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Vierundzwanzig Stunden später als ihr Brief war Thérèse selbst bei Jacques. Es war ihr nicht schwer geworden, einen Vorwand zu dieser Fahrt nach Paris zu finden. Sie war mit ihrem Mann zusammen gereist, der seine Wahlangelegenheit in Aisne betreiben wollte, wo die Sozialisten gegen ihn agitierten. Sie überraschte Jacques am frühen Morgen in seinem Atelier. Er entwarf gerade eine große Statue, die Florenz darstellen sollte, wie es am Ufer des Arno um seinen entschwundenen Glanz trauert.
Das Modell, das auf einem hohen Schemel thronte, blieb ruhig in seiner Pose sitzen. Es war ein hochgewachsenes, brünettes Mädchen. Das scharfe Licht, das durch die Scheiben hereinfiel, hob die schönen Linien ihrer Hüften und Schenkel hervor, aber das Gesicht hatte etwas Hartes, der Hals war schmutzigdunkel, die Brust zu stark geädert, die Knie mager und faltig, die Zehen waren übereinandergeschoben, und der Bauch hatte eine unschöne gelbliche Farbe. Thérèse betrachtete sie voller Neugier. Sie erkannte die ursprünglich schönen Formen unter all dem Elend des schlechtgenährten, ungepflegten Körpers.
Dechartre kam ihr entgegen mit dem Modellierholz in der einen und einem Tonklumpen in der anderen Hand. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von schmerzlicher Zärtlichkeit, der sie tief berührte. Dann legte er sein Werkzeug auf den Modellierblock, bedeckte die Figur mit einem nassen Tuch und sagte: »Genug für heute, mein Kind.«
Das Mädchen stand auf, sammelte verlegen seine Kleider, die in einem Haufen schmutziger Wäsche und dunklen Wollzeugs bestanden, und verschwand hinter dem Schirm, um sich anzukleiden.
Jacques hatte indessen seine Hände in eine grüne Schüssel mit Wasser getaucht, um den im Trocknen weiß gewordenen zähen Ton abzuspülen. Dann verließ er mit Thérèse das Atelier.
Als sie über den Hof an der Platane vorübergingen, deren Stamm sich schälte und seine Rindenschuppen auf den Sand streute, sagte sie: »Du glaubst mir nicht. Nicht wahr?«
Er führte sie in sein Zimmer.
Der Brief, den sie ihm von Dinard aus geschrieben, hatte den peinlichen Eindruck schon gemildert. Sie war gerade in dem Moment gekommen, wo er, des Leidens müde, sich nach Ruhe und Liebe sehnte. Die paar Zeilen hatten seine Seele beruhigt, die sich von Einbildungen nährte und weniger für die Dinge als für die Zeichen der Dinge empfänglich war. Und doch war eine Wunde in seinem Herzen zurückgeblieben.
In diesem Zimmer, wo alles für sie sprach, wo alle Möbel, Vorhänge und Teppiche von ihrer Liebe redeten, flüsterte sie ihm schmeichelnde Worte zu: »Wie hast du das glauben können? Weißt du denn nicht, was du mir bist? Es war Wahnsinn. Glaubst du, eine Frau, die dich gekannt hat, könnte jemals wieder einem andern Mann angehören?«
»Aber vorher?«
»Vorher habe ich auf dich gewartet.«
»Und er war nicht bei den Rennen in Dinard?«
Nein, sie glaubte nicht. Aber jedenfalls war sie nicht dagewesen. All diese Pferde und Menschen, die sich nur für Pferde interessierten, waren ihr so langweilig.
»Jacques, du brauchst keinen andern zu fürchten, weil du mit niemand zu vergleichen bist.«
Aber im Gegenteil, er war sich bewußt, wie wenig er war, wie wenig überhaupt der einzelne in dieser Welt bedeutet, wo die Geschöpfe wie Körner und Spreu in der Getreideschwinge geworfelt, gemischt und geschieden werden, die ein Knecht oder ein Gott bewegt. Doch dieses Bild, im eigentlichen wie im übertragenen, mystischen Sinne, enthielt noch zu viel Ordnung und Regel, um es genau auf das Leben anwenden zu können. Ihm schien eher, daß die Menschen Kaffeebohnen in einer Kaffeemühle waren. Dieses Bild war ihm in den Sinn gekommen, als er vorgestern zusah, wie Frau Fusellier Kaffee mahlte.
»Warum hast du so wenig Selbstvertrauen?« fragte Thérèse.
Sie sagte nicht viel, aber ihre Augen und jede ihrer Bewegungen redeten, und der Atem, der ihre Brust hob und senkte. Und in dem glückseligen Staunen, sie zu sehen und ihre Stimme zu hören, ließ er sich überzeugen.
Sie fragte ihn, wer jene abscheulichen Worte gesagt habe. Er hatte keinen Grund, es zu verbergen. Es war Daniel Salomon.
Sie wunderte sich nicht darüber. Es war allgemein bekannt, daß Salomon als Liebhaber einer Frau überhaupt nicht in Betracht kommen konnte; dafür wollte er wenigstens in die intimen Geheimnisse aller Frauen eindringen und alles von ihnen wissen. Sie erriet gleich, weshalb er so gesprochen hatte.
»Jacques, sei nicht böse über das, was ich dir sage. Du bist nicht besonders gewandt darin, deine Gefühle zu verbergen. Er hat vermutet, daß du mich liebst, und hat sich Gewißheit darüber verschaffen wollen. Ich bin überzeugt, daß er keinen Zweifel mehr hegt, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen. Aber es ist mir im höchsten Grade gleichgültig. Im Gegenteil, ich würde mich weniger ruhig fühlen, wenn du deine Gefühle besser zu verheimlichen wüßtest. Denn dann würde ich glauben, daß du mich nicht lieb genug hast.«
Um ihn nicht von neuem zu beunruhigen, ging sie schnell auf ein anderes Thema über.
»Ich habe dir gar nicht gesagt, wie sehr mir deine Skizze gefällt. Es ist Florenz am Ufer des Arno? Also die Geschichte unserer Liebe?«
»Ja, in diese Figur wollte ich meine ganze Liebe hineinlegen. Sie sieht traurig aus, und ich wollte ihr so viel Schönheit verleihen. Siehst du, Thérèse, in der Schönheit liegt immer etwas Schmerzliches. Deshalb leide ich auch, seit mein Leben schön geworden ist.«
Er durchwühlte die Taschen seines Flanelljacketts und zog sein Zigarettenetui heraus. Aber sie drängte ihn, sich anzukleiden. Er sollte bei ihr frühstücken, sie wollten den ganzen Tag zusammenbleiben. Und es sollte schön werden.
Mit kindlicher Freude blickte sie ihn an. Aber dann wurde sie wieder traurig und dachte daran, daß sie Ende der Woche nach Dinard zurückkehren und dann nach Joinville gehen mußte. Und während all der Zeit würden sie voneinander getrennt sein.
In Joinville, bei ihrem Vater, konnte sie ihn ja für ein paar Tage einladen. Aber sie würden dort nicht frei und ungestört sein wie in Paris.
»Ja, es ist wahr«, sagte er, »Paris mit seinem verworrenen Getriebe ist der beste Ort für uns.« Und dann fügte er hinzu: »Selbst wenn du nicht hier bist, mag ich Paris nicht verlassen. Es würde mir schrecklich sein, in einer Gegend zu leben, die nichts von dir weiß. Wenn Himmel und Erde, wenn Bäume, Brunnen und Bilder mir nichts von dir zu sagen wissen, so haben sie mir überhaupt nichts zu sagen.«
Während er sich ankleidete, blätterte sie in einem Buch, das sie auf dem Tisch gefunden hatte. Es waren die Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«. Hier und da fand sie romantische Abbildungen, die Sultaninnen und Wesire, schwarze Eunuchen, Basare und Karawanen zeigten.
Sie fragte: »Tausendundeine Nacht? Gefällt dir so etwas?«
»Sehr«, entgegnete er, während er seine Krawatte knüpfte. »Wenn ich gerade in der rechten Stimmung bin, glaube ich an diese arabischen Prinzen, deren Beine sich auf einmal in schwarzen Marmor verwandeln, und an die Haremsweiber, die nachts auf den Gräbern umherirren. Diese Märchen verhelfen mir zu leichten Träumen, in denen man das Leben vergißt. Gestern abend bin ich ganz traurig zu Bett gegangen und habe dann die Geschichte von den drei einäugigen Bettelmönchen gelesen.«
Mit einem Anflug von Bitterkeit sagte Thérèse: »Du suchst zu vergessen! Ich aber möchte um nichts in der Welt den Gedanken an einen Schmerz verwischen, der mir von dir kommt.«
Dann gingen sie zusammen hinunter auf die Straße. Thérèse sollte etwas weiter hin einen Wagen nehmen, um ein paar Minuten früher in ihrer Wohnung zu sein.
»Mein Mann erwartet dich zum Frühstück.« Unterwegs sprachen sie über tausend Kleinigkeiten, denen ihre Liebe Interesse und Reiz verlieh. Sie machten Pläne für den Nachmittag, um in die kurzen Stunden des Beisammenseins ein Unendliches an Freude und Wonne zu drängen. Sie fragte ihn um Rat wegen ihrer Toiletten und konnte sich nicht entschließen, sich wieder von ihm zu trennen. Sie fühlte sich so glücklich,, mit ihm durch die sonnenbeschienenen, mittagsfrohen Straßen zu gehen.
In der Avenue des Ternes sahen sie eine Reihe von Läden, die wetteifernd einen Überfluß herrlicher Gaumengenüsse zur Schau gestellt hatten. Vor dem Fleischgeschäft prangten ganze Girlanden von Geflügel, vor dem Obstgeschäft Kisten voll Aprikosen und Pfirsiche, Körbe mit Weintrauben und ein Gebirge von Birnen. Obst- und Blumenkarren säumten die Fahrbahn. In der Glasveranda eines Restaurants saß eine Menge Menschen beim Frühstück. Mitten unter ihnen entdeckte Thérèse Choulette. Er saß ganz allein an einem kleinen Tisch neben einem Lorbeerbaum und zündete gerade seine Pfeife an.
Als er sie gesehen hatte, warf er mit großartiger Gebärde ein 100-Sous-Stück auf den Tisch und erhob sich, um sie zu begrüßen. Er war sehr ernst, und der lange Gehrock ließ ihn würdevoll und sittenstreng erscheinen.
Er sagte, er hätte Madame Martin sehr gerne in Dinard besucht, aber die Marquise de Rieu hatte ihn in der Vendée zurückgehalten. Und inzwischen hatte er eine neue Ausgabe seines »Verschlossenen Gartens« veranstaltet, mit einem Anhang »Der Weingarten der heiligen Klara«. Mit diesem Werk hatte er Herzen gerührt, die man fühllos geglaubt hätte; er hatte aus dürren Felsen Quellen springen lassen – wie Moses, meinte er selbst.
Dann durchstöberte er sein Portefeuille und zog einen fleckigen, zerrissenen Brief hervor: »Sehen Sie, den hat Madame Raymond, die Gattin des Akademiemitglieds, mir geschrieben. Ich übergebe ihre Worte der Öffentlichkeit, weil sie ein gutes Zeugnis für sie selbst sind.«
Damit faltete er die zierlichen Bogen auseinander und las: »Ich habe meinen Mann veranlaßt, Ihr Buch zu lesen, und er hat ausgerufen: ›Das ist Geist vom Heiligen Geist! Dieser verschlossene Garten mit seinen Lilien und weißen Rosen hat daneben, scheint mir, eine kleine Pforte, die auf den Weg zur Akademie führt.‹«
Choulette ließ diese Worte in seinem branntweinduftenden Munde förmlich zergehen, um ihren Wohlgeschmack auszukosten. Dann steckte er den Brief sorgfältig wieder in sein Portefeuille.
Madame Martin beglückwünschte ihn, daß Madame Raymond ihn zu ihrem Kandidaten auserwählt habe: »Sie würden auch der meine sein, Monsieur Choulette, wenn die Wahlen für die Akademie in meiner Hand lägen. Aber lockt der Gedanke an das Institut Sie wirklich so sehr?«
Er versank eine Zeitlang in feierliches Schweigen, dann sagte er: »Madame, ich werde diesen Schritt mit einigen hervorragenden Persönlichkeiten des politischen und kirchlichen Lebens besprechen, die in Neuilly wohnen. Die Marquise de Rieu drängt mich, in ihrer Gegend für einen Sitz im Senat zu kandidieren; er ist frei geworden durch den Tod eines alten Mannes, der in dieser Welt des Scheins General gewesen ist. Und ich werde mich mit Priestern, mit Frauen und Kindern darüber beraten – am Boulevard Bineau – o ewige Weisheit! Der Wahlkreis, um dessen Stimmen ich mich bemühen will; liegt in einer waldreichen, hügeligen Gegend, deren Felder Kopfweiden säumen. Nicht selten findet man in einem ihrer hohlen Stämme das Skelett eines Chouans, der noch immer das Gewehr im Arme und den Rosenkranz in den Knochenfingern hält. Ich werde mein Glaubensbekenntnis in die Eichenrinde graben, und man soll dort lesen: Friede den Pfarreien! Möge der Tag doch kommen, da die Bischöfe, den hölzernen Krummstab in den Händen, dem ärmsten Hilfsgeistlichen des ärmsten Kirchspiels gleichen werden! Denn die Bischöfe sind es, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Ihre Namen waren Hannas und Kaiphas. Und sie werden vor dem Antlitz des Gottessohnes diese Namen ewig tragen. Und siehe, als sie ihn kreuzigten, war ich der gute Schächer, der ihm zur Seite hing.«
Dann schwenkte er seinen Stock in Richtung auf Neuilly: »Dechartre, mein Freund, glauben Sie nicht an den Boulevard Bineau dort unten in Staub und Sonnenglanz?«
»Adieu, Monsieur Choulette«, sagte Thérèse, »vergessen Sie mich nicht ganz, wenn Sie Senator geworden sind.«
»Madame, ich gedenke Ihrer jeden Tag in meinem Morgen- und Abendgebet. Und ich sage zu dem Herrn: ›Weil du sie in deinem Zorn mit Reichtum und Schönheit gesegnet hast, sieh gnädig auf sie herab, Herr, und verfahre mit ihr nach deiner großen Barmherzigkeit.‹«
Damit ging er in stolzer Haltung die Straße hinab, wobei er sein lahmes Bein mühsam nachschleppte.