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Es war an einem Freitag in der Oper. Der Vorhang hatte sich eben über Fausts Studierzimmer gesenkt.
In den bewegten Tiefen des Parketts hoben sich die Lorgnetten, und die Blicke irrten suchend durch den in Gold und Purpur gehaltenen Zuschauerraum, in dessen ungeheurer Weite die Lichter hier und da wie verloren aufglänzten.
Die dunklen Schreine der Logen umschlossen schimmernde Frauenköpfe und entblößte Schultern. Der ganze erste Rang glich einer langgeschweiften Girlande von Diamanten, Blumen, Haarkronen, nacktem Fleisch, Gaze und Seide.
In der Proszeniumsloge sah man die Frau des österreichischen Botschafters und die Herzogin von Gladwin, im ersten Rang Berthe d'Isigny und Jane Tull, die durch den Selbstmord ihres Geliebten zur Tagesberühmtheit geworden war. In den Logen saßen Madame Bérard de la Malle mit gesenkten Augen und den langen Wimpern, die ihre kindlich reinen Wangen beschatteten; die Prinzessin Seniavine, die hinreißend aussah und hinter ihrem Fächer ihr Panthergähnen verbarg; Madame Morlaine zwischen zwei jungen Frauen, die sie unterwies, mit Eleganz geistreich zu sein; Madame Meillan im Selbstbewußtsein ihrer seit dreißig Jahren gebietenden Schönheit; Madame Berthier d'Eyzelles mit ihrem eisengrauen Scheitel, der von Diamanten glänzte. In steifer Haltung saß sie da, und die kupferne Röte ihres Gesichts trug noch dazu bei, die strenge Würde ihrer Erscheinung zu erhöhen. Sie zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, denn man hatte am Morgen des heutigen Tages erfahren, daß Garain mit seiner Liste gescheitert war und Berthier d'Eyzelles die Aufgabe übernommen hatte, das Ministerium zu bilden. Die Verhandlungen standen unmittelbar vor dem Abschluß. Die Zeitungen hatten schon die neue Liste veröffentlicht, darunter den Namen des Grafen Martin als Finanzminister. Und die Operngläser richteten sich auf die noch leere Loge der Gräfin.
Ein brausendes Stimmengewirr erfüllte den Raum. General Larivière stand auf seinem gewohnten Platz in der dritten Parkettreihe und sprach mit dem General de La Briche.
»Ich werde nächstens Ihrem Beispiel folgen, alter Kamerad, und mich in die Touraine zurückziehen, um Kohl zu bauen.«
Er hatte einen seiner melancholischen Anfälle, wo es ihm zum Bewußtsein kam, daß das Leben in seinem Alter nicht viel mehr bieten konnte. Er hatte Garain die Cour gemacht, aber Garain hatte ihn zu schlau gefunden und ihm als Kriegsminister einen schrulligen, kurzsichtigen Artilleriegeneral vorgezogen. Aber wenigstens hatte er jetzt die Genugtuung, Garain von seinen Freunden Berthier und Martin-Bellème verlassen und verraten zu sehen. Er lachte nur mit den Fältchen um seine kleinen Augen. Sonst erheiterte nichts sein griesgrämiges Gesicht. Es war ein Lachen im Profil. Er war des Lebens der ewigen Verstellung satt und freute sich des unvorhergesehenen Genusses, seinen Gedanken freien Lauf lassen zu können.
»Jawohl, mein guter La Briche. Sie bringen uns mit ihrer Bürgerarmee, die viel kostet und nichts taugt, nur in die Patsche. Nur die kleinen Armeen haben einen Wert. Das hat auch Napoleon gewußt, und der verstand sich darauf.«
»Wohl wahr, wohl wahr«, seufzte bewegt und mit Tränen in den Augen General La Briche.
Eben ging Montessuy an ihnen vorüber, um zu seinem Platz zu gelangen. Larivière hielt ihm die Hand hin.
»Montessuy, man sagt, daß Sie an Garains Fiasko schuld sind? Mein Kompliment.«
Montessuy verteidigte sich dagegen, irgendwie in die Politik eingegriffen zu haben. Er war weder Senator noch Deputierter, nicht einmal Generalrat des Departements Oise. Und während er sich im Saal umblickte, sagte er: »Sehen Sie, Larivière, die reizende kleine Brünette mit dem gescheitelten, glatt anliegenden Haar, dort in der Loge rechts.«
Dann setzte er sich ruhig auf seinen Platz in dem Vollgefühl seiner realen Macht.
Im Foyer, in den Gängen, im Zuschauerraum gingen inmitten der lässigen Gleichgültigkeit die Namen der neuen Minister von Mund zu Mund: Vorsitz und Inneres Berthier d'Eyzelles, Justiz und Kultus Loyer, Finanzen Martin-Bellème. Man kannte sie alle mit Ausnahme der Minister für Handel, Krieg und Marine, die noch nicht endgültig bestimmt waren.
Jetzt ging der Vorhang auf über der Wirtshausszene. Die Studenten waren noch bei ihrem zweiten Chorgesang, als Madame Martin in ihrer Loge erschien. Sie hatte das Haar hochfrisiert und trug ein weißes Kleid mit flügelartigen Ärmeln. Eine Lilie aus roten Rubinen hielt die Draperie ihrer Taille vorn an der linken Seite zusammen.
Neben ihr nahm Miß Bell in einem grünen Samtkleid à la Queen Ann Platz. Sie war jetzt mit dem Fürsten Eusebio Albertinelli della Spina verlobt und nach Paris gekommen, um ihre Aussteuer zu besorgen.
Mitten im bewegten Kirmeslärm auf der Bühne sagte Miß Bell: »Darling, Sie haben in Florenz einen Freund, der liebevoll Ihr Andenken pflegt, Professor Arrighi. Er hat für Sie das Lob aufgespart, das ihm das allergrößte ist: Sie seien ein musikalisches Geschöpf, meint er. Aber wie sollte sich auch Professor Arrighi Ihrer nicht erinnern, wo doch selbst der Goldregen im Garten Sie nicht vergessen kann. Mit entblätterten Zweigen klagt er über Ihr Fortsein. Er hat Sehnsucht nach Ihnen, Darling.«
»Sagen Sie den Blumen«, antwortete Thérèse, »daß ich mir ein köstliches Andenken aus Florenz mitgenommen habe, das mir das Leben reich und schön macht.«
Im Hintergrund der Loge stand Martin-Bellème mit Joseph Springer und Duvicquet, denen er mit gedämpfter Stimme seine Ideen über Finanzangelegenheiten auseinandersetzte.
»Frankreichs Unterschrift ist die beste in der ganzen Welt.« Und er fügte hinzu: »Man muß mit Überschüssen amortisieren und nicht mit Steuern.« Er neigte zur Vorsicht in Finanzfragen.
Dann fing Miß Bell wieder an: »O Darling, ich werde den Blumen in Fiesole sagen, daß Sie sich nach ihnen sehnen und sie bald wieder auf ihrem Hügel besuchen werden. Aber was ich Sie noch fragen wollte: Sehen Sie Monsieur Dechartre in Paris? Ich möchte ihn so gerne wiedersehen. Ich habe ihn so gern, weil er eine vornehme Seele hat. O Darling, Monsieur Dechartres Seele hat so viel Grazie und Vornehmheit.«
Thérèse antwortete, daß Monsieur Dechartre gewiß heute abend hier sei und nicht verfehlen werde, Miß Bell zu begrüßen.
Der Vorhang fiel über dem farbigen Wirbel des Walzers. In den Gängen drängten sich die Zuschauer. Financiers, Künstler und Abgeordnete versammelten sich in dem kleinen Salon, der an die Loge grenzte. Alle umringten Monsieur Martin-Bellème, beglückwünschten ihn oder winkten ihm von ferne zu und erdrückten sich beinahe gegenseitig, um ihm die Hand zu schütteln. Joseph Schmoll bahnte sich hustend und stöhnend, blind und taub einen Weg durch die verachtete Menge, um zu Madame Martin zu gelangen. Er faßte ihre Hand und bedeckte sie schnaufend mit schallenden Küssen.
»Man sagt, daß Ihr Mann Minister geworden ist. Ist das wahr?«
Sie wußte nur, daß es so hieß, aber es war noch nicht sicher. Übrigens war ihr Mann in der Nähe, man konnte ihn selbst darüber befragen.
Aber Schmoll war ein Anhänger der buchstäblichen Wahrheit. »Ah, er ist noch nicht Minister? Wenn er wirklich ernannt ist, werde ich Sie um eine kleine Unterredung bitten. Es handelt sich um eine Sache von allergrößter Wichtigkeit.«
Dann schwieg er und blickte unter der goldenen Brille mit seinen halbblinden, visionären Augen um sich, die die Ursache waren, daß er trotz seiner brutal pedantischen Natur in einer Art von mystischem Dunkel lebte. Dann sagte er plötzlich: »Sie waren dieses Jahr in Italien, nicht wahr?« – und ehe sie noch antworten konnte – »Ja, ich weiß, ich weiß, Sie sind in Rom gewesen und haben dort auch den Triumphbogen dieses niederträchtigen Titus gesehen, dieses abscheuliche Marmordenkmal mit dem Relief, auf dem man unter der den Juden abgewonnenen Siegesbeute auch den siebenarmigen Leuchter sieht. Nun, und ich sage Ihnen, Madame, es ist ein Schandfleck der Menschheit, daß dieses Monument noch steht, noch dazu in Rom, wo die Päpste sich nur mit Hilfe der jüdischen Wechsler und Finanzleute gehalten haben. Die Juden haben die Wissenschaft aus Griechenland und dem Orient nach Italien gebracht. Die Renaissance, Madame, ist nur das Werk der Juden, das ist eine feststehende, wenn auch allgemein verkannte Tatsache.«
Damit verschwand er in der Menge, und man hörte nur noch das dumpfe Krachen der Zylinderhüte, die er zertrat.
Inzwischen hatte die Prinzessin Seniavine Thérèse mit jener lebhaften Neugier beobachtet, die manchmal beim Anblick schöner Frauen in ihr aufleuchtete. Sie winkte Paul Vence, der in der Nähe stand: »Finden Sie nicht, daß Madame Martin dieses Jahr ganz besonders schön ist?«
Im Foyer, wo das Licht sich in den goldenen Verzierungen spiegelte, wandte der General La Briche sich an Larivière: »Haben Sie meinen Neffen gesehen?«
»Ja, ich meine Robert, er war eben noch da.
La Briche stand einen Augenblick nachdenklich, dann sagte er: »Er war diesen Sommer in Semanville, und er kam mir so sonderbar vor, so zerstreut. Er ist ein sympathischer Junge, intelligent und aufrichtig wie Gold. Aber er müßte irgendeine feste Beschäftigung haben, ein Ziel im Leben.«
Eben hatte es geklingelt. Die Pause war zu Ende. Nur die beiden Greise wandelten noch in dem leeren Foyer auf und ab.
»Ja, ein Ziel im Leben«, wiederholte La Briche, dessen lange, hagere Gestalt schon stark gebeugt war, während sein Kamerad mit elastischen, jugendlichen Schritten auf die Tür zueilte, die zum Bühnenhaus führte.
Gretchen spann und sang ihr Lied. Als sie geendet hatte, sagte Miß Bell zu Madame Martin: »O Darling, Monsieur Choulette hat mir einen wundervollen Brief geschrieben. Er hat mir erzählt, daß er so berühmt geworden ist, und ich bin sehr zufrieden, das zu wissen, und dann hat er gesagt: ›Der Ruhm anderer Dichter ruht auf Myrrhen und Weihrauch, aber der meine blutet und stöhnt unter einem Regen von Steinen und Austernschalen.‹ Ist es wirklich wahr, my love, daß die Franzosen den guten Monsieur Choulette steinigen?«
Während Thérèse sie darüber beruhigte, ließ Loyer sich gebieterisch und mit ziemlichem Getöse die Loge aufschließen.
Durchnäßt und mit Schmutz bedeckt trat er ein und sagte: »Ich komme gerade vom Élysée.«
Er war so galant, Madame Martin zuerst die frohe Nachricht zu verkündigen: »Das Dekret ist unterzeichnet. Ihr Mann ist Finanzminister. Es ist ein sehr schönes Portefeuille.«
»Hat der Präsident keine Einwendungen gemacht, als man ihm meinen Namen nannte?« fragte Martin-Bellème.
»Nein, Berthier hat ihm von der seit Generationen bewährten Redlichkeit der Familie Martin gesprochen, von ihrer Vermögensstellung und vor allem von den persönlichen Banden, die Sie mit gewissen Persönlichkeiten der Finanzwelt verknüpfen, deren Beistand für die Regierung von Vorteil sein kann. Und wie Garain sich so richtig ausdrückte, hat er sich von der in der Situation begründeten Notwendigkeit leiten lassen. So hat er denn unterzeichnet.«
Ein paar Falten glitten über das gelbliche Gesicht des Grafen Martin. Er lächelte.
»Das Dekret«, fuhr Loyer fort, »wird morgen im ›Officiel‹ erscheinen. Ich habe selbst den Kabinettsattaché in einer Droschke in die Setzerei begleitet. Das ist immer sicherer. Zu Grévys Zeiten, der doch gewiß nicht dumm war, ist es vorgekommen, daß man die Papiere auf dem Wege vom Élysée zum Quai Voltaire abgefangen hat.«
Damit warf er sich in einen Stuhl und weidete sich mit Augen und Nüstern an Madame Martins Schultern.
»Man wird jetzt nicht mehr, wie zur Zeit meines armen Freundes Gambetta, sagen können, daß es der Republik an Frauen mangelt. Sie, Madame, werden uns herrliche Feste in den Salons des Ministeriums geben.«
Gretchen stand jetzt mit ihrem Halsschmuck und ihren Ohrringen vor dem Spiegel und sang die Schmuckarie.
Graf Martin erklärte: »Man wird die Regierungserklärung abfassen müssen. Ich habe darüber nachgedacht, und ich habe, wenigstens was mein Ressort betrifft, die richtige Formel gefunden: Man muß mit Überschüssen amortisieren und nicht mit Steuern.«
Loyer zuckte die Achseln: »Lieber Martin, es gibt eigentlich nichts Wesentliches, was an der Erklärung des vorigen Kabinetts zu ändern wäre. Die Situation ist im ganzen sichtlich die gleiche geblieben.« Er schlug sich gegen die Stirn. »Verdammt! Ich habe etwas vergessen. Wir haben Ihren Freund Larivière als Kriegsminister auf die Liste gesetzt, ohne ihn zu fragen. Ich habe den Auftrag, es ihm mitzuteilen.«
Er dachte, ihn in dem Café zu finden, wo das Militär verkehrte, aber Graf Martin wußte, daß der General im Theater war.
»Dann muß ich ihn gleich festhalten«, sagte Loyer und verbeugte sich zum Abschied. »Sie gestatten, Madame, daß ich Ihren Gatten entführe.«
Eben nachdem sie fort waren, traten Jacques Dechartre und Paul Vence in die Loge.
»Ich gratuliere, Madame«, sagte Paul Vence.
Aber sie wandte sich rasch an Dechartre:
»Nun, ich hoffe, Sie wenigstens werden mir nicht gratulieren.«
Paul Vence fragte, ob sie in die Räume des Ministeriums übersiedeln würde.
»Nein, um Gottes willen nicht«, rief sie ganz entsetzt.
»Aber, Madame«, fuhr er fort, »Sie werden auf den Bällen im Élysée erscheinen, und wir andern werden Gelegenheit finden, zu bewundern, wie Sie sich auch dort Ihren geheimnisvollen Reiz bewahren und immer die schöne Frau bleiben, von der alle träumen.«
»Monsieur Vence«, erwiderte sie, »mir scheint, der Ministerwechsel inspiriert Sie zu ziemlich leichtfertigen Betrachtungen.«
»Madame«, entgegnete er, »ich werde nicht wie mein treuer Meister Renan sagen: ›Was geht das den Sirius an?‹, weil man mir mit Recht antworten würde: ›Was geht der große Sirius die kleine Erde an?‹ Aber ich habe mich immer gewundert, wie Erwachsene und sogar alte Leute sich durch die Illusion der Macht irreführen lassen. Üben denn nicht der Hunger, der Tod und die Liebe, alle diese erhabenen oder niedrigen Notwendigkeiten des Lebens eine so unumschränkte Macht über die Menschheit aus, daß den Herren der Erde nichts anderes übrigbleibt, als nur noch auf dem Papier oder in bloßen Worten zu herrschen? Und noch seltsamer ist es, daß die Völker in dem Glauben leben, daß sie noch andere Staatsoberhäupter und andere Minister haben als ihr Elend, ihre Begierden und ihre Dummheit. Es war ein weiser Mann, der da sagte: ›Gebt den Menschen als Zeugen und Richter die Ironie und das Mitleid.‹«
»Aber, Monsieur Vence«, sagte Madame Martin lachend, »das haben Sie ja selbst geschrieben. Ich lese Ihre Bücher.«
Die beiden Minister suchten währenddem im Zuschauerraum und in den Gängen nach dem General. Auf den Rat der Logenschließerin begaben sie sich hinter die Kulissen. Sie wanden sich zwischen den Dekorationen, die gerade aufgerichtet oder niedergelassen wurden, und durch das Gewühl von deutschen Mädchen in roten Röcken, Hexen, Kobolden und Kurtisanen des Altertums durch und erreichten den Ballettsaal.
Der große, fast leere Raum, dessen Wände mit allegorischen Malereien bedeckt waren, machte jenen ernsthaften, feierlichen Eindruck, der allen Institutionen des Staates und des Reichtums eigen ist.
Zwei Tänzerinnen standen mit mürrischen Gesichtern da, den einen Fuß auf der Bank, die sich an der Wand entlangzog. Hier und da ziemlich schweigsame Gruppen von Herren im Frack und Tänzerinnen mit kurzen abstehenden Röcken.
Loyer und Martin-Bellème nahmen die Hüte ab, als sie eintraten. Im Hintergrund des Saales entdeckten sie Larivière mit einem hübschen Mädchen in rosafarbenem Oberkleid, das von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde und, an den Hüften geschlitzt, das Trikot durchblicken ließ. In der Hand hielt sie einen Becher aus vergoldeter Pappe, und als die beiden näher traten, hörten sie, wie sie zum General sagte: »Sie sind freilich schon ziemlich alt, aber ich bin überzeugt, daß Sie mindestens noch ebensoviel wert sind wie der da.«
Dabei wies sie mit einer verächtlichen Handbewegung auf einen jungen Mann, der mit einer Gardenia im Knopfloch neben ihnen stand.
Loyer machte dem General ein Zeichen, daß er mit ihm sprechen wolle, und zog ihn zu der Bank hin.
»Ich habe das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, daß Sie Kriegsminister geworden sind.«
Larivière glaubte ihm nicht und gab keine Antwort. Dieser schlechtgekleidete Mann mit den langen Haaren, der in seinem staubigen, viel zu weiten Rock aussah wie ein Taschenspieler aus dem Tingeltangel, flößte ihm sehr wenig Zutrauen ein, so daß er eine Falle oder einen schlechten Scherz dahinter vermutete.
»Monsieur Loyer, Justizminister«, stellte Graf Martin vor.
Loyer fing jetzt an, in ihn zu dringen: »General, Sie dürfen sich nicht drücken. Ich habe mein Wort gegeben, daß Sie annehmen werden. Wenn Sie noch länger zögern, könnte Garain uns einen Streich spielen, er ist ein Verräter.«
»Mein lieber Kollege«, sagte Graf Martin, »Sie drücken sich etwas zu stark aus. Aber Garain ist vielleicht nicht ganz aufrichtig. Und es wird dringend gewünscht, daß der General annimmt.«
»Das Vaterland über alles«, antwortete Larivière, vor Bewegung stammelnd.
»Sie wissen ja, Herr General«, sagte Loyer, »die bestehenden Gesetze müssen unbeugsam, aber mit Mäßigung angewandt werden. Daran müssen Sie sich halten.«
Dabei folgte er mit dem Blick den beiden Tänzerinnen, die auf der Bank ihre kurzen, muskulösen Beine ausstreckten.
Und Larivière murmelte: »Die ausgezeichnete Disziplin unserer Armee . . . der gute Wille der Vorgesetzten . . . auch der schwierigsten Lage gewachsen.«
Loyer klopfte ihm auf die Schulter: »Mein lieber Kollege, die großen Armeen haben sehr viel für sich.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erwiderte Larivière, »unsere Armee entspricht so, wie sie ist, allen Anforderungen der nationalen Verteidigung.«
Jetzt begann Loyer wieder: »Die großen Armeen haben das Gute, daß sie den Krieg unmöglich machen. Es wäre Wahnsinn, diese ungeheuren Streitkräfte, deren Leitung geradezu übermenschliche Fähigkeiten erfordern würde, in einen Krieg zu verwickeln. Das ist auch Ihre Meinung, nicht wahr, General?«
Larivière zwinkerte mit den Augen: »Die Situation erfordert große Umsicht. Wir stehen einem Gegner gegenüber, den wir nicht einmal genau kennen und vor dem wir auf der Hut sein müssen.«
Aber jetzt blickte Loyer ihn mit stiller, zynischer Verachtung an:
»Glauben Sie nicht auch, teurer Kollege, daß in dem höchst unwahrscheinlichen Falle eines Krieges die Stationsvorsteher die wahren Generale sein würden?«
Dann verließen die drei Minister das Theater durch den Bühnenausgang, um sich zum Ministerpräsidenten zu begeben, der sie erwartete.
Der letzte Akt hatte begonnen. Madame Martin hatte nur noch Dechartre und Miß Bell in ihrer Loge.
»Ich freue mich so, Darling, wie sagt man doch, ich bin ganz begeistert, zu denken, daß Sie die rote Lilie von Florenz auf dem Herzen tragen. Und Monsieur Dechartre mit seiner Künstlerseele muß ebenso zufrieden damit sein, dieses entzückende Kleinod auf Ihrer Taille zu sehen. Oh, ich möchte den Juwelier kennenlernen, der es gemacht hat, Darling. Diese Lilie ist schlank und geschmeidig wie eine Iris. Oh, sie ist elegant und prächtig, und grausam. Haben Sie nicht schon bemerkt, my love, daß schöner Schmuck immer eine Art von prunkvoller Grausamkeit an sich hat?«
»Mein Juwelier ist ganz in der Nähe«, sagte Thérèse, »Sie haben seinen Namen schon genannt. Monsieur Dechartre ist so liebenswürdig gewesen, die Zeichnung für den Schmuck zu entwerfen.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Logentür. Thérèse wandte sich um und erblickte in dem Halbdunkel Le Ménil, der sich in seiner jähen, geschmeidigen Art verbeugte.
»Darf ich bitten, Madame, Ihrem Herrn Gemahl meine Glückwünsche zu übermitteln?«
Dann machte er ihr ein ziemlich kühles Kompliment über ihr gutes Aussehen und wandte sich mit einigen verbindlichen und korrekten Worten an Miß Bell.
Thérèese hörte voller Angst zu, in qualvollem Bemühen, irgendeine nichtssagende Antwort zu geben. Er fragte, ob sie einen angenehmen Sommer in Joinville verlebt habe. Er wäre sehr gerne zur Jagd gekommen, aber es wäre ihm nicht möglich gewesen. Erst war er mit seiner Jacht auf dem Mittelmeer und dann in Semanville, um zu jagen.
»Oh, Monsieur Le Ménil«, sagte Miß Bell, »Sie sind auf dem blauen Meer umhergeirrt? Haben Sie auch Sirenen gesehen?«
Nein, Sirenen waren ihm nicht begegnet, aber drei Tage lang war ein Delphin hinter seiner Jacht hergeschwommen.
Miß Bell fragte, ob der Delphin musikalisch gewesen sei.
Nein, das glaubte er nicht. Die Delphine sind nichts weiter als eine Art von kleinen Walfischen. Die Seeleute nennen sie Meergänse, wegen einer gewissen Ähnlichkeit in der Kopfform. Aber Miß Bell wollte nicht glauben, daß das Ungetüm, das den Sänger Arion auf seinem Rücken zum Vorgebirge Tänarum trug, einen Gänsekopf gehabt habe.
»Monsieur Le Ménil, wenn nächstes Jahr wieder ein Delphin Ihrem Schiff folgt, so bitte ich Sie, spielen Sie ihm auf der Flöte die Hymne an den delphischen Apoll vor. Lieben Sie das Meer, Monsieur Le Ménil?«
»Eigentlich ist mir der Wald lieber.«
Er war vollkommen Herr seiner selbst, er sprach einfach und mit großer Ruhe.
»Oh, Monsieur Le Ménil, ich weiß, daß Sie den Wald lieben und die kleinen Lichtungen, wo die kleinen Hasen im Mondschein tanzen.«
Dechartre war blaß geworden, er stand auf und ging hinaus.
Jetzt kam die Kirchenszene. Gretchen lag auf den Knien und rang die Hände, den Kopf unter der Last der langen blonden Zöpfe gebeugt. Die Stimmen der Orgel und des Chores ließen das Dies irae erschallen:
Wenn der Jüngste Tag erscheinet,
wenn das Kreuz am Himmel leuchtet
und die Welt in Staub vergeht.
»Oh, Darling, wissen Sie, daß diese Totenlitanei, die in den katholischen Kirchen gesungen wird, aus einem Franziskanerkloster stammt? Es ist etwas vom Brausen des Sturmes darin, der im Winter durch die Lärchenwipfel auf dem Berge Alvernia zieht.«
Aber Thérèese hörte nichts mehr. Dechartre hatte ihre Seele mit sich fortgenommen.
Man hörte jetzt, daß im Salon Stühle umgeworfen wurden. Schmoll kam noch einmal. Er hatte erfahren, daß Monsieur Martin-Bellème jetzt wirklich zum Minister ernannt war, und kam nun gleich mit seiner Bitte um das Kommandeurkreuz und eine größere Wohnung im Institut. Die seinige war so finster und eng und völlig unzureichend für seine Frau und seine fünf Töchter. Er hatte sogar sein Arbeitskabinett in einer Dachkammer aufschlagen müssen. Er erging sich in endlosen Klagen und wich nicht eher, als bis Madame Martin ihm versprochen hatte, ein Wort für ihn einzulegen.
»Monsieur Le Ménil«, fragte Miß Bell, »wollen Sie nächstes Jahr wieder auf die See?«
Le Ménil glaubte nicht. Er hatte nicht die Absicht, »Rosebud« zu behalten. Das Meer war ihm zu melancholisch. Und mit eigensinniger, hartnäckiger Ruhe sah er Thérèse an, während er sprach.
Auf der Bühne, in Gretchens Kerker, mahnte Mephistopheles zum Aufbruch: »Der Morgen dämmert auf«, während die Musik den schauerlichen Galopp der Pferde wiedergab.
Und jetzt sagte Thérèse: »Ich habe Kopfweh, es ist zum Ersticken heiß.«
Le Ménil erhob sich, um die Tür halb zu öffnen.
Dann stieg der klare Gesang Gretchens, mit dem sie die Engel herbeiruft, leuchtend zum Himmel empor.
»Darling, ich will Ihnen sagen, dieses arme Gretchen will ihr irdisches Leben nicht retten, und deshalb wird sie im Geist und in der Wahrheit gerettet. Und ich glaube fest daran, Darling, daß wir alle gerettet werden. O ja, ich glaube, daß alle Sünder einst rein vor Gott dastehen werden.«
Thérèse erhob sich jetzt in ihrer vollen Größe, sie war leichenblaß, und die Lilie an ihrer Seite strahlte in blutigem Glanz. Miß Bell saß unbeweglich da und lauschte der Musik. Le Ménil hatte im Salon Madame Martins Mantel geholt, und während er dastand und ihn bereithielt, ging sie durch die Loge, dann durch den Salon und blieb neben der halboffenen Tür beim Spiegel stehen.
Nun legte er ihr den rotsamtenen Abendmantel, der mit Gold gestickt und mit Hermelin gefüttert war, um, wobei seine Finger ihre bloßen Schultern streiften. Und mit klarer, leiser Stimme sagte er: »Thérèse, ich liebe Dich. Denke an das, was ich dir vorgestern gesagt habe. Ich erwarte dich jeden Tag, jeden Tag von drei Uhr an in unserm Heim, Rue Spontini.«
Sie neigte den Kopf, um sich den Mantel umhängen zu lassen, und in diesem Augenblick sah sie Dechartre. Er stand da, die Hand auf den Türgriff gelegt, und hatte alles gehört. Er sah sie an, und alles, was menschliche Augen an Schmerz und Vorwurf auszudrücken vermögen, lag in seinem Blick. Dann verschwand er in dem dunklen Korridor. Ihr war zumute, als ob ein glühender Hammer in ihrer Brust pochte, und sie blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen.
»Hast du auf mich gewartet?« fragte Montessuy, der kam, um sie abzuholen. »Du bist heute sehr allein; ich werde dich und Miß Bell nach Hause bringen.«