, er hat Charakter und Lebenskraft. Dem ›Mémorial‹Le Mémorial de Sainte-Hélène, die Aufzeichnungen des Grafen Las Cases über seine Gespräche mit Napoleon auf Sankt Helena. kommt kein Epos und kein Abenteurerroman gleich, so lächerlich schlecht es auch geschrieben ist. Da Sie es nun einmal wissen wollen: Ich meine, daß sich der Kaiser, zur Größe geboren, hier in der ganzen blendenden Einfalt eines Heros der Sage zeigt. Ein Heros muß Mensch sein, und Napoleon war Mensch.«
»Hört, hört«, warf man ein.
Aber Paul Vence fuhr unbeirrt fort: »Er war gewalttätig und leichtlebig, und gerade darum so tief menschlich; ich möchte sagen, er glich dem Mann auf der Straße. Er wollte mit einzigartiger Willenskraft alles das, was der Durchschnitt schätzt und begehrt. Er gab seine eigenen Illusionen dem Volke. Das war seine Stärke, seine Schwäche und das Schöne an ihm. Er glaubte an den Ruhm. Vom Leben und von der Welt hatte er etwa die gleiche Meinung wie seine Grenadiere. Er bewahrte sich immer den kindlichen Ernst, der sich im Spielen mit Säbel und Trommel gefällt, und jene Einfalt, die den guten Soldaten macht. Er war ganz aufrichtig in seiner Hochschätzung der Gewalt. Er war der Mensch der Menschen, war Fleisch von ihrem Fleische. Er hatte keinen Gedanken, der nicht Tat war, und jede seiner Taten war groß und volkstümlich. Dieses erhabene Mittelmaß macht den Helden aus. Und Napoleon war ein vollkommener Held. Sein Hirn war niemals größer als seine Hand, diese kleine, schöne Hand, die eine Welt zermalmte. Er machte sich nicht einen Augenblick Sorge um das, was für ihn unerreichbar war.«
»Sie sind also auch der Ansicht, daß er kein intellektuelles Genie war«, sagte Garain. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
»Ganz sicher hatte er das Genie, das man braucht, um in der bürgerlichen und militärischen Arena der Welt zu glänzen«, erwiderte Paul Vence. »Aber er war kein spekulatives Genie. Das ist ein anderes Paar Ärmel, wie Buffon sagt. Wir kennen seine gesammelten Reden und Schriften. Sein Stil hat Bewegung und Bildkraft. Aber in der ganzen Fülle der Gedanken findet sich kein Streben nach Erkenntnis, keinerlei Bemühen um das Unerforschliche, nicht das geringste Bangen vor dem Geheimnis, das das Schicksal verhüllt. Er kommt einem wie ein Schuljunge von vierzehn Jahren vor, wenn er in Sankt Helena von Gott und Seele redet. Er war in die Welt hineingeworfen, sein Geist war auf die Welt zugeschnitten und umfaßte sie ganz. Kein Teilchen seines Ich verlor sich ins Unendliche. Er war Poet, aber er kannte nur die Poesie der Tat. Sein gewaltiger Lebenstraum war von der Erde begrenzt. In seiner furchtbaren und rührenden Knabenhaftigkeit glaubte er daran, daß ein Mensch groß sein kann. Und diese Kindlichkeit verließ ihn nicht; nicht mit den Jahren, nicht einmal im Unglück. Seine Jugend, oder vielmehr seine göttliche Jünglingszeit, dauerte bis an sein Ende, denn seine Tage reihten sich nicht aneinander, um schließlich eine bewußte Reife zu erzeugen. Das ist das unerhörte Dasein von Menschen der Tat. Sie stehen ganz in dem Augenblick, den sie erleben, und ihr Genie sammelt sich auf einen einzigen Punkt. Sie erneuern sich unaufhörlich, aber sie wachsen nicht. Die Stunden ihres Daseins sind nicht verknüpft durch eine Kette ernster und selbstloser Gedanken. Ihr Leben hat keine innere Kontinuität, sondern ist eine Aufeinanderfolge von Handlungen. Deshalb haben sie auch kein Innenleben. Und dieser Mangel ist am deutlichsten bei Napoleon fühlbar, der niemals in sich selbst gelebt hat. Daher die Leichtigkeit seines Charakters, die ihn unbeschwert seine ungeheure Last von Schuld und Fehl tragen ließ. Sein immer neuer Geist gebar sich täglich wieder. Er besaß stärker als jeder andere die Fähigkeit zum Genießen. An dem ersten Morgen auf dem Trauerfelsen von Sankt Helena sprang er, als die Sonne aufging, eine Romanze pfeifend aus dem Bett. Das war der Friede einer dem Geschick überlegenen Seele und vor allem die Leichtigkeit eines Geistes, der stets zur Wiedergeburt bereit ist. Er lebte von außen her.«
Garain mißfiel diese gedanklich und sprachlich geistvolle Wendung, und er drängte also auf ein Ende. »Mit einem Wort«, erklärte er, »in diesem Menschen steckte also ein Ungeheuer.«
»Ungeheuer gibt es nicht«, erwiderte Paul Vence. »Und wenn Menschen für Ungeheuer gelten, flößen sie Grauen ein. Napoleon aber wurde von einem ganzen Volke geliebt. Seine Stärke war, daß er hinter seinen Schritten Liebe ließ. Seine Soldaten freuten sich, für ihn sterben zu können.«
Gräfin Martin wollte auch Dechartre seine Ansicht sagen hören. Aber er wehrte sich gleichsam erschreckt dagegen.
»Kennen Sie die Geschichte von den drei Ringen?« fragte Schmoll. »Diesen göttlichen Einfall eines portugiesischen Juden?«
Garain beglückwünschte Paul Vence zu seinen glänzenden Paradoxen und bedauerte dabei, daß sich Geist immer nur auf Kosten von Moral und Gerechtigkeit auswirke.
»Es gibt nur ein Prinzip«, sagte er, »und das heißt: Richtet den Mann nach seinen Taten.«
»Und die Frauen?« warf die Prinzessin Seniavine rasch ein. »Wollen Sie auch die Frauen nach ihren Taten beurteilen? Woher wissen Sie denn, was sie tun?«
Der Klang ihrer Stimme mischte sich in das helle Klingen der silbernen Bestecke. Heiße Luft, geschwängert von Düften, badete den Raum. Die Rosen neigten sich schwer und verstreuten ihre Blütenblätter auf das Tischtuch. Die Gedanken stiegen erhitzter auf.
General Larivière baute Luftschlösser. »Wenn man mir den Abschied gibt«, sagte er zu seiner Nachbarin, »gehe ich nach Tours und züchte Blumen.« Und er prahlte mit seinem Gärtnertalent. Man hatte eine Rosensorte nach ihm benannt, und er war sehr stolz darauf.
Schmoll fragte immer noch, ob denn niemand das Gleichnis von den drei Ringen kenne.
Die Prinzessin neckte den Deputierten weiter. »Wissen Sie nicht, daß man die gleichen Dinge aus den verschiedensten Motiven heraus tun kann, Monsieur Garain?«
Montessuy pflichtete ihr bei.
»Sie haben recht, gnädige Frau, Taten beweisen gar nichts. Das beweist schlagend eine Episode aus dem Leben Don Juans, die weder Mozart noch Molière gekannt haben. Sie stammt aus einer englischen Legende, die ich durch meinen Freund James Lovell in London kenne. Es heißt da, daß sich der große Verführer vergeblich um drei Frauen bemühte. Die eine war eine Bürgersfrau, die ihren Mann wahrhaft liebte; die zweite war eine Nonne, die ihr Gelübde nicht brechen wollte; und die dritte, die lange Zeit ein wüstes Leben geführt hatte, war häßlich und diente in einer Spelunke. Nach allem, was sie erlebt hatte, bedeutete die Liebe nichts mehr für sie. Sehen Sie, diese drei Frauen taten dasselbe aus drei doch ganz verschiedenen Beweggründen. Eine Tat beweist gar nichts. Es ist die Masse der Taten, ihr Gewicht, ihre Summe, die den Wert eines Menschenwesens ausmacht.«
»Einzelne Taten«, erklärte Madame Martin, »tragen unser Wesen, unser Gesicht, sind unsere Kinder, andere wieder ähneln uns nicht im geringsten.«
Sie stand auf und nahm den Arm des Generals. Die Prinzessin, die am Arm Garains in den Salon trat, sagte: »Thérèse hat ganz recht. Andere wieder ähneln uns nicht im geringsten. Kleine Negerkinder, die man im Schlaf empfangen hat.«
Die Nymphen auf den Wandbehängen schauten in ihrer verblichenen Jugend mit leerem Lächeln auf die Gäste, die ihrer nicht achteten.
Zusammen mit ihrer jungen Cousine, Madame Bellème de Saint-Nom, servierte Gräfin Martin den Kaffee. Sie machte Paul Vence Komplimente über seine Worte bei Tisch.
»Sie haben von Napoleon mit einer Vorurteilslosigkeit gesprochen, die in Gesprächen, wie ich sie sonst höre, recht selten ist. Es ist mir schon oft aufgefallen, daß kleine Kinder, wenn sie sehr schön sind und schmollen, aussehen wie Napoleon am Abend von Waterloo. Sie haben mir die tieferen Gründe für diese Ähnlichkeit gezeigt.«
Sie wandte sich an Dechartre: »Und Sie? Lieben Sie Napoleon?«
»Gnädige Frau, ich liebe die Revolution nicht, und Napoleon ist die Revolution in Reitstiefeln.«
»Warum haben Sie das nicht bei Tisch gesagt? Aber ich sehe schon, sie geruhen nur in einer Plauderecke Esprit zu haben.«
Graf Martin-Bellème führte die Herren ins Rauchzimmer. Nur Paul Vence blieb bei den Damen. Prinzessin Seniavine fragte, ob er seinen Roman schon beendet habe und wovon er handle. Es wäre eine Studie, in der er durch Aneinanderfügen einer logischen Folge von Wahrscheinlichkeiten die wirkliche Wahrheit zu packen sich bemüht hätte.
»Auf diese Weise gewinnt der Roman eine sittliche Kraft, die die Historie in ihrer plumpen Leichtfertigkeit nie zu erreichen vermag«, erklärte er.
Sie wollte wissen, ob es ein Buch für Frauen sei. Er verneinte.
»Es ist unrecht von Ihnen, Monsieur Vence, daß Sie nicht für Frauen schreiben. Das ist das einzige, was ein Mann von Bedeutung für uns tun kann.«
Da er wissen wollte, wie sie auf diesen Gedanken käme, erklärte sie: »Ich sehe doch, daß alle gescheiten Frauen Idioten heiraten.«
»Die sie langweilen.«
»Selbstverständlich. Aber bedeutende Männer würden sie noch mehr langweilen. Sie haben mehr Mittel dazu . . . Aber nennen Sie mir doch das Sujet Ihres Romans.«
»Ihnen liegt daran?«
»Mir liegt an gar nichts.«
»Also: es ist eine Sittenstudie aus dem Leben des Volkes, die Geschichte eines jungen Arbeiters, der keusch und nüchtern, schön wie ein Mädchen ist und auch die unerschlossene Seele einer Jungfrau hat. Er ist Graveur und ein fleißiger Arbeiter. Abends liest und studiert er zu Hause bei seiner Mutter, die er liebt. In seinen einfachen und noch unbeschriebenen Geist schlagen die Gedanken ein wie Kugeln in eine Mauer. Er hat keine Bedürfnisse, kennt weder die Leidenschaften noch die Laster, die uns ans Leben fesseln. Einsam ist er und rein; seine Tugend macht ihn hochmütig. Er lebt unter rohen Elendsgeschöpfen. Er sieht leiden. Er ist hingebungsvoll, aber ohne Menschenliebe; er hat die kalte Barmherzigkeit, die sich Altruismus nennt. Er ist kein wirklicher Mensch, denn er hat keine Sinne.«
»Ah, man muß sinnlich sein, um Mensch zu sein?«
»Ganz sicher, gnädige Frau. Das Mitgefühl wohnt in den Eingeweiden wie das Gefühl auf der Haut. – Er ist nicht intelligent genug, um zu zweifeln. Er ist gläubig, er glaubt, was er liest. Er hat gelesen, daß man, um das Glück der Menschheit zu begründen, nur die Gesellschaft zu zerstören braucht. Durst nach Märtyrertum verzehrt ihn. Und eines Morgens küßt er seine Mutter zum Abschied und geht. Er lauert dem sozialistischen Abgeordneten seines Bezirks auf, sieht ihn, wirft sich auf ihn, rennt ihm den Grabstichel in den Leib und schreit: ›Es lebe die Anarchie!‹ Er wird verhaftet, gemessen, photographiert, verhört, schuldig befunden, zum Tode verurteilt und enthauptet. Da haben Sie meinen Roman.«
»Er ist alles andere als amüsant«, meinte die Prinzessin, »aber das ist ja nicht Ihre Schuld. Ihre Anarchisten sind ebenso feige und gemäßigt wie alle anderen Franzosen. Die Russen haben mehr Kühnheit und mehr Phantasie, wenn sie sich darauf werfen.«
Die Gräfin Martin kam und fragte Paul Vence, ob er den sanften Herrn kenne, der kein Wort sprach und mit den Augen eines verlorenen Hundes um sich blickte. Ihr Mann hätte ihn eingeladen, sie wüßte aber weder seinen Namen noch sonst etwas von ihm.
Paul Vence wußte nur, daß es ein Senator war. Er hätte ihn neulich zufällig im Luxembourg im Bibliothekssaal gesehen.
»Ich hatte mir gerade die Deckenmalerei angesehen mit Delacroix' antiken Heroen und Philosophen in dem blauschimmernden Myrtenhain. Er sah genauso kläglich und bemitleidenswert drein wie heute. Er wollte sich wärmen und roch nach feuchten Kleidern. Er unterhielt sich mit ein paar Kollegen und meinte, seine frierenden Hände reibend: ›Für mich ist der Beweis, daß die Republik die beste aller Regierungsformen ist, damit gegeben, daß sie achtzehnhunderteinundsiebzig binnen einer Woche imstande war, sechzigtausend Aufständische zu erschießen, ohne sich unpopulär zu machen. Durch eine solche Unterdrückung hätte sich jedes andere Regime unmöglich gemacht.‹«
»Das muß ja ein schrecklicher Mensch sein«, sagte Madame Martin, »und ich hatte so viel Mitleid mit seiner Schüchternheit und Unbeholfenheit.«
Madame Garain schlummerte, das Kinn weich auf den Busen gesenkt, den friedlichen Schlummer ihrer Hausfrauenseele und träumte von ihrem Gemüsegarten am Ufer der Loire, wo Gesangvereine ihr Ständchen brachten.
Joseph Schmoll und General Larivière kamen aus dem Rauchzimmer zurück, in den Augen noch das Lachen über die saftigen Geschichten, die sie untereinander ausgetauscht hatten. Der General setzte sich zwischen die Prinzessin und Madame Martin.
»Ich habe heute morgen im Bois die Baronin Warburg getroffen. Sie ritt ein prachtvolles Tier. ›Wie fangen Sie es nur an, General, daß Sie immer so herrliche Pferde haben‹, sagte sie zu mir, und ich gab ihr zur Antwort: ›Gnädige Frau, wer schöne Pferde haben will, muß entweder sehr schlau oder sehr reich sein.‹«
Er war so zufrieden mit seiner guten Antwort, daß er sie zweimal wiederholte und mit den Augen zwinkerte.
Paul Vence ging auf die Gräfin zu: »Jetzt weiß ich den Namen des Senators. Er heißt Loyer, ist Vizepräsident einer Fraktion und Verfasser einer Propagandaschrift: Das Verbrechen des zweiten Dezember.«
Der General fuhr fort: »Es war ein Hundewetter. Ich mußte mich unterstellen und stieß auf Le Ménil. Schlechter Laune war ich. Und er machte sich innerlich über mich lustig, ich habe es wohl bemerkt. Er denkt, weil ich General bin, müsse ich Wind, Hagel und Schnee gern haben. Das ist doch einfach lächerlich! Er sagte, ihm mache das schlechte Wetter nichts aus, und er ginge nächste Woche mit Freunden auf die Fuchsjagd.«
Es gab eine Pause. Der General sprach weiter: »Na, ich wünsche ihm viel Vergnügen, aber beneiden tue ich ihn nicht. Eine Fuchsjagd ist keine sonderliche Annehmlichkeit.«
»Aber nützlich«, meinte Montessuy.
Der General zuckte die Achseln.
»Füchse sind nur im Frühjahr schädlich für den Hühnerstall, wenn sie ihre Jungen großfüttern.«
»Der Fuchs«, erwiderte Montessuy, »zieht den Kaninchenbau dem Hühnerhof vor. Er ist ein tüchtiger Wilderer und macht dem Jäger mehr zu schaffen als dem Bauer. Ich kann davon ein Lied singen.«
Thérèse war zerstreut und hörte nicht auf das, was die Prinzessin ihr sagte. Sie dachte: ›Er hat mir nicht einmal etwas davon gesagt, daß er wegfahren würde.‹
»Woran denken Sie, Liebste?«
»An nichts Besonderes.«