Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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31

Die bleiche Wintersonne drang durch die Nebel, die über der Seine lagen, und beschien die Hunde von Oudry über den Türen des Speisezimmers im Palais Martin.

Madame Martin saß neben dem Abgeordneten Garain, dem ehemaligen Justizminister und Ministerpräsidenten, und dem Senator Loyer, während Monsieur Berthier d'Eyzelles neben dem Grafen Martin placiert war.

Es war ein ganz einfaches und intimes politisches Frühstück.

Wie Montessuy vorausgesagt hatte, war das Ministerium vor vier Tagen gestürzt worden.

Garain war heute morgen ins Élysée beschieden worden und hatte den Auftrag übernommen, ein neues Kabinett zu bilden.

Er beschäftigte sich jetzt beim Frühstück damit, die Liste zusammenzustellen, die dem Präsidenten am Abend vorgelegt werden sollte. Während sie mit allen möglichen Namen um sich warfen, hing Thérèse ihren Gedanken nach.

Als die Kammer wieder zusammentrat, war sie mit ihrem Mann nach Paris zurückgekehrt, und sie lebte seitdem wie in einem Märchen.

Jacques liebte sie, und in seiner Liebe lag eine beseligende Mischung von Leidenschaft und stiller Zärtlichkeit, von Erfahrung und naiver Neugier. Dabei war er nervös, reizbar und unruhig. Aber gerade diese wechselnden Stimmungen machten seine Fröhlichkeit um so wertvoller. Plötzlich brach die echte Heiterkeit des Künstlers bei ihm durch wie eine Flamme und verschönte ihre Liebe, ohne zu verletzen. Sie war entzückt über sein geistvolles Lachen, über den natürlichen Takt, den er an den Tag legte, wenn sie in intimen Stunden miteinander scherzten, und der sich selbst in seinen Launen offenbarte. In der ersten Zeit war seine Liebe nur eine finstere, sich immer gleichbleibende Glut gewesen. Und gerade das hatte ihr Herz gewonnen. Aber dann hatte sie entdeckt, wie überströmend heiter er sein konnte, wieviel verschiedene Töne er anzuschlagen wußte. Er konnte in seiner Sinnlichkeit so anmutig sein und hatte eine ganz eigene Gabe, mit seinen Liebkosungen die ganze Seele und nicht nur das Fleisch zu befriedigen.

»Das ist leicht gesagt: ein homogenes Ministerium«, rief Garain. »Man muß trotzdem den einzelnen Fraktionen der Kammer ihre selbständigen Tendenzen belassen.« Er war etwas unruhig. Er sah sich jetzt von ebenso vielen Fallen umgeben, wie er sie seinerzeit andern gelegt hatte. Sogar seine Mitarbeiter standen ihm feindlich gegenüber.

Graf Martin wollte ein modern angehauchtes Ministerium.

»Ihre Liste besteht aus lauter Persönlichkeiten von ganz verschiedener Herkunft, und jeder verfolgt andere Tendenzen. Und wissen Sie, was ich für die bedeutendste Tatsache halte, die uns die politische Geschichte der letzten Jahre gelehrt hat? Ich meine die Möglichkeit, beinah möchte ich sagen die Notwendigkeit, einheitliche Gesichtspunkte in der Leitung der Geschäfte einzuführen. Und gerade Sie, mein lieber Garain, haben diese Idee mit großer Beredsamkeit verfochten.«

Monsieur Berthier d'Eyzelles verhielt sich schweigend.

Loyer, der Senator, beschäftigte sich damit, Brotkugeln zwischen den Fingern zu drehen. Als einstiger Stammgast der Restaurationen zweiten Ranges hatte er sich angewöhnt, beim Brotkügelchenkneten oder Korkenschnitzeln seine Ideen zu verarbeiten. Dann erhob er sein kupferrotes Gesicht mit dem ungepflegten Bart und blickte Garain mit rötlich schimmernden, eng zusammenstehenden Augen an: »Ich habe das immer gesagt, aber man hat es mir nicht glauben wollen. Die Vernichtung der monarchisch gesinnten Rechten ist für die Häupter der republikanischen Partei ein nicht wiedergutzumachender Schaden gewesen. Man regierte gegen die Rechte, und die wahre Stütze der Regierung ist doch immer die Opposition. Das Kaiserreich hat gegen uns und gegen die Orléanisten regiert; der sechzehnte Mai wiederum regierte gegen die Republikaner. Wir waren besser daran, als wir die Rechte gegen uns hatten, denn die Rechte war die beste Opposition, die man sich denken kann – eine große, ehrliche, unpopuläre Partei, die trotz ihrer beständigen Drohungen völlig machtlos war. Wir hätten sie festhalten müssen, aber man hat es nicht verstanden. Und dann – gestehen wir es nur ein: mit der Zeit nützt alles sich ab.

Trotzdem müssen wir immer eine Opposition haben. Und jetzt haben wir nur noch die Sozialisten, um uns den Halt zu geben, den die Rechte uns fünfzehn Jahre lang mit einer so aufopfernden Beständigkeit geboten hat. Aber die Sozialisten sind zu schwach. Man müßte sie stärken, ihnen Gelegenheit geben, sich auszubreiten und sie zu einer Partei machen, die politisch mitzählt. Das ist, so wie die Sache liegt, die wichtigste Aufgabe für das neue Ministerium des Innern.«

Garain, der kein Talent zum Zyniker besaß, erwiderte kein Wort.

»Garain, wissen Sie schon«, fragte Graf Martin, »ob Sie als Präsident das Justizministerium oder das Ministerium des Innern mit übernehmen werden?«

Garain erwiderte darauf, seine Entscheidung hinge davon ab, was N . . . wählen würde, den man unbedingt in das Kabinett aufnehmen müsse und der noch zwischen den beiden Portefeuilles schwanke. Er selbst, Garain, würde seine persönlichen Neigungen immer dem Gemeinwohl opfern.

Loyer grinste in seinen Bart hinein. Er sehnte sich sehr danach, Justizminister zu werden, und dieser Wunsch datierte schon von lange her. Unter dem Kaiserreich war er Repetitor für Jurisprudenz gewesen, und seine Lektionen, die er am Tisch irgendeines Kaffeehauses zu geben pflegte, wurden sehr hoch geschätzt. Er besaß viel Talent für Rechtskniffe. Seine politische Karriere hatte er damit begonnen, daß er Artikel schrieb, die sehr geschickt darauf angelegt waren, ihm Verfolgungen, Prozesse und sogar ein paar Wochen Gefängnis einzutragen. Und von jener Zeit an sah er in der Presse eine Waffe der Opposition, die zu unterdrücken die Aufgabe jeder vernünftigen Regierung war.

Seit dem 4. September 1870 war es sein Traum, Justizminister zu werden, um der Welt zu zeigen, wie der einstige Bohemien und zu Badinguets Zeiten Stammgast des Gefängnisses Sainte-Pélagie, wie der Rechtsrepetitor, der bei einer Portion garniertem Sauerkraut seine Lektionen erteilt hatte, sich als oberster Chef des Gerichtswesens ausnehmen würde.

Aber dutzendweise waren ihm wahre Tölpel zuvorgekommen. In dem mittelmäßigen Ehrenamt eines Senators war er alt geworden. Er war arm, dabei träge und abgearbeitet, von ungepflegtem Äußeren, unterhielt ein Verhältnis mit einer Kellnerin, und doch machten sein alter Jakobinergeist und die aufrichtige Verachtung, die er gegen das Volk empfand und die noch größer war als sein Ehrgeiz, noch eine politische Größe aus ihm. Sein Name stand jetzt mit auf der Liste Garains, er glaubte sich das Justizministerium sicher. Und nun wurde Garain, sein Protektor, selbst zu einem unerwünschten Rivalen. So lächelte er höhnisch vor sich hin, während er einen kleinen Hund aus Brot knetete.

Monsieur Berthier d'Eyzelles saß sehr ruhig und ernst da und strich düster seinen schönen weißen Backenbart.

»Glauben Sie nicht auch, Monsieur Garain, daß es gut wäre, wenn man in dem Kabinett den Männern einen Platz einräumte, die von Anfang an die Politik verfolgt haben, die wir jetzt treiben?«

»Sie haben sich darin verloren«, entgegnete Garain in seiner Ungeduld. »Ein Politiker darf den Tatsachen nicht vorauseilen. Er tut unrecht, wenn er zu früh recht haben will. Mit Denkern macht man keine Staatsgeschäfte. Seien wir doch ehrlich. Wenn Sie ein Ministerium des linken Zentrums haben wollen, dann sagen Sie es bitte frei heraus. Dann ziehe ich mich zurück. Aber ich warne Sie. Weder die Kammer noch das Land werden mit Ihnen gehen.«

»So viel ist gewiß«, sagte Graf Martin, »daß wir uns eine Mehrheit sichern müssen.«

»Mit meiner Liste ist unsere Mehrheit gemacht«, antwortete Garain. »Nur eine Minderheit hat das Ministerium gegen uns unterstützt, dazu kommen für uns noch die Stimmen, die wir von ihr zu uns herübergezogen haben. Meine Herren, ich rechne auf Ihre Uneigennützigkeit.«

Und nun begannen sie wieder mit der mühevollen Arbeit, die Portefeuilles unter sich zu verteilen. Graf Martin sollte zuerst die öffentlichen Arbeiten erhalten, aber er weigerte sich, weil er in diesen Sachen nicht kompetent sei. Dann wurde ihm das Außenministerium zugesprochen, womit er ohne jede Einwendung zufrieden war.

Aber Monsieur Berthier d'Eyzelles, dem Garain Handel und Landwirtschaft anbot, hielt sich zurück.

Loyer fiel das Kolonialamt zu. Er schien ganz damit beschäftigt, den kleinen Hund, den er eben zusammengeknetet hatte, auf dem Tischtuch festzukleben, und schielte dabei mit seinen kleinen Augen zu der Gräfin Martin hinüber. Er fand sie sehr begehrenswert und hoffte darauf, in Zukunft in den intimen Kreis des Hauses gezogen zu werden.

Während er Garain eifrig weiterreden ließ, widmete er sich dieser hübschen Frau. Er suchte ihre Neigungen und ihre Lebensgewohnheiten zu erforschen. So fragte er, ob sie gerne ins Theater ginge und ob sie manchmal des Abends mit ihrem Mann das Café besuche. Und sie fand ihn interessanter als die anderen, mit seinem verwahrlosten Äußeren, seiner Unkenntnis des gesellschaftlichen Lebens und seinem stolzen Zynismus.

Garain hatte sich erhoben. Er mußte noch N . . . und N . . . und N . . . aufsuchen, ehe er mit seiner Liste zum Präsidenten der Republik ging. Der Graf Martin bot ihm seinen Wagen an, aber Garain hatte seinen eigenen, der unten auf ihn wartete.

»Glauben Sie denn«, fragte Graf Martin, »daß der Präsident mit allen Namen, die auf der Liste stehen, einverstanden ist?«

»Der Präsident«, antwortete Garain, »wird sich durch die in der Situation begründeten Notwendigkeiten leiten lassen.«

Als er schon an der Tür stand, schlug er sich plötzlich an die Stirn und kam wieder zurück: »Wir haben den Kriegsminister vergessen.«

»Oh, den werden wir mit Leichtigkeit unter den Generälen finden«, sagte Graf Martin.

»So«, rief Garain, »glauben Sie, daß die Wahl des Kriegsministers so einfach ist? Da sieht man, daß Sie nicht wie ich Ministerpräsident gewesen sind und drei verschiedenen Kabinetten angehört haben. Die Kriegsminister haben uns immer die dornigsten Schwierigkeiten bereitet, und die Generäle sind sich alle gleich. Sie wissen ja, wen ich damals gewählt habe, als ich das Kabinett zu bilden hatte. Wir wählten einen Mann, der nichts von Staatsgeschäften verstand. Ich glaube, er wußte nicht einmal, daß es zwei Kammern gibt. Wir mußten ihm das ganze Räderwerk des parlamentarischen Mechanismus auseinandersetzen, ihm sagen, daß es eine Militärkommission, eine Finanzkommission und soundso viele Unterkommissionen gäbe, wir mußten ihm erklären, was ein Berichterstatter und was die Beratung über das Budget sei. Er bat uns, man möge ihm das alles auf ein Stück Papier aufschreiben. Im Grunde waren wir ganz entsetzt über seine Unkenntnis von Menschen und Dingen. Und nach vierzehn Tagen wußte dieser Mensch mit allen Kniffen seines Handwerks Bescheid, kannte sämtliche Senatoren und Abgeordneten persönlich und intrigierte mit ihnen gegen uns, daß es eine Art hatte. Ohne den Beistand des Präsidenten Grévy, der dem Militär gegenüber sehr mißtrauisch war, hätte er uns alle über den Haufen geworfen. Und das war ein ganz gewöhnlicher General, ein General wie alle andern. Nein, nein, glauben Sie nur nicht, daß man das Kriegsministerium so unüberlegt in aller Eile dem ersten besten anvertrauen darf.«

Ihn schauderte noch, wenn er an seinen einstigen Kollegen vom Boulevard Saint-Germain dachte.

Dann ging er. Thérèse erhob sich jetzt. Der Senator Loyer bot ihr den Arm mit der ganzen wohlabgerundeten Grazie, die er vor vierzig Jahren bei Bullier gelernt hatte.

Dann ließ sie die Herren allein. Sie sehnte sich danach, Dechartre wiederzusehen.

 

Über der Seine und den steinernen Quais mit ihren goldenen Platanen wogten rötliche Nebel. Der flammende Schein der Sonne warf den letzten Glanz des Jahres auf den wolkigen Himmel.

Voller Wonne zog Thérèse die frische, würzige Luft ein und genoß die verlöschende Pracht des Tages.

Seit ihrer Rückkehr nach Paris war sie so glücklich, daß sie sich jeden Morgen über das Wetter freute, mochte es nun gut oder schlecht sein. In dem Egoismus ihrer Liebe kam es ihr vor, als ob der Wind nur für sie durch die entblätterten Bäume brauste, nur für sie der feine graue Regen auf die Straßen niederrieselte und die kalte Wintersonne am blassen Himmel ihre Bahnen zog – nur für sie und damit sie Jacques erzählen konnte: »Es stürmt – es regnet«, oder: »Das Wetter ist schön!« Ihr war, als ob das ganze Weltall in ihrer Liebe aufgehen müsse. Und für sie brach jeder Tag in neuer Schönheit an, weil jeder sie wieder in die Arme ihres Freundes führte.

Während sie heute, wie alle anderen Tage, nach dem kleinen Haus in Les Ternes ging, dachte sie über ihr Glück nach, das so unverhofft in seiner ganzen Fülle über sie gekommen war und dessen sie sich endlich sicher fühlte. Sie ging im letzten Glanz der Sonne, die schon vom Winter angerührt war, und sie sagte sich: ›Ja, er liebt mich. Ich glaube, daß die Liebe zu mir ihn ganz erfüllte Die Liebe kommt ihm leichter und natürlicher als andern Männern, denn die andern haben irgendeine Idee, die über ihnen steht, sie haben ihren Glauben, ihre Gewohnheiten und ihre Interessen. Sie glauben an Gott oder an irgendwelche Ziele oder an sich selbst. Jacques glaubt ausschließlich an mich. Ich bin sein Gott, ich bin sein Ziel und sein Leben.‹ Dann dachte sie weiter: ›Aber es ist wahr, er braucht keinen Menschen, nicht einmal mich. Seine Phantasie ist eine herrliche, in sich abgeschlossene Welt, in der er vollkommen glücklich leben könnte. Ich dagegen – ich kann nicht ohne ihn leben. Was sollte aus mir werden, wenn ich ihn verlöre?‹

Sie beruhigte sich wieder mit dem Gedanken an ihre leidenschaftliche Neigung, an die beglückenden Stunden ihres Beisammenseins. Und sie erinnerte sich, daß sie ihm eines Tages gesagt hatte: »Deine Liebe zu mir ist ausschließlich sinnlich. Ich beklage mich nicht darüber; vielleicht ist die sinnliche Liebe die einzige wahre.« Er hatte darauf geantwortet: »Ja, und sie ist die einzige, die wirklich groß und stark ist, denn sie hat ihr Gesetz und ihre Waffen, sie ist gewaltsam und geheimnisvoll, erfüllt von Geist und Farbe. Sie hängt am Fleisch und an der Seele, die im Fleische wohnt. Alles andere ist Lüge und Illusion.«

Sie fühlte sich jetzt beinah ruhig in ihrem Glück.

Sein Argwohn und seine Besorgnisse hatten sich zerstreut wie Gewitterwolken im Sommer. Die schlimmste Zeit für ihre Liebe war gewesen, als sie voneinander getrennt waren. Nein, wenn man sich liebt, soll man sich niemals trennen.

An der Ecke der Avenue Marceau und der Rue Galilée streifte ein Schatten, eine längst vergessene Gestalt an ihr vorüber. Sie erriet, wer es war, obgleich sie ihn kaum erkannt hatte.

Aber sie glaubte sich geirrt zu haben, sie wollte sich geirrt haben. Der, den sie zu sehen geglaubt, existierte nicht mehr für sie, hatte niemals für sie existiert. Es war ein Phantom aus einer versunkenen Welt, aus dem Dunkel der halbgelebten Dinge. Und doch konnte sie im Weitergehen ein Gefühl von Kälte und Beklommenheit, konnte das leise Unbehagen nicht loswerden, mit dem diese unklare Begegnung sie erfüllt hatte.

Als sie die Straße hinaufging, begegnete sie einer Menge von Zeitungsverkäufern. Mit ausgestrecktem Arm hielten sie die Abendblätter empor, die in großgedruckten Lettern das neue Ministerium verkündeten.

Dann überquerte sie die Place de l'Étoile, von der glückseligen Ungeduld des Verlangens vorwärts getrieben. In Gedanken sah sie Jacques schon am Fuß der Treppe stehen, wo er zwischen den wilden, nackten Leibern der Bronze- und Marmorstatuen auf sie wartete. Und dann nahm er sie in seine Arme, und während sie schon unter seinen Küssen erschauerte, trug er sie hinauf in das dunkle, wollustatmende Zimmer, wo sie in ihrem Liebesrausch das Leben vergaßen.

Aber dann, in der Stille der Avenue Mac-Mahon, trat jener Schatten auf sie zu, der vorhin schon einmal an ihr vorbeigestreift war, und stand in nüchterner und peinlicher Bestimmtheit vor ihr da.

Sie erkannte Robert Le Ménil, der ihr vom Quai Debilly an gefolgt war und nur gewartet hatte, bis sie in eine ruhige Straße einbog, um sie anzureden.

In seiner Miene und in seinem ganzen Wesen lag jene Einfachheit und Klarheit, die Thérèse einst zu ihm hingezogen hatte. Seine von Natur harten Züge waren von Sonne und Wetter gebräunt und erschienen dadurch noch finsterer. Sein Gesicht war etwas eingefallen, aber vollkommen ruhig, und man sah ihm an, daß er schwer gelitten hatte.

»Ich habe mit dir zu reden.«

Sie mäßigte ihre Schritte, und er ging neben ihr her.

»Ich habe versucht, dich zu vergessen. Nach dem, was vorgefallen ist, war das ganz selbstverständlich, nicht wahr? Und ich habe dazu getan, was ich konnte. Es wäre ja das beste gewesen, dich zu vergessen. Aber ich habe es nicht gekonnt. Ich habe mir eine Jacht gekauft und bin sechs Monate auf dem Meer gewesen. Vielleicht hast du davon gehört?«

Sie nickte bejahend, und er fuhr fort: »›Rosebud‹ – eine hübsche kleine Jacht von achtzig Tonnen. Ich hatte sechs Mann Besatzung und habe selbst mit ihnen manövriert. Es war immerhin eine Zerstreuung.«

Er schwieg. Sie ging langsam weiter, sie war traurig, und vor allem langweilte er sie. Es kam ihr über alle Begriffe albern und peinlich vor, all diese fremdartig klingenden Worte anhören zu müssen.

»Was ich in dieser Zeit gelitten habe, ich müßte mich schämen, es dir zu sagen.«

Sie fühlte, daß er die Wahrheit sagte, und wandte den Kopf ab.

»Oh, ich habe dir alles verziehen. Ich habe in meiner Einsamkeit viel darüber nachgedacht. Tage und Nächte habe ich auf meinem Diwan in der Deckskajüte gelegen und immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf gewälzt. Während dieser sechs Monate habe ich mehr nachgedacht als sonst in meinem ganzen Leben. Lache nicht darüber. Nichts vermag den Geist so aufzuwecken wie ein großer Schmerz. Ich habe eingesehen, daß es meine Schuld war, wenn ich dich verloren habe. Ich hätte es besser verstehen müssen, dich festzuhalten. Und wenn ich so dahingestreckt dalag, während ›Rosebud‹ über das Meer dahinglitt, habe ich mir gesagt: ›Nein, ich habe es nicht verstanden. Oh, wenn ich noch einmal wieder von vorn beginnen dürfte.‹ Ich habe es eingesehen – nach langem Nachdenken und unter tiefem Leiden habe ich begriffen, daß ich nicht genug auf deine Neigungen und Ideen eingegangen bin. Du bist eine geistig hochstehende Frau. Ich habe es früher nicht so bemerkt, weil es nicht das war, was meiner Liebe zugrunde lag. Ich habe dich oft verletzt und gereizt, ohne es zu ahnen.«

Thérèse schüttelte den Kopf, aber er ließ sich nicht beirren: »Ja, ja, ich habe dich oft verletzt. Ich habe dein Zartgefühl nicht genug geschont. Es kam zu Mißverständnissen zwischen uns, weil wir verschiedenen Wesens sind. Und dann habe ich nicht genug für deine Unterhaltung gesorgt. Ich wußte dir nicht die Freuden zu verschaffen, deren du bedarfst und die einer intelligenten Frau, wie du es bist, zukommen.«

Er war so aufrichtig in seinem Schmerz und seiner Reue, daß es Thérèse trotz allem sympathisch berührte. So sagte sie mit sanfter Stimme: »Lieber Robert, ich habe mich niemals über dich zu beklagen gehabt.«

Aber er sprach weiter.

»Was ich dir da sage, ist alles wahr. Ich habe es eingesehen, während ich ganz allein mit meinem Schiff auf dem weiten Meere war. Ich habe Stunden durchlebt, die ich nicht einmal jenem Mann wünschen möchte, der mir das schwerste Leid meines Lebens zugefügt hat. Wie oft habe ich Lust gehabt, mich ins Meer zu stürzen. Ich habe es nicht getan. Haben meine religiösen Grundsätze, hat der Gedanke an meine Familie mich zurückgehalten? Oder habe ich nicht den Mut dazu gehabt? Ich weiß es selber nicht. Vielleicht war es – trotz der Entfernung, die zwischen uns lag – der Gedanke an dich, der mich am Leben festhielt. Ich wurde zu dir hingezogen, und deshalb bin ich jetzt hier. Seit zwei Tagen habe ich dir aufgelauert. Dein Haus wollte ich nicht wieder betreten. Ich hätte dich nicht allein gefunden, vielleicht nicht einmal mit dir sprechen können. Außerdem wärest du gezwungen gewesen, mich zu empfangen. Deshalb fand ich es besser, auf der Straße mit dir zu reden. Auch dieser Gedanke ist mir auf dem Schiff gekommen. Ich habe mir gesagt, auf der Straße wird sie mich nur anhören, wenn sie es selber will – wie damals vor vier Jahren in Joinville, weißt du noch, in der Allee mit den Statuen, bei der großen Fontäne.« Und mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: »Ja, wie damals in Joinville, weil wir noch einmal von vorn beginnen müssen. Seit zwei Tagen also warte ich auf dich. Gestern regnete es, und du bist im Wagen ausgefahren. Ich hätte dir folgen können, um zu wissen, wohin du gingst. Ich hatte große Lust dazu. Aber ich habe es nicht getan, denn ich will nichts tun, was dir mißfällt.«

Sie reichte ihm die Hand: »Ich danke dir. Ich habe es wohl gewußt, daß ich mein Vertrauen zu dir nicht zu bereuen brauchte.«

Sie war erregt und ungeduldig und bebte in nervöser Angst vor dem, was er jetzt noch sagen würde. Deshalb suchte sie das Gespräch abzubrechen und ihm zu entkommen.

»Leb wohl, Robert, du hast noch das ganze Leben vor dir. Du bist glücklich. Denke daran und quäle dich nicht länger, es ist nicht der Mühe wert.«

Aber er warf ihr einen Blick zu, der sie zwang, zu bleiben. Sein Gesicht hätte den erregten und dabei entschlossenen Ausdruck angenommen, den sie kannte.

»Ich habe dir gesagt, daß ich mit dir zu reden habe. Du mußt mich noch einen Augenblick anhören.«

Sie dachte an Jacques, der schon auf sie wartete. Hin und wieder kamen Leute vorbei, blickten sie an und gingen weiter. Sie blieb unter einem Baum stehen und wartete auf das, was er sagen wollte, während Mitleid und Furcht sich in ihrem Herzen regten.

»Sieh, ich habe dir verziehen, ich will alles vergessen. Aber sei wieder mein. Ich verspreche dir, daß alles, was geschehen ist, niemals wieder erwähnt werden soll.«

Aber sie fuhr zusammen und zeigte eine so echte Regung von Überraschung und Betrübnis, daß er innehielt. Dann dachte er einen Augenblick nach und sagte: »Ich weiß wohl, daß mein Vorschlag ungewöhnlich ist. Aber ich habe alles überlegt, alles durchdacht. Es ist das einzige, was möglich ist. Denke darüber nach, Thérèse, antworte mir nicht gleich.«

»Nein, das wäre schlecht von mir, dich darüber zu täuschen. Ich kann und will nicht auf das eingehen, was du mir gesagt hast, und du weißt, warum.«

Jetzt fuhr ein Fiaker vorbei. Sie gab dem Kutscher ein Zeichen, und er hielt an. Aber Robert hielt sie noch einen Augenblick zurück: »Ich habe vorhergesehen, daß du mir so antworten würdest. Und deshalb sage ich dir noch einmal: Antworte mir nicht gleich.«

Sie hatte den Türgriff schon in der Hand, und nun blickte sie ihn mit ihren grauen Augen an.

Das war der schwerste Augenblick für ihn. Er dachte an die Zeit zurück, wo er diese schönen Augen unter den halbgeschlossenen Lidern hatte hervorleuchten sehen. Er hielt ein Schluchzen zurück und murmelte mit erstickter Stimme: »Thérèse, höre mich an. Ich kann nicht ohne dich leben. Ich liebe dich. Erst jetzt liebe ich dich wirklich, früher habe ich es selbst nicht gewußt.«

Und während sie dem Kutscher die Adresse irgendeiner Modistin zurief, entfernte er sich mit seinen raschen, elastischen Schritten, die heute etwas ungleichmäßiger waren als sonst.

Ihr war nach dieser Begegnung etwas unruhig und bange zumute. Wenn es denn hatte sein müssen, daß sie ihn wiedersah, so wäre es ihr lieber gewesen, ihn so heftig und brutal zu sehen wie damals in Florenz.

An der Ecke der Allee rief sie dem Kutscher hastig zu: »Les Ternes, Rue Demours.«

 


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