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Nach dem Diner saßen sie im Glockensalon unter den Lampen, deren große Schirme nur ein mattes Licht auf die schmalfingrigen Sieneser Madonnen fallen ließen.
Die gute Madame Marmet saß mit einer weißen Katze auf dem Schoß am Kamin und wärmte sich.
Der Abend war kühl und frisch. Madame Martin lächelte wohlig ermattet; sie sah noch den lichten Himmel, die blauen Berge und die uralten immergrünen Eichen, die ihre mächtigen gewundenen Äste über den Weg streckten. Sie war heute mit Miß Bell, Dechartre und Madame Marmet in der Kartause von Ema gewesen. Und während sie so in seligen Schönheitsträumen schwelgte, vergaß sie die Kümmernisse von vorgestern, die störenden Briefe, die Vorwürfe aus der Ferne. Es kam ihr vor, als ob es auf der Welt nichts anderes gäbe als Kreuzgänge mit Bildwerken in Stein und Farbe und mit einem Brunnen mitten auf dem grasbewachsenen Hof, als Dörfer mit roten Dächern und Wege, an denen sie den Frühling knospen sah, während jemand an ihrer Seite ging und schmeichelnde Worte zu ihr redete.
Dechartre hatte eben für Miß Bell in Wachs die Skizze zu einer kleinen Statue modelliert. Es war eine Beatrice. Vivian malte Engel, und Fürst Albertinelli beugte sich zu ihr hinab um zuzusehen. Es lag etwas nachlässig Weiches in seiner Haltung, wie er mit weit herausgebogener Hüfte dastand, sich den Bart strich und seine Augen wie eine Kurtisane spielen ließ. Vivian Bell hatte eben eine Bemerkung über die Ehe und die Liebe gemacht, und nun nahm der Fürst das Wort: »Eine Frau muß immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen«, sagte er, »wenn ihr Mann Glück bei Frauen hat, ist sie nicht ruhig, und wenn das Gegenteil der Fall ist, ist sie nicht glücklich.«
»Darling«, fragte Miß Bell, »wie würden Sie in diesem Fall für eine Freundin wählen, die Sie sehr liebhätten?«
»Ich würde ihr wünschen, daß sie beides fände, Glück und Ruhe, und ich glaube auch, daß es möglich ist, wenn sie allen Verrat, allen schmählichen Argwohn und alles niedrige Mißtrauen verachtet.«
»Aber, Darling, der Fürst hat doch eben gesagt, daß eine Frau niemals glücklich und ruhig zugleich sein kann. Sagen Sie doch, was sollte Ihre Freundin in diesem Falle wählen?«
»Man wählt überhaupt nicht, Vivian, man wählt niemals. Verlangen Sie, bitte, nicht von mir, daß ich meine Ansichten über die Ehe aussprechen soll.«
In diesem Moment erschien Choulette. Er sah aus wie eine jener großartigen Bettlergestalten, die man an den Kirchentüren kleiner Städte anzutreffen pflegt. Er hatte im Wirtshaus mit den Bauern Briscola gespielt.
»Ah, da kommt Monsieur Choulette«, sagte Miß Bell, »der wird uns sagen, wie wir über die Ehe denken sollen. Ich bin geneigt, ihn anzuhören wie ein Orakel; denn er bemerkt vieles, war wir andern nicht sehen, und wiederum entgeht ihm vieles, was wir sehen. Nun, Monsieur Choulette, wie denken Sie über die Ehe?«
Er setzte sich und erhob mit sokratischer Miene die Hand: »Meinen Sie den durch die Kirche geheiligten Bund zwischen Mann und Weib? Die Ehe in diesem Sinne ist ein Sakrament, woraus folgt, daß fast immer ein Sakrileg daraus wird. Dagegen die Zivilehe ist einfach eine Formalität. Über die alberne Wichtigkeit, die unsere heutige Gesellschaft ihr beilegt, hätten die Frauen des Ancien régime einfach gelacht. Wir verdanken diese Einrichtung, wie so viele andere, jenem Aufruhr der Spießbürger, jenem Vorstoß der Steuerbeamten und Advokaten, den man die Große Revolution genannt hat und der den Leuten bewundernswert scheint, die davon leben. Sie ist die Mutter aller Dummheiten. Seit hundert Jahren kriechen täglich neue Albernheiten unter ihren blauweißroten Röcken hervor. Die Zivilehe bedeutet in Wirklichkeit nichts weiter als die Eintragung in eine Liste, die der Staat wie so manche andere aufstellt, um über die Verhältnisse der einzelnen unterrichtet zu sein. In einem gesitteten Staat muß eben jeder seine Nummer haben. Aber vor dem Sohne Gottes sind alle diese Nummern gleich. Und vom Standpunkt der Moral hat diese Eintragung in das große Register nicht einmal so viel Einfluß, daß sie eine Frau dazu bewegen würde, sich einen Liebhaber zu nehmen. Was hätte es denn auch für Reiz, ein Gelübde zu brechen, das nur vor dem Standesbeamten abgelegt wird? Um die Freuden des Ehebruchs zu genießen, muß eine Frau fromm sein.«
»Aber«, sagte Thérèse, »wir sind doch alle in der Kirche getraut.« Und dann fügte sie in aufrichtigem Ton hinzu: »Ich begreife nicht, daß sowohl Männer wie Frauen immer diese Torheit begehen, wenn sie schon alt genug sind, um zu wissen, was sie tun.«
Der Fürst sah sie mißtrauisch an. Er war durchaus nicht beschränkt, aber völlig außerstande, zu begreifen, daß man ohne besonderen Zweck und ohne besonderes Interesse über etwas reden konnte, nur um allgemeine Ideen auszusprechen. Es kam ihm vor, als ob die Gräfin Martin seine Pläne erriet und sie durchkreuzen wollte. Und während er schon darüber nachdachte, wie er sich dagegen verteidigen und an ihr rächen wollte, wandte er sich mit samtenem Blick und einschmeichelnder Galanterie an sie: »Madame, Ihre Worte zeigen, daß Sie den Stolz der schönen intelligenten Französinnen besitzen, der sich gegen jedes Joch empört. Die Französinnen lieben die Freiheit, und keine ist ihrer so würdig wie Sie. Ich selbst bin verschiedentlich in Frankreich gewesen. Ich habe die elegante Geselligkeit von Paris kennen und bewundern gelernt, die Salons, die Festlichkeiten, die Kunst der Konversation, das Spiel. Aber wenn wir dann wieder in unsern Bergen, unter unsern heimischen Olivenbäumen sind, so verbauern wir wieder. Wir nehmen unsere ländlichen Sitten wieder an und sehen in der Ehe nur eine morgenfrische Idylle.«
Vivian Bell betrachtete die Wachsstatuette, die Dechartre auf dem Tisch stehengelassen hatte.
»Wirklich, genauso muß Beatrice ausgesehen haben. Wissen Sie, daß es böswillige Menschen gibt, die behaupten, Beatrice habe überhaupt nicht existiert, Monsieur Dechartre?«
Choulette erklärte, daß er zu diesen böswilligen Menschen gehöre. Er glaubte nicht, daß Beatrice wirklicher gewesen sei als alle übrigen Damen, in denen die alten Minnedichter irgendeine lächerlich spitzfindige Scholastikeridee verkörpert hätten.
Er war neidisch auf jedes Lob, das man ihm nicht erteilte, eifersüchtig auf Dante wie auf alles in der Welt, aber sehr beschlagen. Er glaubte den schwachen Punkt in der Rüstung gefunden zu haben und schlug zu:
»Ich vermute, daß die junge Schwester der Engel nur in der Phantasie des altissimo poeta gelebt hat. Sie scheint eine reine Allegorie oder besser noch ein Rechenexempel, ein Gegenstand astrologischer Spekulation gewesen zu sein. Dante, der, unter uns gesagt, ein braver Doktor von Bologna war, hatte unter seiner spitzen Kappe arg viel Mondschein gefangen; er glaubte an die Kraft der Zahl. Der begeisterte Mathematiker träumte von Zahlen, und seine Beatrice ist eine Blüte seiner Arithmetik. Das ist alles.« Er steckte sich eine Pfeife an.
»Wie können Sie nur so etwas sagen, Monsieur Choulette«, rief Vivian Bell. »Sie tun mir weh. Und wenn unser Freund Gebhart Sie hören würde, wäre er sehr böse auf Sie. Ihnen zur Strafe soll uns Fürst Albertinelli den Gesang vorlesen, in dem Beatrice die Mondflecken erklärt. Eusebio, nehmen Sie die Divina Commedia. Es ist das weiße Buch dort auf dem Tisch. Öffnen Sie und lesen Sie.«
Während der Fürst beim Schein der Lampe vorlas, hatte sich Dechartre neben die Gräfin Martin auf das Sofa gesetzt und sprach mit leiser Stimme und voller Enthusiasmus über Dante als den Dichter, der am meisten von allen Plastiker war.
Er erinnerte Thérèse an das Bild, das sie vor zwei Tagen in Santa Maria Novella über der Porta dei Servi gesehen hatten, ein fast verwaschenes Fresko, auf dem man gerade noch den Dichter mit dem Lorbeerkranz, Florenz und die sieben Höllenkreise erkennen konnte. Aber es hatte genügt, um den Künstler in ihm zu begeistern, während sie gar nichts zu unterscheiden vermochte und darum auch nicht weiter gerührt war. Sie gestand ihm dabei auch, daß ihr Dante zu düster sei und sie deshalb nicht sonderlich anzöge. Dechartre, der gewohnt war, daß sie auf alle seine Ideen über Kunst und Dichtung einging, war überrascht und etwas mißvergnügt. »Es gibt große und gewaltige Dinge, die Sie nicht fühlen können«, sagte er mit lauter Stimme.
Miß Bell blickte auf und fragte, was das für Dinge seien, die Darling nicht fühlte. Als sie hörte, daß von Dante die Rede sei, rief sie mit gemachtem Zorn: »Was? Sie verehren ihn nicht – ihn, den Vater, den Meister, der über alles Lob erhaben ist, den strömenden Gott? Darling, ich liebe Sie nicht mehr. Ich verabscheue Sie!«
Und dann, als ob sie Thérèse und Choulette ihr Unrecht klarmachen wollte, erinnerte sie an die liebende Verehrung jenes florentinischen Bürgers, der die Kerzen vom Altar nahm, wo sie zu Christi Ehren entzündet waren, und sie vor Dantes Büste aufstellte.
Der Fürst hatte die unterbrochene Lektüre wieder aufgenommen:
»In ihren Schoß ließ uns die Perle ein,
die ewige . . .«
Dechartre wollte Thérèse hartnäckig dazu bringen, etwas zu bewundern, was sie nicht einmal kannte. Gewiß hätte er leichten Herzens Dante, wie alle übrigen Dichter und was es sonst noch auf der Welt geben mochte, für sie hingegeben. Aber ohne daß sie selbst es wußte, so ruhig und begehrenswert in seiner Nähe, reizte sie ihn durch ihre lachende Schönheit. Seine Ideen wollte er ihr aufzwingen, seine leidenschaftliche Liebe zur Kunst, ja, selbst seine Phantasien und seine Launen sollte sie mit ihm teilen. Er redete leise und eindringlich auf sie ein, seine Worte waren gepreßt und von streitbarer Ungeduld.
»Mein Gott, wie sind Sie ungestüm«, sagte sie.
Da beugte er sich zu ihr herab und flüsterte ihr in leidenschaftlichem Ton, den er vergebens zu dämpfen suchte, ins Ohr: »Mit meiner ganzen Seele sollen Sie mich hinnehmen; es würde mich nicht glücklich machen, Sie zu erringen, wenn Sie meine Seele nicht kennen.«
Bei diesen Worten überlief Thérèse ein Schauer – sie wußte selbst nicht, ob es Furcht oder Freude war.