Kurt Faber
Unter Eskimos und Walfischfängern
Kurt Faber

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Das Hungerjahr

Halbe Rationen. – Jim, der Tyrann. – Der große Zahltag. – Die gelockerte Disziplin. – Meuterei in Permanenz. – Theatervorstellungen in der »Großen Oper«. – Ein dankbares, aber sehr gemischtes Publikum. – Reisepläne. – Ich treffe mit Roxy, dem Eskimohäuptling, ein Übereinkommen. – Auf zur 4000-Kilometer-Wanderung!

»Well!« sagte Kapitän Cook, nachdem er der auf dem Achterdeck versammelten Mannschaft mit unverständlicher Stimme ein Kapitel aus der Seemannsordnung vorgelesen hatte, »das Lange und Kurze der ganzen Sache ist also dies: Wir sind für einen weiteren Winter stecken geblieben, und mit der Rückkehr nach Frisko ist es nichts – um so schlimmer für uns alle. Müssen uns verteufelt zusammen nehmen, wenn die zwei Monate Proviant, die wir noch an Bord haben, bis zum nächsten Sommer ausreichen sollen. Von heut ab sind darum die Rationen vorerst auf die Hälfte herabgesetzt; daß mir also keiner bei der nächsten Gelegenheit achteraus gelaufen kommt und sich beklagt, daß er nicht genug zu essen bekommt. Müßt halt den Leibriemen ein bißchen enger anziehen. Kann euch gar nichts schaden!«

So waren also die schlimmsten Befürchtungen zur Wirklichkeit geworden. Halbe Rationen! Für einen Seemann gibt es kein Wort, das einen so bitteren Beigeschmack hätte wie dieses. Ein jeder, der längere Zeit zur See gefahren ist, hat schon einmal einen Vorgeschmack davon bekommen, wenn widrige Winde das Schiff aufgehalten haben und die Vorräte auf die Neige gegangen sind, oder wenn unterwegs der Proviant auf irgendeine Weise verdorben wurde. Das alles gehört zu den unvermeidlichen, gelegentlichen Wechselfällen, mit denen Poseidon seine Jünger zuweilen zu überraschen pflegt und die man deshalb auch nicht allzu tragisch nimmt. Aber ein ganzes Jahr der Hungersnot, wie es uns hier bevorstand, das ging doch weit über das gewohnte Maß hinaus.

Seine Majestät der Hunger hatte sein Regiment angetreten. Aus den »three square meals« (den drei handfesten Mahlzeiten), die ein Glaubenssatz aller echten Yankees sind, und an denen wir bisher auch durch alle Wechselfälle getreulich festgehalten hatten, wurden nun zwei Mahlzeiten, und als es auch dazu nicht mehr reichte, als die Portionen so klein wurden, daß man sie auch beim besten Willen und bei größter Phantasie nicht mehr als »Mahlzeiten« ansprechen konnte, da legten wir sie zusammen zu einer einzigen in vierundzwanzig Stunden. Und was für Mahlzeiten! Ein Stückchen Brot nach Pariser Maß und ein Stückchen Salzfleisch, das man mit der Lupe besehen konnte. Gemüse, Kartoffeln, Früchte gab es schon lange nicht mehr.

Einmal stöberte der Koch aus einer Ecke der Proviantkammer einige Blechdosen mit eingemachtem Kraut auf, die dort wohl schon seit zehn Jahren lagen. Unter anderen Umständen hätten wir die Nase gerümpft vor solchem Zeug, denn es stank zehn Meter gegen den Wind, aber jetzt verspeisten wir es mit großem Appetit. Selbst das übelriechende Muktuk, das wir als Hundefutter zu benutzen pflegten, wurde gekocht und als Abwechslung im Küchenzettel freudig begrüßt. Mit einem Wort: es waren traurige Zeiten. Gut war nur das eine, daß reichlich von dem eigentümlichen Stoff vorhanden war, den man als Tee und Kaffee bezeichnete. So konnte man sich auf kurze Zeit wenigstens einbilden, daß man sich satt gegessen habe.

Heute kann ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen, welcher Schatz ein Stück Brot in jenen Tagen für uns gewesen ist. Natürlich waren diese Brotrationen ganz genau abgemessen; sie waren ein Wertobjekt. Unter einem Preis von drei bis vier Pfund Tabak gab sie keiner her, und sehr oft war keines dieser kostbaren Brotstücke zu haben, weder für Geld noch Liebe noch für allen Tabak der Erde. Aber mit Leidenschaft wurde darum gespielt. Während der langen Abende nach getaner Arbeit saßen sie auf der Bank vor der Koje und spielten Poker. Jeder hatte vor sich einen Haufen Streichhölzer als Einsatz. Wer dann am Ende gewonnen hatte, der verspeiste mit Wonne des anderen Brot.

Merkwürdig, daß diese Hungersnot gar keinen nachteiligen Einfluß auf den Gesundheitszustand der Leute ausübte. Fast will es mir scheinen, als ob das Hungerleiden lange nicht so ungesund wie unangenehm sei. Mit Staunen habe ich den chinesischen und malaiischen Kulis zugesehen, wie sie in den Pausen beim Stauen der Schiffsladung ihre Mahlzeit einnahmen: ein bißchen Reis, Tee und ein wenig Pfeffer. Und leben nicht viele hundert Millionen Menschen in Indien von einer Mahlzeit pro Tag? Also!

Sehr nachteilig sind dagegen die Einflüsse, die eine lange Hungerperiode auf den Charakter des Menschen ausübt. Niemand kann so rücksichtslos sein wie ein hungriger Mensch. Niemand ist so schnell bereit, zu zerstören, was er angebetet, und anzubeten, was er zerstört hat. Mord, Totschlag, Meuterei – einerlei. Irgend etwas muß jetzt biegen oder brechen. Eine tolle »Jetzt-kann-kommen-was-will«-Stimmung macht sich breit. Der Aufruhr rumort in allen Köpfen, und es bedarf nur der Rädelsführer, um ihn in die Tat umzusetzen.

Und an solchen Rädelsführern war kein Mangel. Da war der große dicke Jim Mac Kenzie; der Typus eines wildwestlichen Abenteurers. Seine Weltgewandtheit und die Tatsache, daß er mit seinen zweiundvierzig Jahren etwa zwanzig Jahre älter war wie die meisten von uns, verschaffte ihm einen großen Einfluß. Jim war der Herrgott in diesem Kreise. Er brauchte nur ein wenig aufzutrumpfen, und wie er sprach, so geschah es, und wie er gebot, so stand es da.

Jims Sekundant in seinen agitatorischen Bemühungen war Bowen, ein kleiner, schwächlicher, ausgetrockneter Mann, der es meisterhaft verstand, mit schmutziger Zunge die Leute zur Raserei aufzustacheln. Er kam gerade von den Philippinen, wo er den Krieg gegen die Insurgenten mitgemacht hatte. – Von allen nutzlosen Geschöpfen, die ich je angetroffen habe, war er das schlimmste. Beständig lag er »krank« in seiner Koje und ließ sich bedienen wie ein Pascha. Dabei war er noch grob und unverschämt und behandelte uns, als ob wir seine Sklaven wären. Wir alle haßten und verachteten ihn, aber seinen Reden hörten wir doch gerne zu, denn er war ein geborener Volksredner mit beißendem Spott und agitatorischem Pathos.

»Habt ihr euch mal wieder geschunden, ihr Arbeitstiere?« pflegte er mit höhnischer Stimme zu sagen, wenn die andern von draußen herein kamen. »Und für wen? Für was? Für das Stückchen Brot und für die Blechtasse voll schmutziger Brühe, die man hier Kaffee nennt! Kaffee! Die Schweine wollten so etwas nicht saufen bei mir zu Hause! Ihr seid mir die richtige pflaumenköpfige Gesellschaft! Habt Angst vor eurem eigenen Schatten! Warum macht ihr's nicht wie ich? Meldet euch krank! Seid ihr etwa nicht krank, beim Teufel? Das Fieber kann man euch ja aus den Augen sehen und der Hunger schaut euch zu allen Knopflöchern heraus. Meinetwegen schindet euch noch länger! Arbeitet! Arbeitet, bis ihr verreckt! – Zittre, meine Seele! wenn ich stark wäre wie ihr! Wenn ich Muskeln hätte wie einer von euch! Ha, dann könnte Johnny Cook einen Tanz erleben! Mit diesem Messer wollte ich seine schmutzige Hundeseele zum Teufel schicken! Aber ich bin krank, todsterbenskrank, und stehe schon mit einem Fuß im Grab.«

Und damit fing er an zu husten und zu stöhnen, als ob es jeden Augenblick mit ihm zu Ende gehen sollte.

»Aber den Zahltag,« pflegte er regelmäßig mit heiserer Stimme hinzuzusetzen, »den will ich erst noch erleben.«

Ja, dieser Zahltag! Der spielte eine große Rolle in seinem traurigen Leben. Irgend jemand hatte ihm eingeredet, daß wir aus irgendeinem Grunde zu Unrecht angemustert wären und deshalb Anspruch auf eine Entschädigung von einem Dollar pro Tag hätten. Macht im Jahr 365 und in dreieinhalb Jahren über 1300 Dollars. Aber mit solcher Bettelsuppe gab sich der gute Bowen noch lange nicht zufrieden. Für die kurzen Rationen – und hatten wir nicht seit der Abfahrt von San Franzisko von kurzen Rationen gelebt? – verlangte er noch einmal einen Dollar für den Tag, ganz abgesehen von den Entschädigungen und Schmerzensgeldern für schlechte Behandlung. So wuchs der Zahltag allmählich ins Ungemessene, und Bowen wurde jeden Tag reicher wie die Magd mit dem Milchtopf in der Fabel. Seine einzige Sorge war nur die, ob die Gesellschaft, der unser Schiff angehörte – nebenbei bemerkt eine der reichsten in San Franzisko –, die gewaltigen Summen auch wirklich auf Heller und Pfennig bezahlen könnte. Er hatte sich die Geschichte von dem kommenden Dollarsegen so oft vorgeredet, daß er sie schließlich selber glaubte und auch fast alle anderen davon zu überzeugen wußte. Die armen Kerle rechneten mit dem Geld, als ob sie es schon in der Tasche hätten.

Nur der dicke Jim gab sich nicht zufrieden. »Was kümmern mich die Dollars,« sagte er oft, »die sind doch alle rund und gehen fort für Whisky und für die Weiber. Es wäre nicht das erstemal. Bin ich nicht mit dreitausend Dollars und den schönsten Vorsätzen aus Mexiko zurückgekommen, und acht Tage später habe ich in Chikago auf der Straße gebettelt? Und hab ich nicht jetzt erst in Frisko, kurz ehe ich an Bord dieses verfluchten Kastens geraten bin, von den free lunch counters (Suppenküchen) gelebt und bei der Heilsarmee geschlafen, nachdem ich drei Tage zuvor mit einem Haufen von tausend Dollars von Nevada heruntergekommen war? Dollars! Die sind gut für einen Dego (Italiener), der daran kleben bleibt, bis er eine Gemüsehandlung anfangen kann, oder für einen stinkenden Hundesohn von einem Chinesen, der sie übers große Wasser schafft. Aber was sind die Dollars für unsereins! Nein, Rache ist es, was wir wollen! Hat uns diese glatzköpfige, scheinheilige Bestie nicht drei Jahre lang wie Hunde behandelt? Hat er nicht erst neulich den kleinen Joe so stark gestoßen, daß ihm noch acht Tage später alle Glieder geschmerzt haben? Hat er nicht dem armen Fritz bei Kap Nome zwei Zähne eingeschlagen? Ach, ein verflucht kurzes Gedächtnis habt ihr alle!«

So ungefähr lautete die Rede, die Jim alltäglich vor versammeltem Volk hielt. Und nie verfehlte sie ihre Wirkung. Allgemein war man der Ansicht, daß der Kapitän von Glück reden konnte, wenn er mit zehn Jahren Zuchthaus als Strafe für seine Missetaten davon käme. Und diese Meinung schien selbst im Achterteil des Schiffes an Boden zu gewinnen. Fast sah es aus, als ob dem gestrengen Kapitän auf einmal Angst geworden wäre und er nun durch möglichste Milde das Vergangene vergessen machen möchte.

Mit dem Fortschreiten des Winters wurde das Quantum Arbeit, das getan wurde, immer geringer. Geradezu unerschöpflich war man in der Erfindung neuer Ursachen zu neuen Streiks. War es draußen windig, so nahm man das schlechte Wetter zum Vorwand, war es draußen schön, so erinnerte man sich daran, daß laut Seemannsordnung bei halben Rationen nur die dringend notwendige Arbeit zu verrichten war. Selbstverständlich gehörte dann die Arbeit, die gerade getan werden sollte, immer zu den unnötigen, und es gab große Diskussionen zwischen Kapitän und Mannschaft, welche Arbeit als notwendig und welche als nicht notwendig anzusehen war. Es wäre zum Lachen gewesen, wenn die Sache nicht einen so bitterernsten Beigeschmack gehabt hätte. Nichts wurde getan! Sogar das Einwallen des Schiffes mit Schnee wurde als »nicht notwendig« erklärt, und deshalb mußten wir während jenes Winters mehr frieren als in den beiden vorhergehenden zusammengenommen.

Kurzum, die Disziplin hatte völlig Schiffbruch gelitten. Es war einfach die Meuterei in Permanenz erklärt. Sogar die Verwaltung des Proviants mußte der Kapitän schließlich aus den Händen geben. Um den Klagen über Bevorzugung von vorn und achtern ein Ende zu machen, wußte er sich nicht mehr anders zu helfen, als daß er den ganzen Fleischvorrat mittschiffs aufspeichern ließ, und wenn der Koch seine täglichen Portionen holte, durfte er es nur in Gegenwart von je zwei Zeugen von vorne und achtern tun, die genau aufpaßten, daß keiner zu kurz kam. Aber dadurch wurde das gegenseitige Mißtrauen nur noch gesteigert. Die Eifersucht wurde immer größer. Haß und Mißgunst fraßen sich immer tiefer in alle Gemüter. Die Dinge trieben mit Riesenschritten einer Katastrophe entgegen.

Es war nur ein Glück, daß noch drei andere Schiffe in der Bucht der Herschelinsel lagen, so daß kein Mangel an Gesellschaft war und die grübelnden Gedanken wenigstens in etwas abgelenkt wurden.

Vögel mit gleichen Federn fliegen immer zusammen. Keines dieser Schiffe war für den Winter verproviantiert, und darum herrschte überall die gleiche Hungersnot. Und das war gut so; es hungert sich leichter in Gesellschaft.

Das alles tat jedoch dem gesellschaftlichen Leben keinen Abbruch. Im Gegenteil! In keinem der beiden vorhergehenden Winter war es so lebhaft zugegangen wie in diesem. In der richtigen Erkenntnis, daß nichts einen knurrenden Magen so schnell zu besänftigen weiß wie gute oder gut gemeinte Musik, wurden allwöchentlich im Missionshaus regelrechte Kammermusikabende veranstaltet. Tanzkurse mit Eskimodamen wurden eingerichtet (allerdings nicht im Missionshaus), und als das Frühjahr wieder ins Land kam, wurden draußen auf dem Eise regelrechte Fuß- und Baseballturniere ausgefochten.

Den Höhepunkt der Saison bildete aber das Theater – das nördlichste Theater der Welt. Und was für eines! Das hätte sich die gute alte Herschelinsel niemals träumen lassen, daß sie es einmal so weit bringen würde! Die Idee war von den Kapitänen ausgegangen, die es ganz gern sehen mochten, wenn die unruhigen Geister von den brütenden Aufruhrgedanken auf das angenehmere Gebiet der Theaterkunst abgelenkt wurden. Als Musentempel diente das große Storehaus an Land, das ja leider mangels Vorräten schon während des ganzen Winters leer stand. Die verschiedenen Zimmerleute wurden dazu abkommandiert, die Sache tiptop zu machen, und siehe da, der Erfolg übertraf die kühnsten Erwartungen. Es war ein richtiges Theater mit großer Bühne und breitem Vorhang, reich geschmückt mit stolzen Sternenbannern und bunten Wimpeln und Signalflaggen. Zum Überfluß fehlte auch nicht eine lange Reihe qualmender Tranlampen, die als Rampenlichter dienten. Über der ganzen Herrlichkeit aber prangte ein mächtiges Schild, auf dem in Riesenbuchstaben zu lesen stand:

»Hershel Island, Grand Opera.«

In dem weiten Raum war reichlich Platz für alle weißen und braunen Zuschauer. Allerdings war es anfangs immer etwas kalt, und der rechte Enthusiasmus wollte nicht recht aufkommen. Man begeistert sich nicht bei zehn Grad unter Null im Theatersaal. Aber das hinderte nicht, daß das Theater ungemein populär wurde. Wir waren das Muster eines dankbaren Publikums. Es gab keine Vorstellung, die nicht vor überfülltem Haus in Szene ging. Und warum auch nicht? Der Eintritt war ja frei, und nur zuweilen, wenn die Schauspieler das Bedürfnis hatten, ihre Verluste im Pokerspiel wettzumachen, wurde eine Extragalavorstellung veranstaltet, zu der man ein kleines Eintrittsgeld in Gestalt von einem Viertelpfund Tabak oder einem gleich großen Quantum Zucker entrichten mußte. Das konnte sich jeder leisten und kam dabei immer noch auf seine Kosten. Hat es doch selbst ein berühmter Mann wie Amundsen nicht verschmäht, zuweilen diesen Vorstellungen beizuwohnen.

Der »Doktor« vom »Karluk«, der überall dabei sein mußte, war die Seele dieses Theaters, und er war bei seiner Betriebsamkeit und seiner Vielseitigkeit der richtige Mann am richtigen Platz. Er war Regisseur, Kapellmeister und Theaterdichter in einer Person. Seine Verwegenheit schreckte vor nichts zurück. Er wagte sich mit seinem Ensemble an die schwierigsten Operntexte und verschmähte nicht die abgegriffensten Gassenhauer. An »Künstlern« war ja kein Mangel. Professionelle Jongleure, Taschenspieler, Bänkelsänger – alles war da, und keine Vorstellung verging, ohne daß ein neuer Stern am Theaterhimmel aufgetaucht wäre. International war dieses Theater im verwegensten Sinne des Worts. Englische, portugiesische, deutsche, Kanaka- und Eskimolieder folgten in bunter Abwechslung. Gute und gut gemeinte, humoristische und sentimentale – meistens sentimentale. Da marschierte die »Wacht am Rhein« neben der »Marseillaise« und »Rule Britannia« neben der »Internationale«. Und sie fanden alle die Anerkennung des vorurteilslosen Publikums.

Darüber kam jedoch auch der lokale Teil nicht zu kurz. Er war sogar die Hauptattraktion. Die Vorzüge der Eskimodamen wurden in unzähligen Versen ins richtige Licht gesetzt. Stürmisch hallten ihre Beifallsrufe durch die weite Halle, und die Säuglinge in der Kapuze schrien jämmerlich dazu und gestikulierten aufgeregt mit den kleinen Händchen.

So war allmählich der siebzehnte März herangekommen, ein Tag, dem wir alle schon längst mit Hangen und Bangen als einem kritischen Tag erster Ordnung entgegensahen, denn da jährte sich zum vierten Mal der Tag unserer Anmusterung. Die 36 Monate, für die wir uns verpflichtet hatten, waren also abgelaufen und von Rechts wegen wären wir nun frei gewesen.

»Lieber will ich mir die Hand abhacken, als daß ich von dem Tage an noch irgend eine Arbeit tue,« sagte Jim, und die anderen pflichteten ihm eifrig bei. Keiner mehr wollte einen Finger krumm machen für Johnny Cook.

Tatsächlich verweigerten auch alle Mann die Arbeit. Aber der Kapitän, der schlaue Fuchs, schien auf die Sache vorbereitet zu sein, und es sah fast so aus, als ob ihm diese neue Meuterei durchaus nicht unangenehm sei.

»Was erwartet ihr nun eigentlich von mir?« sagte er mit höhnischem Lachen. »Nichts mehr arbeiten wollt ihr? Als Passagiere soll ich euch nach Frisko bringen? Das könnte euch gerade so passen! Ich aber sage euch, daß ihr von heute ab arbeiten müßt, bis ihr schwarz werdet! Was ihr an rechtlichem Anspruch gegen mich zu haben glaubt, das könnt ihr später dem Staatsanwalt erzählen, aber solange ihr hier an Bord seid, habt ihr nichts zu tun, als arbeiten, gehorchen, Maul halten! Verstanden?«

»Ja, aber –« wagte jemand zu sagen.

»Wer hat hier noch etwas zu sagen?« brauste er zornig auf. »Hier gibt's kein Aber! Wer bereit ist, seinen Dienst zu tun, der bleibe hier stehen, und wer das nicht tun will, der stelle sich drüben längs der Steuerbordreel auf.«

Nun sahen alle unschlüssig einander an, wie sie immer in solchen Fällen zu tun pflegten, und dann nach dem allmächtigen Jim, was der tun würde. Der aber besann sich nicht lange, sondern ging hinüber nach der Steuerbordseite, und alle folgten ihm wie eine Hammelherde und ließen mich einsam und verlassen als einzigen Arbeitswilligen zurück.

Längst schon hatte ich mich daran gewöhnt, an Bord dieses Narrenschiffes alles für möglich zu halten, aber solche »Meuterei« war mir doch etwas ganz Neues. Die Don Quichote-Courage dieser einfältigen Menschen, die gänzlich wehr- und waffenlos angesichts der bis an die Zähne bewaffneten Bootsteurer revoltierten und sich dann mit Märtyrermiene in Eisen legen und in die Großluke befördern ließen, das war mehr, als ich, bei aller eigenen Unvernunft, begreifen konnte. Sicherlich hätte diesen Schritt auch keiner gewagt, wenn er sich nicht gefürchtet hätte vor dem allgewaltigen Jim Mac Kenzie, der grimmige Rache nehmen wollte an jedem, der nicht so tat wie er wollte.

»Mit dir werde ich noch abrechnen,« zischte er mich an, als sie ihn abführten, »bist immer ein falscher Hund gewesen!«

Doch mit der Bravadostimmung der »Meuterer« war es gar bald vorbei. Es war sehr kalt, sehr feucht und sehr ungemütlich dort unten im Laderaum, und darum kehrten die Sünder, einer nach dem andern zurück, und ehe acht Tage vergingen, waren sie wieder alle an der Arbeit. Dem Kapitän aber war sein billiger Triumph in den Kopf gestiegen. Er blähte sich wie ein Pfau und wurde womöglich noch anmaßender wie je zuvor.

»Eure 36 Monate sind abgelaufen, sagt ihr? Umso schlimmer für euch! Wem's hier an Bord nicht mehr gefällt, der mag meinetwegen zum Teufel gehen! Versucht euer Glück draußen auf dem Eis. Ich gebe jedem noch eine Ausrüstung mit auf den Weg, damit er sobald nicht wieder zurückkommt. Froh um jeden, den ich nicht mehr zu sehen brauche. Könnt nun machen, wie ihr wollt, aber wer hier an Bord bleibt, der merke sich ein für allemal, daß ich, und nur ich allein, Kapitän an Bord des »Bowhead« bin! Verstanden? –«

Ich aber betrachtete von dem Tage an die blauen Berge, die von dem Festland herüberwinkten, mit ganz neuem Interesse. Hatte er nicht gesagt, er sei froh um jeden, der fort ginge und gäbe ihm noch Proviant mit auf den Weg? Also! Da war ja die Erfüllung des Traumes meiner letzten drei Jahre in greifbare Nähe gerückt. Alaska, das Wunderland, und der Klondike mit seinen Goldfeldern! Und dann das große Nordwestterritorium mit den unermeßlichen Wäldern, den riesigen Seen und den gewaltigen Strömen! Das alles war in meiner Phantasie schon längst zu einem Paradies geworden.

Und wie das Frühjahr ins Land kam und die Sonne täglich wärmer schien, da wuchs – wie immer um diese Jahreszeit – die Reiselust mit jedem Tag. Ich brachte in Erfahrung, daß ein Eskimo namens Roxy eine Reise nach dem Fort Mac Pherson, dem am weitesten vorgeschobenen Posten der Hudsons Bay Compagnie, in Aussicht habe und machte mich schleunigst auf, um diesen Mr. Roxy zu besuchen.

Bei meinem Eintritt begrüßte seine Wahini mich freundlich, aber Roxy war so eifrig mit dem Flicken eines Fischnetzes beschäftigt, daß er mich nicht bemerkte. Ich ließ mich dadurch nicht abschrecken, sondern machte mich daran, den Zweck meines Kommens auseinanderzusetzen.

»Hm, naguruk«, brummte er, als ich geendet hatte, »bring mir das Kaukau, das dir der »Große Häuptling« versprochen hat, und ich will dich mitnehmen zu den Kabelunas am Mackenzie.«

Wie ruhig und gleichgültig er das sagte. Gerade so, als ob es sich um eine Schlittenfahrt nach unserem Holzplatz drüben auf dem Festland handelte! Auf tausend Einwendungen war ich gefaßt gewesen, aber so – ich konnte es fast nicht glauben, daß er's ernst meinte und daß es doch noch zu der 4000-Kilometer-Reise kommen sollte, von der ich so lange geträumt hatte!

Kapitän Cook machte große Augen, als ich ihm mein Vorhaben mitteilte, denn er hatte natürlich nicht geglaubt, daß ihn jemand beim Wort nehmen würde. Nach einer gut gespielten Komödie zögernder Bedenklichkeit gab er jedoch seine Zustimmung und rieb sich im geheimen vor Vergnügen die Hände, daß er mich so billig los geworden war. Denn der »Knabe Karl« war ihm schon längst fürchterlich geworden. »Vielleicht,« so dachte er, »geht er unterwegs zugrunde; aber darüber wasche ich meine Hände in Unschuld, denn er hat's so gewollt. Vielleicht kommt er auch wieder mit heiler Haut nach Frisko, aber immerhin zu spät, um mir noch gefährlich werden zu können. So oder so bin ich den unheimlichen Menschen los.

Mit der versprochenen Proviantlieferung sah es allerdings schlimm aus. Ein Sack Mehl, eine Kanne Sirup, eine Kiste Reis und etwas Büchsenfleisch. Reichlich wenig für eine Reise von 4000 Kilometer!

An einem Apriltage des Jahres 1906 kam dann endlich der große Tag der Abreise. Eisig kalt fegte der Wind über die Eisfläche und jagte den hartgefrorenen Treibschnee vor sich her. »Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter.« Drüben zwischen den Iglus stand unser schwerbeladener Schlitten und die fünf Hunde lagen bereits angeschirrt im Schnee und heulten zum Steinerweichen. Alle weißen und braunen Bewohner hatten sich vor Avoyuuks Iglu versammelt. Dann gab's ein großes Händeschütteln. Frau Roxy setzte sich an die Spitze des Zugs und rief den Hunden ein ermunterndes »Gu, gu–u« zu; Roxy ließ dazu die Peitsche einmal knallend durch die Luft sausen. Vorwärts ging die Reise.

 


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