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Le Ménil hatte ihr geschrieben: »Ich reise morgen abend um sieben Uhr und wünsche Dich am Bahnhof zu sehen.«
Sie ging hin. In seinem langen grauen Havelock sah sie ihn vor den Hotelwagen stehen.
»Aha, du bist es!« war alles, was er sagte.
»Aber, Robert, du hast mich ja gerufen.«
Er wollte es nicht eingestehen, aber er hatte aus einer unsinnigen Hoffnung heraus geschrieben, daß sie doch noch zu ihm zurückkehren würde und daß alles andere vergessen sei. Er hatte es sogar für möglich gehalten, daß sie ihm sagen würde: »Ich wollte dich nur auf die Probe stellen.«
Und wenn sie das wirklich gesagt hätte, nicht einen Augenblick hätte er daran gezweifelt, daß es wahr sei. So war er enttäuscht, daß sie nicht einmal den Mund auftat, und sagte schroff: »Was hast du mir zu sagen? Jetzt ist zu reden die Reihe an dir. Ich habe dir keine Erklärungen zu geben, mich wegen keiner Treulosigkeit zu rechtfertigen.«
»Robert, sei nicht grausam, sei nicht undankbar gegen die Vergangenheit. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe. Und dann noch, daß ich mit Schmerz und in wahrer Freundschaft von dir scheide.«
»Ist das alles? Dann geh nur hin und sage es dem andern. Es wird ihn mehr interessieren als mich.«
»Du hast mich hierhergerufen. Laß mich nicht bereuen, daß ich gekommen bin.«
»Es tut mir leid, dich bemüht zu haben. Du hättest jedenfalls eine bessere Verwendung für deine Zeit gehabt. Ich will dich nicht länger aufhalten. Geh nur wieder zu ihm, du kannst es ja kaum aushalten vor Sehnsucht.«
Bei dem Gedanken, daß das ewige menschliche Leid sich in solch armseligen und niedrigen Worten aussprach, die dann die tragische Kunst ins Erhabene wendete, kam ein Gefühl von Trauer über sie, das mit etwas Ironie gemischt war.
Er sah, daß ihre Lippen sich leicht kräuselten, und glaubte, sie lache.
»Du brauchst nicht darüber zu lachen. Höre mich noch einen Augenblick an. Vorgestern, in dem Hotelzimmer, wollte ich dich umbringen. Ich war so nah daran, daß ich weiß, was das heißen will. Aber ich werde es nicht tun, du kannst ganz ruhig sein. Wozu auch? Und da ich die gesellschaftlichen Rücksichten immer zu beobachten pflege, werde ich sogar in Paris einen Besuch bei dir machen. Man wird mir zu meinem Bedauern mitteilen, daß du nicht zu sprechen seist. Ich werde deinen Mann und auch deinen Vater besuchen, und zwar, um Abschied zu nehmen, ehe ich eine lange Reise antrete. Adieu, Madame!«
In dem Augenblick, als er ihr den Rücken wandte, sah Thérèse Miß Bell und Fürst Albertinelli vom Güterbahnhof her auf sich zukommen. Der Fürst war schön wie immer, und Vivian ging an seiner Seite in der Heiterkeit, die unschuldige Freuden schenken.
»Oh, Darling, was für eine angenehme Überraschung,. Sie hier zu finden! Der Fürst und ich sind eben auf dem Zollamt gewesen, um den Empfang der Glocke zu bestätigen.«
»Ah, sie ist also gekommen?«
»Ja, sie ist da, Darling, die Glocke von Ghiberti! Ich habe sie in ihrem hölzernen Käfig gesehen. Sie konnte nicht läuten, weil sie eingesperrt war; aber ich werde ihr in meinem Haus in Fiesole einen Campanile zur Wohnung geben. Wenn sie erst die Luft von Florenz um sich fühlt, wird sie glücklich sein, ihre silberne Stimme ertönen zu lassen. Und sie wird für Sie und für mich läuten, für den Fürsten, für die gute Madame Marmet, für Choulette und all unsere Freunde. Die Tauben werden sie besuchen, und sie wird all unsere Schmerzen und all unsere Freuden verkünden.«
»Aber, Liebste, die Glocken läuten niemals, wenn man wirklich traurig oder wirklich froh ist. Sie walten ihres Amtes nur, wenn es sich um konventionelle Gefühle handelt.«
»O Darling, da irren Sie sich sehr. Die Glocken wissen alles. Sie kennen alle Geheimnisse unserer Seele. – Aber ich freue mich sehr, Sie zu treffen. O my love, ich weiß, weshalb Sie an die Bahn gegangen sind. Ihre Kammerjungfer hat Sie verraten. Sie hat mir gesagt, daß Sie auf ein rosa Kleid warten, das immer noch nicht angekommen ist, und daß Sie vor Ungeduld vergehen. Aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen. Sie sind immer die Allerschönste, my love.«
Dann forderte sie sie auf, in den Wagen zu steigen: »Kommen Sie schnell, Darling, Monsieur Jacques Dechartre kommt zum Diner, und ich möchte ihn nicht warten lassen.«
So fuhren sie durch den stillen Abend. Der Duft der Feldblumen erfüllte alle Wege.
»Darling, sehen Sie die dunklen Spindeln der Parzen, der Zypressen dort unten auf dem Friedhof? Dort werde ich einmal schlafen.«
Aber Thérèse dachte voller Unruhe: ›Sie haben ihn gesehen. Ob sie ihn erkannt hat? Ich glaube nicht, denn es war schon dunkel am Bahnhof, und die vielen kleinen Lichter blendeten so. Wenn ich nur wüßte, ob sie ihn überhaupt kennt. Ich kann mich nicht entsinnen, ob sie ihn voriges Jahr bei mir gesehen hat.‹
Was sie am meisten beunruhigte, war, daß der Fürst eine heimliche, boshafte Freude zu empfinden schien.
»Darling, wollen Sie einen Platz auf diesem ländlichen Friedhof neben mir haben? Wir beide werden Seite an Seite ruhen, mit etwas Erde über uns und sehr viel Himmel. Aber es ist nicht recht von mir, Ihnen eine Einladung zu machen, die Sie nicht annehmen können. Nein, my love, Sie dürfen Ihren ewigen Schlummer nicht am Fuße der Hügel von Fiesole schlafen. Sie müssen in Paris ruhen in einem schönen Grabgewölbe an der Seite des Grafen Martin-Bellème.«
»Aber warum? Glauben Sie denn, Liebste, daß eine Frau auch nach dem Tode mit ihrem Mann zusammenbleiben muß?«
»Ja, das muß sie, Darling, die Ehe gilt für Zeit und Ewigkeit. Kennen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Ehepaar in der Auvergne, das sich so sehr liebte? Sie starben fast zu gleicher Zeit, und ihre Gräber lagen so, daß ein Weg sie voneinander trennte. Aber jede Nacht rankte sich ein Rosenstock von dem einen Grabe auf das andere hinüber, so daß man die Särge zuletzt vereinigen mußte.«
Als sie an der Badia vorüber waren, sahen sie eine Prozession, die von den Hügeln herabkam. Die Kerzen in den vergoldeten hölzernen Leuchtern flackerten im Abendwind. Weiße und blaue Ordensschwestern gingen neben den buntbemalten Fahnen her. Dann kam ein kleiner Sankt Johannes mit krausem, blondem Haar. Er hatte nichts an als ein Lammfell, das seine Schultern und Arme frei ließ. Neben ihm ging eine siebenjährige Maria Magdalena im goldenen Kleid ihrer gekräuselten Haare. Unter den Einwohnern von Fiesole, die scharenweise dem Zug folgten, erkannte Madame Martin Choulette. In der einen Hand trug er eine Kerze, in der andern sein Gebetbuch und auf der Nase eine blaue Brille. Er sang. Fahlrote Lichter zitterten in den Winkeln seines stumpfnasigen Gesichts und auf den Höckern des seltsam geformten Schädels. Sein wilder Bart hob und senkte sich im Rhythmus des Gesanges. In dem harten Widerspiel von Licht und Schatten, das seinen Kopf scharf modellierte, glich er einem jener alten unerschütterlichen Einsiedler, die ein ganzes Jahrhundert lang Buße tun können.
»Wie schön er ist«, sagte Thérèse. »Er schauspielert vor sich selbst. Er ist wirklich ein großer Künstler.«
»O Darling, warum wollen Sie nicht glauben, daß Monsieur Choulette ein frommer Mann ist? Warum nicht? Der Glaube ist etwas so Schönes und macht so glücklich. Und die Dichter wissen das. Wenn Monsieur Choulette seinen Glauben nicht hätte, hätte er seine wundervollen Verse nicht machen können.«
»Und Sie, Liebste, glauben Sie denn auch an etwas?«
»O ja, ich glaube an Gott und an das Wort Christi.«
Mittlerweile waren der Baldachin, die Fahnen und die weißen Schleier auf den Serpentinen der Bergstraße verschwunden. Aber man sah noch immer auf dem kahlen Schädel Choulettes den goldenen Widerschein der Kerze schimmern.
Dechartre war allein im Garten und erwartete sie. Thérèse fand ihn an der Balustrade der Terrasse, wo er die ersten Leiden seiner Liebe empfunden hatte.
Während Miß Bell mit dem Fürsten einen Platz für den Campanile aussuchte, in dem sie die Glocke aufhängen wollte, zog er seine Freundin mit sich fort unter die Goldregenbüsche.
»Du hattest mir doch versprochen, im Garten zu sein, wenn ich käme. Seit einer Stunde warte ich auf dich, und die Zeit ist mir tödlich lang vorgekommen. Nein, du hättest nicht fortgehen sollen. Ich war ganz überrascht und verzweifelt, als ich dich nicht fand.«
Sie antwortete unbestimmt, daß sie an den Bahnhof hätte gehen müssen und dann mit Miß Bell zurückgefahren sei, und nun entschuldigte er sich, daß er sie mit so besorgtem Gesicht empfangen habe. Aber ihn erschreckte jede Kleinigkeit, sein Glück machte ihm Angst.
Als sie schon bei Tisch saßen, erschien Choulette. Eine unheimliche Freude leuchtete aus seinen phosphoreszierenden Augen, und er sah aus wie ein alter Satyr. Seit er von Assisi zurück war, lebte er nur noch mit Leuten aus dem niederen Volk zusammen. Den ganzen Tag trank er mit Arbeitern und Dirnen Chianti, belehrte sie über das Wesen der Freude und Unschuld, über die Wiederkehr Jesu Christi und weissagte, daß demnächst der Militärdienst und die Steuern aufgehoben würden. Nach der Prozession hatte er in den Ruinen des römischen Theaters ein paar Vagabunden um sich versammelt und ihnen in makaronischer Rede, einem Gemisch von Französisch und Toskanisch, eine Predigt gehalten, die er jetzt selbstgefällig wiederholte:
»Könige, Senatoren und Richter haben gesagt: ›Das Leben des Volkes ruht in uns.‹ Sie lügen. Sie sind der Sarg, der da spricht: ›Ich bin die Wiege.‹
Das Leben der Völker ruht in den Ernten des Landes, die da reifen unter dem Blicke des Herrn. Es ruht in den Weinstöcken, die sich an die Ulmen ranken, ruht im Lächeln und in den Tränen, mit denen der Himmel die Bäume in den Fruchtgärten badet.
Es ruht aber nicht in den Gesetzen, die von den Reichen und Mächtigen zur Erhaltung des Reichtums und der Macht geschaffen worden sind.
Die Herren von Königreichen und Republiken haben in ihren Büchern geschrieben, daß Völkerrecht Recht zum Kriege sei. Sie haben die Gewalt verherrlicht. Und also überschütten sie die Eroberer mit Ehren, also errichten sie auf öffentlichen Plätzen Denkmäler für den Sieger und das Siegesroß. Aber es gibt kein Recht zum Mord. Und darum wird der Gerechte aus der großen Urne nicht das Los der Aushebung ziehen. Es ist nicht recht, die Torheit und die Verbrechen des Oberhauptes zu nähren, das über Königreich oder Republik herrscht. Und darum wird der Gerechte keine Steuer zahlen und den Zöllnern keinen Silberling geben. In Frieden wird er die Früchte seiner Arbeit genießen, wird Brot schaffen aus dem Korn, das er gesät, und die Frucht vom Baume essen, den er selbst beschnitten.«
»Ah, Monsieur Choulette«, sagte der Fürst in ernstem Ton, »Sie tun sehr recht daran, sich für die Zustände in unserm schönen, aber unglücklichen Lande zu interessieren, das vom Fiskus ausgebeutet wird. Wenn der Grundbesitz mit dreiunddreißig Prozent vom Reinertrag besteuert wird, so kann kein Verdienst dabei herauskommen. Der Besitzer sowohl wie die Arbeiter werden durch die Steuern zugrunde gerichtet.«
Thérèse und Dechartre waren ganz erstaunt über den unerwartet aufrichtigen Ton, in dem er das sagte. Dann fügte er hinzu: »Ich liebe meinen König, und meine Gesinnung ist durchaus loyal. Aber ich fühle mit den unglücklichen Landleuten.«
In Wirklichkeit hatte er ein einziges Ziel, das er mit zäher Hartnäckigkeit verfolgte. Er wollte die Domäne Casentino wieder in die Höhe bringen, die ihm sein Vater, Fürst Carlo, Adjutant des Königs Viktor Emanuel, hinterlassen hatte und die sich zu drei Viertel in den Händen der Wucherer befand. Aber er pflegte seine Zähigkeit hinter einer affektierten Weichlichkeit zu verbergen, und auch seinen Lastern huldigte er nur soweit, wie es seinem Ziele nützlich sein konnte. Um sich wieder zu einem der größten Grundbesitzer der Toskana aufzuschwingen, hatte er mit Gemälden geschachert, Schmugglergeschäfte mit den berühmten Deckengemälden seines Palazzo gemacht, hatte sich bei alten Damen einzuschmeicheln gewußt und schließlich angefangen, sich um Miß Bells Hand zu bewerben. Er wußte, daß sie sich sehr gut auf Geschäfte verstand und fähig war, ein Haus zu führen. Aber die Liebe zum Lande und zu den Bauern war echt, und die feurigen Worte Choulettes, die er nur zur Hälfte verstand, hatten sie von neuem entfacht. Er ließ seinen Gedanken jetzt freien Lauf: »In einem Lande, wo der Herr und seine Untergebenen wie eine Familie zusammenleben, hängt das Schicksal des einen von dem andern ab. Der Fiskus ruiniert uns. Und was für brave Leute haben wir unter unsern Pächtern! Auf den Landbau verstehen sie sich wie sonst nirgends auf der Welt.«
Madame Martin gestand, daß sie das nicht gedacht hätte. In der Lombardei sahen die Felder mit ihren zahllosen Bewässerungsgräben ja wohlbebaut aus, aber die Toskana war ihr immer wie ein schöner, wilder Garten vorgekommen.
Der Fürst antwortete lächelnd, daß sie vielleicht nicht so reden würde, wenn sie ihm die Ehre erwiesen hätte, seine Güter bei Casentino zu besuchen, obwohl sie durch langwierige Prozesse schwer gelitten hätten. Dort hätte sie sehen können, was der italienische Bauer zu leisten vermag. »Das Schicksal meines Gutes liegt mir am Herzen. Ich kam heute abend gerade von dorther, als mir am Bahnhof die doppelte Freude zuteil wurde, Miß Bell zu begegnen, die ihrer Glocke wegen dort war, und dann auch Sie, Madame, zu treffen, während Sie sich gerade mit einem Bekannten aus Paris unterhielten.« Er ahnte, daß es ihr unangenehm sein würde, wenn er diese Begegnung erwähnte. Als er seine Blicke über die Tafelrunde schweifen ließ, sah er, daß Dechartre überrascht und unruhig zusammenzuckte. Dann fuhr er fort: »Sie entschuldigen, Madame, wenn ich als einfacher Landmann mir anmaße, einige Menschenkenntnis zu besitzen. Aber ich habe es gleich gewußt, daß der Herr, der mit Ihnen sprach, ein Pariser war. Ich sah es an einem gewissen englischen Anstrich und daran, daß er steife Reserviertheit affektierte, während er sich doch völlig ungezwungen und mit ganz eigentümlicher Lebhaftigkeit bewegte.«
»Oh«, sagte Thérèse nachlässig, »ich hatte ihn sehr lange nicht gesehen und war sehr überrascht, ihn im Moment seiner Abreise hier in Florenz zu treffen.«
Dabei sah sie Dechartre an, aber er tat, als ob er nichts gehört hätte.
»Aber ich kenne den Herrn«, sagte Miß Bell. »Es war Monsieur Le Ménil. Ich habe zweimal mit ihm zusammen bei Madame Martin diniert, und wir haben uns sehr gut unterhalten. Er sagte mir, daß er sehr gern Fußball spiele und daß er dieses Spiel in Frankreich eingeführt habe, wo es jetzt Mode geworden sei. Dann hatte er mir von seinen Jagdabenteuern und seiner Tierliebe erzählt. Es ist mir aufgefallen, daß die Jäger eine große Liebe für die Tiere haben. Ich versichere Sie, Darling, Monsieur Le Ménil weiß entzückend von den Hasen zu erzählen. Er kennt ihre Gewohnheiten. Er hat mir gesagt, daß es so hübsch ist, wenn sie abends im Mondschein auf der Heide tanzen. Sie sind sehr klug; er hat einen alten Hasen gesehen, der von Hunden verfolgt wurde und einen andern Hasen mit Pfotenhieben aus seinem Lager aufjagte, um sie auf eine falsche Fährte zu locken. Darling, hat Monsieur Le Ménil Ihnen denn nicht von den Hasen erzählt?«
Thérèse antwortete, daß sie sich nicht erinnern könne und daß sie alle Jäger langweilig fände.
Aber Miß Bell widersprach. Nein, sie glaubte, Monsieur Le Ménil sei durchaus nicht langweilig, wenn er davon sprach, wie die Hasen im Mondschein auf der Heide und in den Weinbergen tanzten. Sie hätte am liebsten wie Phanion ein Häschen großgezogen.
»Darling, Sie kennen Phanion nicht? Monsieur Dechartre kennt sie bestimmt. Sie war sehr schön und den Dichtern lieb. Sie wohnte auf der Insel Kos in einem Häuschen am Berghang, der mit seinen Zitronen- und Terebinthenbäumen zum blauen Meer hinabstieg. Es hieß, sie habe den blauen Blick der See. Ich habe Monsieur Le Ménil die Geschichte der Phanion erzählt, und sie hat ihm viel Freude gemacht. Einmal bekam sie von einem Jäger ein langohriges Häschen geschenkt, das man der Mutter genommen hatte, als sie es noch säugte. Sie zog es auf ihrem Schoße groß und fütterte es mit Frühlingsblumen. Es gewann Phanion so lieb, daß es seine Mutter ganz vergaß. Es starb, weil es zu viel Blumen gefressen hatte. Phanion beweinte es, grub ihm ein Grab unter den Zitronenbäumen und setzte ihm einen Gedenkstein, den sie von ihrem Lager aus sehen konnte. Und der Schatten des kleinen Häschens fand Trost in den Gesängen der Dichter.«
Dann erklärte die gute Madame Marmet, Le Ménil sei sehr beliebt wegen seines eleganten und bescheidenen Auftretens, das heutzutage bei jungen Leuten so selten sei. Sie hätte ihn gern gesehen, weil sie ihn um eine Gefälligkeit bitten wollte.
»Es handelt sich nämlich um meinen Neffen«, sagte sie, »er ist Hauptmann bei der Artillerie, sehr gut angeschrieben und sehr beliebt bei seinen Vorgesetzten. Sein Oberst hat lange unter dem Onkel von Le Ménil, dem General de La Briche, gestanden. Und ich würde Monsieur Le Ménil sehr dankbar sein, wenn er diesen Onkel bitten wollte, sich bei Oberst Faure für ihn zu verwenden. Übrigens kennt er meinen Neffen schon. Sie haben sich voriges Jahr bei einem Maskenball getroffen, den der Hauptmann de Lessay den Offizieren der Garnison Caen und den jungen Leuten aus der Nachbarschaft im Hotel d'Angleterre gab.«
Mit niedergeschlagenen Augen fügte sie dann hinzu: »Die Damen gehörten natürlich nicht der besten Gesellschaft an, aber es sollen sehr hübsche darunter gewesen sein. Die Herren hatten sie aus Paris kommen lassen. Mein Neffe, der mir alle diese Einzelheiten erzählt hat, war als Postillion kostümiert und Monsieur Le Ménil als Schwarzer Husar. Er soll sehr viel Glück gehabt haben.«
Miß Bell sagte, es täte ihr sehr leid, daß sie nichts von seinem Aufenthalt in Florenz gewußt habe. Sie hätte ihn sonst nach Fiesole eingeladen.
Dechartre blieb bis zum Ende der Mahlzeit finster und zerstreut. Als er sich verabschiedete und Thérèse ihm die Hand gab, fühlte sie, daß er es vermied, sie wie sonst zu drücken.