Kurt Faber
Unter Eskimos und Walfischfängern
Kurt Faber

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Auf dem Mackenzie

Fort Mac Pherson. – Stolze Indianer. – Die allmächtige Hudsons Bay Compagnie. – Wieder Seemann. – Abenteuerliche Schiffskameraden. – Ein seltsames Land. – An Bord des »Graham«. – Eine üble Gesellschaft. – Der verhängnisvolle Tomahawk. – Nur noch hundert Meilen von der Eisenbahn.

Das also war das berühmte Fort Mac Pherson! Eine winzige Insel inmitten des endlosen Meeres der Fichten- und Birkenwälder. Wald, Bäume, Gestrüpp und Busch überall. Nur nach Westen, über den breiten Peel River hinweg, hat man eine freie Aussicht über ein bewaldetes Hügelland bis hinüber zu der blauen Bergkette, die die Wasserscheide mit dem Stromgebiet des Yukon bildet. Die eigentliche Ansiedlung liegt auf einem Plateau, das sich in einer Höhe von dreißig bis vierzig Metern über dem Wasserspiegel des Flusses ausbreitet. Dort wohnt die ortseingesessene Bevölkerung der Umgegend, während die Fremden auf dem schlammigen Ufer des Peel River, einer fürchterlichen Brutstätte für Moskitos, ihr Zelt aufschlagen müssen. Dies gilt vor allem für die Eskimos, mit denen die Indianer, die dort zu Hause sind, nicht auf dem besten Fuße leben. Nichtsdestoweniger verschmähten es die Herrschaften nicht, von ihrem Olymp herabzusteigen und uns zu besuchen. Man sah ihnen an, daß sie hungrig waren, aber ach, auch bei uns war nichts zu holen.

Bei weitem das anspruchsvollste Gebäude – wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Ansprüchen reden kann – war das Haus des »Faktors« der allmächtigen Hudsons Bay Compagnie. Ein stattliches Gebäude, umgeben von großen Lagerschuppen, und das ganze eingefaßt von einem dicken, wohl drei Meter hohen Palisadenzaun – ganz so, wie man's in den Indianergeschichten liest. Der Faktor auf solcher Station ist ein kleiner Herrgott; sein Wort ist Befehl, und er hat es in der Hand, einen jeden Fremden ohne Umstände auszuweisen. Darum ist es auch Pflicht eines jeden neu Zugereisten, sich baldigst bei dem hochmögenden Herrn zu melden.

Mir war etwas bange zumute, als ich mich auf den Weg zu ihm machte. Wie, wenn er Roxy befehlen würde, mich wieder nach der Herschelinsel zurückzubringen? Aber der alte Herr mit dem grauen Bart – Mr. Firth war sein Name – war kein Unmensch. Er ließ mich geduldig ausreden, bis ich ihm meine ganze Angelegenheit auseinandergesetzt hatte. Dann rückte er seinen Sessel neben dem Ofen zurecht und steckte seine während meiner Erzählung ausgegangene Pfeife wieder an. »Junger Mann,« sagte er, »Sie haben mehr Glück gehabt als Verstand. Es ist ein Wunder, daß Sie heil aus der Affäre hervorgegangen sind; aber was wollen Sie nun hier tun? Hier gibt es keine Arbeit und keinen Verdienst, und darum muß ich einen jeden wieder abschieben, der aufs Geratewohl hierher kommt. Aber mit Ihnen will ich eine Ausnahme machen, weil Sie der erste weggelaufene Matrose sind, der je vom Eismeer hierher gekommen ist. Wollen sehen, was sich machen läßt. Nächstens kommt der Dampfer vom Großen Sklavensee, und da werde ich ein Wort für Sie einlegen, daß man Sie mitnimmt, d. h. wenn er kommt. Er macht nur eine Reise im Jahr, und oft ist er schon unterwegs von einer Sandbank festgehalten worden und hat uns hier den ganzen Sommer vergebens in Erwartung gehalten. Es kann also leicht möglich sein, daß Sie hier bis zum nächsten Sommer auf ihn warten müßten.«

Mit gemischten Gefühlen hatte ich dieser Rede zugehört. Also ein Dampfer kam bis in diese weltverlassene Gegend, und dieser Dampfer würde mich am Ende gar noch mitnehmen nach der zivilisierten Welt! Das war ja kaum zum Ausdenken! Wenn er aber nicht käme! Mich überlief es abwechselnd mit kalten und heißen Schauern, wenn ich mir das alles vergegenwärtigte.

Doch was half alles Überlegen? Hier hieß es nur warten und sich vorsehen, daß man in der Zwischenzeit nicht zu sehr vom Hunger geplagt würde. Zu diesem Zweck mußte ich mich mit den Soldaten gut stellen, denn der beste Freund des Vagabunden ist stets der Soldat. Trotz seines blutdürstigen Handwerks hat er ein weiches, kindliches Gemüt, das gern milde Gaben verabreicht, um so mehr, als solche Mildtätigkeit ja nicht seine eigene Tasche berührt. Nun waren ja diese vier Mann, die dort stationiert waren, keine Tommy Atkins von der gewöhnlichen Sorte, sondern Soldaten der berühmten North West Mounted Police, aber sie machten sich trotzdem einen Sport daraus, mich gut zu beherbergen und meinen hungrigen Magen wieder herauszufüttern. Und dabei blieb für die Familie Roxy immer noch genug übrig zu einer Mahlzeit, die ich heimlich fortschmuggeln mußte, damit die Indianer nichts davon merkten, denn sonst wären Roxys die Besucher überhaupt nicht mehr los geworden.

Eines Nachts wurde ich mitten aus dem Schlafe aufgeschreckt durch einen wahren Hexensabbat von Freudenschüssen, die die Ankunft des langerwarteten Dampfkanoes verkündeten. So wie ich ging und stand, lief ich hinunter, um den willkommenen Anblick zu genießen!

Und richtig! Da lag er, der Dampfer! Zwar lange nicht so groß, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, sondern kaum größer als eines der Fährboote im Hamburger Hafen, aber es war doch immerhin ein Dampfer, der für mich vielleicht die Brücke sein würde nach der zivilisierten Welt!

Ein Weißer, der mit dem Dampfer angekommen war, begrüßte mich; ein noch junger Mann mit breitem, rötlichblondem Vollbart. »Mein Name ist Vilhjalmur Stefansson«, stellte er sich mir vor mit einer förmlichen Verbeugung. Teufel! Solche Höflichkeit hatte ich lange nicht erlebt! Ich muß ein sehr dummes Gesicht gemacht haben.

»Sie sind wohl hier zu Hause?« forschte der höfliche Herr weiter.

»Das gerade nicht, ich komme nämlich von der Herschelinsel.«

»Von der Herschel . . ., was?« fragte er voll Erstaunen.

»Geradewegs von dort, ich bin Walfischfänger gewesen dort unten.«

»Sehr interessant; in der Tat!« rief der andere aus, »von der Herschelinsel! Dorthin will ich nämlich auch, sobald es sich ermöglichen läßt. Ich will dort unten die Mikkelsen-Expedition antreffen, der ich mich als Ethnologe anschließen werde. Ich hoffe, daß wir in diesem Jahre auf Banksland überwintern können.«

»Auf Banksland!« rief ich voller Entsetzen, »das wäre nicht nach meinem Geschmack.«

»Ja, sind Sie denn schon einmal dort gewesen?« fragte Mr. Stefansson mit ungläubiger Miene.

»Natürlich,« antwortete ich, »schon viel zu oft für meine Bedürfnisse. In den letzten drei Jahren bin ich in jedem Sommer dort gewesen.«

Da machte der Naturforscher große Augen.

»Wirklich?« sagte er begierig, und nun mußte ich ein ganzes Schnellfeuer von Fragen aushalten betreffs der wirtschaftlichen und geographischen Verhältnisse jenes Landes, über Klima, Jagd, Eisverhältnisse und tausend andere Dinge.

Jahrelang habe ich von Mr. Stefansson nichts mehr gehört, bis ich eines Tages, als ich ihn längst vergessen wähnte, von seinen ferneren Schicksalen las. Nach dem Scheitern der Mikkelsenexpedition, die in jenem Jahre bei Kap Returnrif, halbwegs zwischen Point Barrow und der Herschelinsel überwinterte, war er auf eigene Entdeckungen ausgezogen und hatte in der Nähe von Prinz-Albert-Land einen Stamm »weißer Eskimos« entdeckt.Anm. d. H.: St., bekannter Polarforscher und Ethnograph, wies als erster auf den hohen wirtschaftlichen Wert der Nordpolarländer hin. In deutscher Sprache erschienen sind folgende Werke: »Länder der Zukunft« (1923), »Das Geheimnis der Eskimos« (1925), »Neuland im Norden« (1923).

Es traf sich gut, daß Mr. Andersen, der chief factor der Hudsons Bay Company, also gewissermaßen der Generaldirektor, sich selbst an Bord des Dampfers befand. Er fiel vor Erstaunen fast vom Stuhl, als er meine Geschichte hörte.

»Mr. Jackson!« rief er dem Kapitän zu, der eben in die Kajüte hereinkam, »wissen Sie, wo dieser Mensch herkommt? Er kommt von der Herschelinsel! Weiß der Teufel! ich habe in vielen Ländern Vagebunden und durchgebrannte Seeleute gesehen, aber hier oben sind wir bisher davon verschont gewesen. In zwanzig Jahren ist dies der erste, den ich hier antreffe.«

»Schon gut,« fuhr er beschwichtigend fort, als ich eine gekränkte Miene machte, »da Sie nun einmal hier sind, müssen wir Sie auch wieder herunterbringen. Sie haben's verdient, daß wir Ihnen keine Steine in den Weg rollen. – Können Sie noch einen Mann gebrauchen, Kapitän?«

Der Kapitän brummte etwas in seinen Bart, und ich war angenommen. Der Weg nach der zivilisierten Welt war frei! Klar bis nach Edmonton!

Als ich den Fuß an Land setzte, um meine Sachen zu holen, stand der alte Roxy vor mir. Über all den neuen Erlebnissen hatte ich den Verkehr mit meinen Eskimofreunden etwas vernachlässigt, aber Roxy schien durchaus nicht gekränkt. Mit breitem, behäbigem Grinsen streckte er mir die Hand hin: »Pagmamme pischak Herschel Island.« Da wurde mir doch wehmütig zumute in dem Gedanken an den Abschied von diesen Wilden, mit denen zusammen ich so manches erlebt und die mir in ihrer rauhen, ungeschliffenen Art so viel Gutes erwiesen hatten. Noch einmal, wie schon so oft, setzten wir uns um den rußigen Kessel über dem knisternden Feuer und tranken noch einmal zusammen den bitteren Tee und verspeisten dazu die tranigen Mukpowders. Nachdem ich ihnen dann geholfen hatte, das Zelt und die anderen Habseligkeiten im Boot zu verstauen, heißten Roxy und Naipoktuna das Segel, und die Wahini schob mit dem Bootshaken vom Lande ab.

Lange noch, während das Boot flußabwärts glitt, winkten die Wahinis, und lange noch tönte weithin über das Wasser das steinerweichende Klagelied von Nanmuk, Natschik, Naschikak und Unniakaik, die sich wie toll gebärdeten und immer wieder auf die Reling sprangen, um nach dem Kabeluna zurückzusehen, der nun nicht mehr mitgehen wollte. Und der Kabeluna schaute noch lange dem Boote nach, bis es nur noch als ein kleiner, weißer Fleck auf der Wasserfläche zu sehen war, und selbst als es schon lange um eine Biegung des Flusses verschwunden war, ruhten die Augen noch wie gebannt auf den gelben Fluten und schweiften dann über die schwarzen, scharf gezackten Umrisse der Fichtenwälder hinweg weiter und weiter in die Ferne, wo sich grau in grau am nördlichen Horizont der düstere Eismeerhimmel malte.

In jenem Augenblick habe ich sogar ein klein wenig Heimweh verspürt nach dem Eismeer, nach der Herschelinsel. –

Wenige Stunden später befand ich mich schon mitten auf dem Strom, an Bord des kleinen Dampfers, der schnaubend und fauchend seinen Weg durch das schlammige Wasser wühlte. Schon waren die niedrigen Blockhäuser hinter dem Busch verschwunden, und nur noch von ferne war die rote Flagge Old Englands zu erkennen, die von dem hohen Flaggenmast lustig im Winde flatterte. Noch einmal ertönte die schrille Stimme der Dampfpfeife, und im nächsten Augenblick war auch dieses letzte Wahrzeichen unseren Augen entschwunden. Wieder war für ein ganzes Jahr der dünne Faden zerrissen, der diesen letzten Außenposten des britischen Reiches mit der übrigen Welt verbindet.

Schnell ging es nun den Peel River abwärts, dem großen Mackenzie entgegen. Wie bekannt mir noch jede Ecke dieses vielgewundenen Stromes war! Hier, ja an dieser Stelle hatten wir vor kurzem einen gloriosen Fischzug gemacht! Dort drüben bei der knorrigen Fichte hat ein großer Hecht das Netz zerrissen; dort an dem seichten Ufer ist die Wahini bis über die Kniee im Schlamm versunken; weiter unten bei der Hecke mit den wilden Rosen haben wir einen Adler verspeist, und dort in der Waldlichtung, da hatte Nanmuk – wer hätte ihm jemals so etwas zugetraut – beinahe einen Hasen gefangen! – Was? Schon der Mackenzie? Man reist schnell mit dem Dampfkanoe!

Einsam und unbekannt, fern von dem großen Menschengewimmel, zieht der Mackenzie seine Bahn. Keine Felder begrenzen seine Ufer, keine Städte und Dörfer spiegeln sich in seinen Fluten; keine Mühle, kein Elektrizitätswerk hat sein Wasser in seinen Dienst gezwungen. Nichts gibt es hier in weitem Umkreis als die endlosen Wälder und die gelben Fluten, deren Rauschen gar harmonisch zusammenklingt mit dem Brausen des Windes in den Gipfeln der Baumriesen. »Seht mich nur an, ihr kleinen Menschen!« so scheint er zu sagen, »ich kümmere mich nicht um euere Ansicht. Es ist mir ganz einerlei, ob ich im Bädeker einen Stern habe oder nicht! Denn ich bin noch einer von der alten Sorte! Ich bin der Mackenzie! Ich bin etwas ganz anderes wie andere Ströme!«

Nachdem wir den Strom erreicht hatten, ging es nur noch sehr langsam vorwärts, denn die Strömung war teilweise so stark, daß die Maschine nur mit Mühe dagegen anzukämpfen vermochte. Aber schlimmer noch war der niedrige Wasserstand, da man beständig Gefahr lief, auf eine Sandbank aufzulaufen. In dem riesigen Flußbett, in dessen Mitte man kaum noch die beiden Ufer erkennen konnte, gab es nur einen engen, vielgewundenen Kanal, der genügend Tiefgang besaß.

Die Besatzung bestand, außer dem Kapitän, nur aus Indianern oder doch Halbblutindianern. Eine Musterkarte aller Stämme, die im Nordwest-Territorium wohnen. Stolz lieb ich mir – den Indianer! Sie ließen sich nicht befehlen. Zu jeder Zeit und Unzeit lungerten sie auf dem Verdeck umher und trugen ein Wesen zur Schau, das man unter zivilisierten Menschen als entschieden anmaßend bezeichnen würde. Wenn aber wirklich eine Arbeit zu tun war, so waren sie stets bei der Sache. Ein bis zweimal täglich liefen wir eine durch eine Flagge kenntlich gemachte Stelle an, gewöhnlich an der Mündung eines Nebenflusses, wo fleißige Hände einen Haufen Brennholz für die Maschine aufgestapelt hatten, die immer in rasender Hast – denn in anderem Tempo kann der Indianer nicht arbeiten – an Bord geschafft wurden. Bei jeder neuen Anlegestelle hatte man Gelegenheit, den Fortschritt der Natur zu beobachten, der in südlicher Richtung zutage trat. Die wetterzerzausten Fichtenstämme begannen mehr und mehr zu verschwinden, und Wälder von schlanken, eleganten Edeltannen, aus denen da und dort der silbergraue Stamm einer Birke hervorleuchtete, traten an ihre Stelle.

Große Arbeit winkte immer beim Erreichen eines Forts; dann mußten die Vorräte auf die hohe Uferbank und von dort in die Lagerschuppen getragen und die Ballen mit den Pelzen nach dem Schiff heruntergeholt werden. Glücklicherweise gelang es mir oft, mich von dieser Arbeit zu »drücken«. Unser Kapitän pflegte nämlich bei jedem Agenten damit zu renommieren, daß er einen waschechten Walfischfänger aus dem Eismeer unter seiner Mannschaft habe. Da aber Neuigkeiten in jener Gegend so selten sind wie die Störche im Januar, und deshalb das kleinste Ereignis sofort zu einer Sensation wird, so war ich auf jedem Fort stets der Gegenstand der Beachtung und das Objekt einer langen Unterhaltung, in der ich vom »Bowhead«, von Walfischen, von Kapitän Amundsen und von Roxy und der Wahini erzählen mußte. Denn in jenen einsamen Gegenden nehmen die Menschen noch Interesse an den Geschicken ihrer Mitmenschen.

Die Tage reihten zu Wochen, und aus den Wochen wurden Monate, und noch immer nahm die Wildnis kein Ende. Eintönig rauschte der Fluß talabwärts in seiner majestätischen Wildheit. Düstergrau wölbte sich der Himmel darüber. Noch immer zog sich entlang der beiden Ufer die endlose Linie der Tannen- und Fichtenwälder, schwarz wie die Nacht, und scharf sich abhebend vom helleren Hintergrund, wie eine einzige lange Theaterkulisse. An einigen Stellen, wo der Fluß ein Hügelland oder eine Gebirgskette durchbrach, gestattete die Natur auch einen Einblick hinter die Kulissen, aber es war doch immer noch dasselbe Bild: Wald und wieder Wald. Oftmals lagen die grauen Rauchwolken der Buschfeuer darüber, und wenn der Wind vom Land her wehte, wälzten diese sich in den Fluß und brüteten auf dem Wasser; ein dicker, beißender Nebel. Nichts von den Spuren menschlicher Tätigkeit! Nur ab und zu ein Kanoe aus Birkenrinde, langsam stromabwärts gleitend, und selten, ganz selten, ein einsamer Wigwam am Rande des Waldes, nur erkennbar durch die dünne, bläuliche Rauchsäule, die kerzengerade über den Baumkronen aufsteigt.

Das erste Fort, das wir passierten, war das etwa vierhundert Kilometer weiter flußaufwärts gelegene Good Hope. Wie Fort Mc. Pherson blickt es von einer hohen Uferbank herunter. Viel bedeutender wie das Fort der Compagnie ist die dicht daneben befindliche Niederlassung der französischen Jesuitenmission: ein Komplex freundlicher, weiß getünchter Häuser, Kirche, Schule und Werkstätten, die mit verriegelten Türen verträumt und verlassen dalagen, denn es war Sonntag. Eine idyllische Atmosphäre der Sonntagsruhe lag über dem Ganzen. Von dem kleinen Turm der Kapelle tönte das Gebimmel eines hellen Glöckchens.

Wenige Meilen flußaufwärts überschreitet man den Polarkreis. Es ist, als ob die Natur um diese imaginäre Linie wüßte, denn gerade an dieser Stelle rücken die Ufer nahe aufeinander und bilden ein Tor von überwältigender Großartigkeit »The ramparts« – die Wälle, nennt man die finsteren, steil ansteigenden Felsen, die zu beiden Seiten wie mächtige Pfeiler das Flußbett umsäumen. Die sonst so träge vorübergleitende Wasserfläche verwandelt sich hier in einen brodelnden, zischenden Strudel, in dem das schwer gegen die reißende Strömung ankämpfende Schiff Gefahr läuft, an den Klippen zu zerschellen.

Schließlich kam Fort Simpson, der Hauptplatz des Mackenziedistrikts, in Sicht, bei dessen Anblick ich die tröstliche Gewißheit hatte, bereits 1000 englische Meilen von der Herschelinsel entfernt zu sein. Dieses Fort liegt auf einer Halbinsel, die auf der einen Seite von dem noch immer über eine englische Meile breiten Mackenzie, auf der anderen von dem nicht minder stattlichen Liardfluß gebildet wird.

Hier, am Zusammenfluß mehrerer schiffbarer Ströme, konzentriert sich der ganze Verwaltungsapparat der Hudsons Bay Compagnie. Hier haben auch die katholische und die evangelische Mission ihr Hauptquartier. Darum macht der Platz auch einen ganz wohlhabenden Eindruck. Hinter hübschen Landhäusern breiten sich wohlgepflegte Gemüsegärten, Kartoffeläcker und wogende Roggenfelder. Alles wohl eingezäunt mit starkem Stacheldraht zum Schutze gegen die Tiere des Waldes. Selbst Kühe gibt es dort; große, langbeinige, schwarzgetupfte Holsteinkühe, die dem Fremdling mit großen Augen nachsehen, ohne sich in dem beschaulichen Geschäft des Wiederkäuens stören zu lassen.

Inzwischen hatte sich die Zahl der Passagiere bedenklich vermehrt. Schneeballartig war sie angewachsen bei jedem Fort, das wir angelaufen hatten, bis nun die äußerste Grenze des Fassungsvermögens des kleinen Dampfers erreicht war. Eine drangvoll fürchterliche Enge herrschte allenthalben. In der Kajüte, auf dem Verdeck, unter der Back – wo nur irgendein Plätzchen frei war, hatte sich jemand mit seinen Schlafdecken eingerichtet. Und es waren nicht etwa gewöhnliche Hans und Karls, sondern zum größten Teil Respektspersonen, die etwas galten im Gebiet der Hudsons Bay Company! Da war der Bischof der protestantischen Mission; ein ehrwürdiger Herr mit langem, weißem Bart und patriarchalischem Benehmen; ferner ein katholischer Prior, mehrere Missionare, Agenten der Company, die einen Urlaub antraten; zwei Offiziere der berittenen Nordwestpolizei, ein Gelehrter, der von einer Forschungsreise kam, und, nicht zuletzt, ein leibhaftiger kanadischer Minister! Wir befanden uns in guter Gesellschaft.

Einige Tage später tauchte um eine Biegung des Flusses Fort Providence auf, schon von weitem erkenntlich durch die blauweißrote Trikolore, die, allen tatsächlichen Verhältnissen zum Trotz, von dem hohen Flaggenmast der katholischen Missionsstation wehte. Bei Fort Providence ergießt sich das Wasser des Großen Sklavensees in den Mackenzie, um von hier die lange Reise nach dem Eismeer anzutreten. Von dem hohen Ufer, auf dem die Stationsgebäude liegen, hat man eine herrliche Aussicht auf den See, dessen blaue Fläche sich endlos weit erstreckt. Man glaubt, am Ufer des Meeres zu stehen.

Blau und freundlich war am nächsten Morgen der See. Über dem Wasser lag der glitzernde Schein der aufgehenden Sonne, und über den Himmel segelten weiße Windwölkchen, die die frische Seebrise vor sich herjagte. Köstlich, wie sie sich anfühlte nach dem langen Aufenthalt in der dumpfen, moskitobrütenden Atmosphäre in den finsteren Wäldern!

Wir hielten Kurs auf Fort Resolution an der Mündung des Sklavenflusses.In der Lover-Hay-River-Siedlung, am Südufer des Großen Sklavensees zwischen Fort Providence und Fort Resolution, wurden im März 1930 die sterblichen Überreste Kurt Fabers zur ewigen Ruhe beigesetzt. D. H. Bald hatten wir das Land außer Sicht gelassen, und ringsum war nur noch Himmel und Wasser zu sehen. Es war, als ob man irgendwo auf dem weiten Meere wäre und nicht auf einem weltverlassenen See inmitten der großen Waldwüste.

Zwei Tage später gingen wir in der Mündung des Sklavenflusses bei Fort Resolution vor Anker. Dann ging es weiter aufwärts bis nach Fort Smith, wo die bereits über 3000 Kilometer lange Wasserreise ein vorläufiges Ende hatte, denn von hier ab ist der Strom auf eine Strecke von 30 Meilen derart mit Klippen und Stromschnellen durchsetzt, daß an eine Schiffahrt nicht zu denken ist. Die Güter müssen daher ausgeladen und über Land nach einem anderen Dampfer gebracht werden, der jenseits der Stromschnellen darauf wartet. Solche Umgehungswege von Stromschnellen oder anderen Hindernissen nennt der Kanadier »Portage«. Sie sind die einzige Art von Kunststraßen im Nordwest-Territorium, wo sonst nur die Flüsse und Seen als Verkehrswege in Betracht kommen.

Die Ochsenwagen warteten auf dem Fort schon auf unsere Ankunft, aber da mir diese Art des Reisens zu langsam schien, machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Doch bald fand ich heraus, daß es ein großer Unterschied ist, ob man auf einem deutschen Waldweg oder aber auf einem grundlosen Fahrweg des Nordwest-Territoriums eine Fußtour unternimmt. Der ganze Weg war ein Labyrinth von Sümpfen und Morästen und grundlosen Wassertümpeln und obendrein noch eine Hölle von Moskitos. Mehr tot als lebendig, entstellt von Moskitostichen und über und über mit Schlamm bedeckt, kam ich nach vierundzwanzig Stunden am anderen Ende an.

Dort lag auch wirklich schon der andere Dampfer, der »Graham«. Er war wohl noch einmal so groß wie der brave »Wrigley«, der uns von Fort Pherson heraufgebracht hatte.

Auch bei dem Kapitän dieses Dampfers legte Mister Anderson ein Machtwort für mich ein, so daß er versprach, mich mitzunehmen bis nach Fort Mac Murray, wo die Schiffahrt auf dem Athabaska ein Ende hat.

Die Mannschaft des »Graham« konnte übrigens keinen Vergleich aushalten mit der des »Wrigley«.

»Nehmen Sie sich in acht vor den Kerlen,« hatte mir der Kapitän gesagt, »mit der Bande ist nicht gut Kirschen essen.«

Und er hat recht gehabt. Es war eine faule, feige, verlogene, streitsüchtige Gesellschaft. Alle waren Indianer und Halbblutindianer, und sie waren gerade zivilisiert genug, um gehörig frech zu sein. Vor allem ein herkulischer Cree-Indianer, der eine Art Aufseherposten bekleidete, ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um mir, dem einzigen Weißen der Mannschaft, seine Autorität deutlich zum Bewußtsein zu bringen. Das führte zu einer Prügelei, in deren Verlauf der Indianer über einen Holzstoß stolperte und sich dabei eine häßliche Wunde über dem Auge und obendrein noch den Spott der anderen zuzog. Von Stunde an ging er rachebrütend umher und sann auf Mittel und Wege, um den verhaßten Weißen möglichst schnell in die glücklichen Jagdgründe zu befördern. Er war auch nicht lange in Verlegenheit um einen Vorwand. Als ich mir einmal erlaubte, seinen Anordnungen zu widersprechen, erfaßte er schnell wie der Blitz eine auf dem Verdeck liegende Axt und schleuderte sie wie ein Tomahawk nach meinem Kopf. Mit genauer Not verfehlte das Wurfgeschoß sein Ziel und bohrte sich dafür tief in den linken Arm, wo es eine breite Wunde verursachte, die das Fleisch bis auf den Knochen bloßlegte. Wahrlich, am guten Willen zum Totschlag hat es ihm nicht gefehlt!

Doch er hatte das Böse gewollt und das Gute geschaffen. Diese böse Wunde ist für mich der Schlüssel zu allerlei Annehmlichkeiten geworden, von denen ich mir nie hätte träumen lassen. Nachdem ein Offizier der »Mounted Police«, der sich etwas auf Chirurgie verstand, die Wunde zugenäht hatte, wurde ich in die beste Kajüte gebracht, wo ich seit Jahren zum erstenmal wieder in einem wirklichen Bett schlafen durfte, unter der Obhut zweier Krankenschwestern, die mich mit Fleischbrühe und Jamaikarum versorgten und sich überhaupt bemühten, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Und doch war nicht alles lautere Freude. Jetzt, wo ich nichts mehr zu tun hatte, blieb mir reichlich Zeit, um grübelnden Gedanken nachzuhängen. Was wollte ich nun eigentlich in Edmonton ohne einen Pfennig in der Tasche und mit dem verwundeten Arm, so daß ich nicht imstande war, meinen Lebensunterhalt zu verdienen? Das war ein böser Ausklang meiner bis jetzt so glücklich verlaufenen langen Reise!

Während ich noch über meinem Mißgeschick brütete, kam Mr. Kelly, der Sekretär des Schiffes, herein und setzte sich auf den Rand meines Bettes. »Well,« sagte er ohne Umschweife, »was werden Sie nun in Edmonton anfangen? Geld haben Sie nicht, arbeiten können Sie vorderhand noch nicht, aber leben müssen Sie doch! Hier im Athabaskagebiet ist es ja weiter nicht schlimm; hier nehmen die Leute noch Interesse an ihren Mitmenschen, aber drunten in Edmonton, da heißt es immer erst bezahlen, und deshalb haben wir daran gedacht, Ihnen mit ein paar Dollars auszuhelfen.«

Mit diesen Worten überreichte er mir einen sehr liebenswürdigen, von allen Passagieren unterzeichneten Brief und ein Bündel von Dollars, die ich mit erstaunten Augen abzählte: zehn – zwanzig – fünfzig – hundert Dollars! »Nehmen Sie's nur an!« sagte Mr. Kelly, den ich sprachlos anstarrte, »nur keine falsche Scham! Es kommt nicht alle Tage vor, daß wir hier einem Eismeerreisenden auf den Weg helfen müssen.«

Während der nächsten Tage, die wir noch auf dem »Graham« zubrachten, lebte ich wie ein Gentleman. Ich, der ich noch eben erst Holz gespalten und Lasten getragen hatte wie jeder Jean, Jaques und Josephe unter den Indianern, lag nun den lieben, langen Tag auf dem Promenadendeck und spielte Schach mit dem Bischof, politisierte mit dem kanadischen Minister und hielt einem vornehmen Publikum lange Vorträge über das Land der Mitternachtsonne.

Doch es ist das Los der schönen Tage, daß sie ein allzu schnelles Ende nehmen. Ehe man's gedacht, waren wir in Fort Mac Murray angelangt, wo Menschen und Waren in flache Lastkähne, sogenannte Scows, verladen wurden, da die vielen Stromschnellen von dort ab eine Weiterfahrt mit dem Dampfer unmöglich machten.

Endlich kam »Athabaska-Landung«, der Endpunkt unserer langen, langen Reise in Sicht. Hier wurden die Kähne ausgeladen; die Reisegesellschaft löste sich auf, und jeder suchte so schnell wie möglich eine Reisegelegenheit über Land nach Edmonton zu finden.

Da stand ich nun einmal wieder ganz verlassen und überlegte mir, was ich zunächst beginnen wollte. Athabaska-Landung war damals schon, für wildwestliche Begriffe, ein kleines Städtchen aus Wellblech und Brettern. Es gab auch Kaufläden und mehrere Gasthäuser dort, aber, obwohl ich es sehr nötig hatte, mir allerlei nützliche Dinge zur kaufen, blieb ich doch eine ganze Weile unschlüssig stehen mit meinen hundert Dollars. Ich war so verstört durch den plötzlichen Szenenwechsel und durch die lange Entwöhnung so unbeholfen im Verkehr mit Geschäftsleuten geworden. Vor einem Gasthaus stand ich lange in tiefem Nachdenken. Konnte man sich wirklich so ohne weiteres an diese weißgedeckten Tische setzen?

Der Wirt, der vor der Tür stand, kam mir endlich zu Hilfe.

»Komm herein,« sagte er freundlich und brachte mir ein Glas Bier. »Hast du Geld, Johnny?« fuhr er fort in richtigem Pidgin-Englisch, denn nach meinem braungebrannten Gesicht und meiner wildwestlichen Kleidung hielt er mich für einen Halbblutindianer.

»Ja, Herr,« antwortete ich, »ich habe Geld.«

»Allright.« sagte er befriedigt »wenn du Geld hast, dann ist's gut; hast du aber kein's, so kannst du hier nichts bekommen.«

So saß ich denn nach undenklich langer Zeit einmal wieder bei einer zivilisierten Mahlzeit, der ich auch alle Ehre angetan habe.

Ein alter Farmer, der mit mir am Tische saß und meinen Appetit mit steigendem Interesse bewunderte, fragte mich, wie Farmer das zu tun pflegen, ganz ausführlich nach dem Woher und Wohin.

»Also, nach Edmonton wollen Sie?« fragte er, als seine Neugierde einigermaßen befriedigt war, »da können Sie gleich morgen mit meinem Wagen fahren. Ich verlange nur fünf Dollars für die Reise. In drei Tagen sind wir dort!«

 


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