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Mr. Johnson hält uns eine Standrede. – Sturm. – Mann über Bord! – Land! – Vulkane im Eismeer. – Unalaska. – Mißglückte Desertierungspläne. – Das erste Eis. – Der »Bowhead« an der Arbeit. – Ankunft vor der St.-Lorenz-Insel. – Allerlei Eskimositten. – »Auf nach Sibirien!«
Durch lange, gleichmäßige Wochen war alles programmäßig verlaufen. Der brave Südostwind verfolgte uns mit ruhiger Stetigkeit, und das Wetter war so schön, und der Himmel so blau, wie nur irgendwo weit drunten im Seemannsparadies der Passatregionen.
Und das war gut so, denn so hatte jedermann Gelegenheit, sich Seebeine anzugewöhnen, ohne dabei allzu große Gefahr für seine übrigen Glieder zu laufen. Daß daneben auch die seemännische Ausbildung nicht vernachlässigt wurde, dafür sorgte der allgegenwärtige Mr. Johnson. Er war ein harter Lehrmeister mit eigenen pädagogischen Ansichten. Schon am ersten Tag der Ausreise hatte er uns Grünhörnern hierüber eine Vorlesung gehalten. »Für was, beim Teufel! seid ihr denn überhaupt an Bord gekommen?« so ungefähr lautete seine Rede, »können tut ihr nichts, das einem christlichen Seemann von Nutzen sein könnte, und ihr seht auch nicht danach aus, als ob ihr etwas dazu lernen könntet. Aber, beim heiligen Jonas! – ich will Seeleute an Bord haben, und keine Vagabunden! Wenn ich etwas aussinge, dann will ich, daß ihr geflogen kommt. Und von wegen nicht können; das gibt's nicht hier an Bord! Wer in vierzehn Tagen nicht bis zum letzten Kabelgarn Bescheid weiß in der Takelage, der bleibt mir an Deck und bekommt seine Koje nicht mehr zu sehen, bis er es gelernt hat! Verstanden?«
Wir alle hatten verstanden, und für die nächsten Tage begann ein eifriges Probieren und Studieren zwischen den Tauen und Blöcken der Takelage. Jeder gab sich die größte Mühe, in das Mysterium der Fallen und Schoten, der Stagen und Stengen einzudringen. Nie hat ein Lehrmeister willigere Schüler gehabt, wie Mr. Johnson an Bord des »Bowhead«. Und als dann der große Tag des Examens kam, wo jeder zeigen konnte, was er gelernt hatte, da machte Mr. Johnson beinahe ein freundliches Gesicht. Er verstieg sich sogar zu der Anerkennung, daß wir nicht ganz so dumm seien, wie wir aussähen.
Es war aber auch höchste Zeit, daß ein bißchen seemännischer Schliff unter uns unbeholfene Landratten kam, denn die ruhigen Breiten mit ihren gleichmäßigen Winden lagen bereits hinter uns, und wir waren schon in der Gegend angelangt, die der Seemann respektvoll »the roaring fourties«, die »brüllenden Vierzig« nennt.
Hier begann die Brise allmählich nach Norden umzuspringen und dabei mehr und mehr abzuflauen, bis sie in einer völligen Windstille endete.
»Junge, Junge!« sagte Schneeball, dessen schwarzes Gesicht zum runden Bullauge der Kombüse hinausschaute, »heut' nacht werden wir noch einen Hutvoll Brise bekommen, und dann gibt's Arbeit für euch an Deck! Das ist gerade nach meinem Geschmack. Ich sehe es immer gern, wenn andere arbeiten, derweil ich in der Koje liege.
Wenn Schneeball das sagte, so mußte es schon so sein, denn er war Wetterprophet wie alle Schiffsköche, und hielt zuviel auf diesen seinen Ruf, als daß er ihn durch mäßige Prophezeiungen in Frage stellte.
Und richtig, noch ehe die Nacht ordentlich angebrochen war und ehe wir viel Zeit zum Bergen der Segel hatten, war es über uns, das wilde Heer, mit Schreien und Toben und wildem Pfeifen und Singen in der Takelage. Höher und höher stieg die See. Wie reißende Wildbäche stürzten die Wassermassen über die Bordwand.
»Haul down the main t'gan 's'l!« (Bramsegel nieder!) brüllte der Kapitän mit dröhnender, und dennoch in dem entfesselten Hexensabbat kaum hörbarer Stimme. Mister Johnson selber warf das Tauende von dem Nagel los und ließ die schwere Rahe mit knarrendem Getöse langsam herunter fieren. Aber kaum war das lose Tuch des Segels dem Spiel des Windes ausgesetzt, als es mit donnerndem Krach in Fetzen zerriß. Mehrmals noch peitschten diese wild auf wie die schwarzen Flügel eines gespenstischen Nachtvogels. Die Schotketten klirrten und rasselten, und der schwere eiserne Block wurde gegen den Mast geschleudert, daß die roten Funken wild auseinanderstoben.
Und da geschah das Entsetzliche. Es war gerade zur Geisterstunde. Der Mann am Ruder hatte eben acht Glas »gehauen«, als eine besonders boshafte See überkam, die es auf unsere beiden Borstentiere abgesehen hatte. Mit einem gewaltigen Schlag hatte sie den an der Reling vor der Back festgelaschten Stall zertrümmert und die beiden Insassen achteraus auf die Großluke entführt. Dann kam eine neue, noch weit mächtigere See über und fegte sie beide über Bord. Das eine der beiden Tiere haben wir zu unser aller Kummer nie wieder gesehen, während das andere von der zurückkommenden Flut wieder an Deck geworfen wurde, wo es an der scharfen Kante der Luke sein bißchen Leben aushauchte. Das brachte Schneeball auf den Kampfplatz, der mit einer Schnelligkeit, die ich ihm niemals zugetraut hätte, seinen Schützling auf dem höher gelegenen Achterdeck in Sicherheit brachte. Da lag er nun, der arme Denis – das war sein Name – und wußte nichts mehr von den Leiden und Mühen eines Seemannslebens. Fast beneidete ich ihn um seinen schnellen Tod.
Wohl acht Tage lang dauerte das Unwetter; acht wüste und häßliche Tage, in denen ich armes Grünhorn alle Augenblicke mein letztes Stündlein gekommen wähnte. Eine mäßige Windstärke erschien mir damals schon als Sturm, und was der Seemann als eine steife Brise bezeichnet, das war in meinen Augen ein rasender Orkan.
Tagelang bekamen wir nichts Warmes zu essen, weil Schneeballs Reich durch die Sturzseen fast ständig unter Wasser gehalten war. Wir nährten uns kümmerlich mit kaltem Speck und steinharten Biskuits. Von Schlafen war auch keine Rede mehr, denn drunten im Mannschaftslogis sah es fast noch schlimmer aus wie draußen auf Deck. Dunkel und dumpf war es dort unten, wie in einem Kellergewölbe. Ächzende, stöhnende, krachende Laute erfüllten die Luft, und das Heulen des Windes hörte sich unheimlicher an wie draußen im Freien. Überall tropfte und rieselte das Wasser durch die Ritzen des undichten Verdecks, floß in die Kojen und tropfte herunter in den großen, plätschernden, übelriechenden Teich, der die Stelle des Fußbodens ausfüllte. Bei jedem Überholen des Schiffes schossen die schweren Seekisten polternd von einer Seite des Raumes zur anderen, und die neben den Kojen aufgehängten Kleider und das nasse Ölzeug pendelten klatschend hin und her.
Grausam rumorte in diesen bösen Tagen die Seekrankheit in meinem Kopfe, und eine bleierne Müdigkeit war mir in alle Glieder gefahren. Schlafen – vergessen! Das war mein einziger großer Wunsch. Aber wie konnte unter solchen Umständen von Schlaf die Rede sein? Nur zuweilen, wenn es gar nicht mehr anders gehen wollte, kroch ich, so wie ich ging und stand, in die gänzlich durchnäßte Koje, um für ein paar Stunden des unruhigen Halbschlafes mich über die Kälte, den Hunger und die Seekrankheit hinwegzutäuschen.
Nur sehr mühsam konnten wir in jenen Wochen gegen den starken Nordost aufkreuzen. Daß es überhaupt vorwärts ging, das merkte man nur an der sinkenden Temperatur, die sich für uns, die wir eben erst aus dem sonnigen Kalifornien kamen, schon ganz empfindlich bemerkbar machte. Namentlich früh morgens, kurz vor Sonnenaufgang, wurde es immer ungemütlicher.
Und einer jener düsteren Morgen bleibt schwarz angestrichen in meinem Gedächtnis. Während der ganzen Nacht waren harte Hagelböen über das Wasser gefegt, die das dicht am Wind liegende Schiff in allen Fugen erzittern machten. Erst mit Anbruch des Tages begann der Wind etwas abzuflauen, aber die See ging höher als je. Da ließ der Steuermann, der schon lange mit Ungeduld auf den Augenblick gewartet hatte, noch mehr Segel beisetzen, und schickte mich nach vorn, um die Klüver loszumachen, zusammen mit einem anderen, etwa sechzehnjährigen Jungen, den sie »Tex« nannten, weil er in Texas zuhause war.
Das Schiff stampfte so gewaltig, daß der Klüverbaum fast mehr unter als über dem Wasser lag. Nur mit Mühe gelang es den steif gefrorenen Fingern, den Zeising zu lösen, der um das Segel gewickelt war. Dafür war aber auch die Freude um so größer, als die Arbeit getan war. Aber als ich mich eben anschickte, wieder an Deck hinunterzuklettern, kam eine besonders schwere See herangerollt. Mit dumpfem Brausen brachen die grünen Wassermassen auf mich herein und ich mußte mich krampfhaft festhalten, um nicht kopfüber in die Tiefe gerissen zu werden. Sekundenlang hörte ich um mich nur das dumpfe Sausen und Brausen der vorüberrauschenden Wasser, bis der Baum wieder mit einem Ruck weit aus dem Wasser schoß und ich zu meiner eigenen Verwunderung wieder das Tageslicht um mich sah.
Ja, kein Zweifel: ich lebte noch! Aber wo war der kleine Tex geblieben? Der Gedanke war noch nicht ausgedacht, als meine Augen auf den armen Jungen fielen, wie er, schon weit achteraus getrieben, mit verzweifelter Anstrengung gegen die Wellen ankämpfte. Nur einen Augenblick habe ich das Bild vor mir gesehen, aber nie werde ich es wieder vergessen – die Hände, wie sie verzweiflungsvoll in die Leere griffen, und das bleiche, schreckensstarre Gesicht, das mich verfolgen wird bis an das Ende meiner Tage.
»Mann über Bord!« schrie ich mit äußerster Kraft.
»Mann über Bord!« Blitzschnell pflanzte er sich fort, der schaurigste Ruf im Leben des Seemanns.
Es gab eine große Aufregung. Alles rannte wild durcheinander, aber, um es gleich zu sagen: wir haben den armen Menschen nicht wieder gesehen. Die See ging viel zu hoch, um ein Rettungswerk mit Erfolg in Gang zu setzen. – –
Das traurige Ereignis machte uns alle womöglich noch mißmutiger und mutloser wie zuvor. Wenn es uns auch bisher nicht am besten gegangen war, so war uns doch das Schlimmste erspart geblieben, aber nun hatte plötzlich der Tod sein unheimliches Gesicht unter uns gezeigt. Ein junges Menschenleben war vor unseren Augen weggerissen worden in das Grab, das der »alte Mörder Ozean« stets für alle Seeleute bereit hält. Ja, das Walfischfangen war am Ende doch eine ganz verteufelt ernste Sache!
Indes, Seeleute, auch die neugebackenen, pflegen nicht lange über Dinge nachzugrübeln, die doch nicht mehr zu ändern sind, und so war der arme Tex mitsamt seinem bösen Schicksal gar bald vergessen und alles ging wieder seinen alten Lauf, als ob der arme Kerl niemals an Bord gewesen wäre.
Die wütende See schien nur auf dieses eine Opfer gewartet zu haben, denn noch an demselben Tage begann der Wind abzuflauen und ging in eine stetige Brise aus Südwesten über, vor der wir in schneller Fahrt davoneilten.
Bald kamen die Aleuten oder Fuchsinseln in Sicht, eine langgestreckte Inselkette, die zwischen Alaska und der Halbinsel Kamtschatka einen Bindestrich zwischen Amerika und Asien und zugleich eine Trennungslinie zwischen dem Beringmeer und dem großen Pazifik darstellen.
Fast konnte ich es nicht fassen, daß das kleine, dunkle Wölkchen dort draußen über dem nördlichen Horizont wirklich Land war. Land! Ich hatte in den letzten Wochen, die wie eine Ewigkeit hinter mir lagen, beinahe den Glauben daran verloren. Wie tagaus, tagein in gleichmäßigem Wechsel die Sonne und die Gestirne über der Wasserwüste leuchteten, da wollte es mir scheinen, als ob sie endlos wäre wie das Firmament, das sich darüber wölbte.
Bald stieg das Land höher aus den Fluten, nahm feste Gestalt und scharfe Umrisse an. Ein rauhes, unwirtliches Land mit tief einschneidenden Fjorden, schwarzen Felsenwänden, die jäh zum Himmel abstürzten, und steilen Vulkankegeln, um deren Gipfel die bläulichen Rauchwolken hingen.
Durch einen dieser Fjorde gelangten wir nach dem Städtchen Dutch Harbour, das wir ohne anzulaufen passierten, und schließlich nach dem unweit davon liegenden Orte Unalaska, wo wir vor Anker gingen. Mitten in dieser einzigartigen Berglandschaft und fast erdrückt von ihrer gewaltigen Masse, liegt der kleine, weltverlassene Hafen. Die kleine Bai ist fast ganz von Land umschlossen. Das Wasser ist stets still und glatt wie das eines Sees, und himmelhohe Berge spiegeln sich in den klaren Fluten. Man glaubt sich nach einem Gebirgssee in den Alpen versetzt.
Infolge dieser Weltentrücktheit hat der Ort bis heute seinen ursprünglichen Charakter bewahrt. Das Äußere sowie Sprache und Sitten der Einwohner sind russisch, und die kleine Kirche hat die typische Spitzkugel der griechisch-katholischen Gotteshäuser, gekrönt von dem doppelten St.-Georgs-Kreuz.
Trotz der wenig verlockenden Auskünfte zog es mich doch mit tausend Fäden hinüber nach den rauhen Schneebergen. Hier wollte ich mein Glück versuchen, fortlaufen, komme, was da wolle! In meiner Naivität hoffte ich sogar auf Landurlaub! Aber unser Kapitän verstand die Gefühle, die seine Mannschaft bei der ersten Landung erfüllen mußten! Kaum war Anker geworfen, als die Bootsteurer mit geladenen Gewehren auf Wache kommandiert wurden mit dem strengen Befehl, jeden niederzuschießen, der desertieren wollte. »And shoot to kill!« (Schieße, um zu töten!) hatte der Kapitän ausdrücklich hinzugefügt.
An jenem Abend war ich sehr niedergeschlagen, denn jetzt erst kam mir deutlich zum Bewußtsein, welch' böse Suppe ich mir in meinem Leichtsinn eingebrockt hatte.
Der Tag war noch kaum angebrochen, als wir am nächsten Morgen die Weiterreise antraten. Ein dicker Nebelschleier malte alles Grau in Grau. Und ebenso grau wie draußen die Natur war auch die Stimmung an Bord des »Bowhead«, wenigstens was uns Grünhörner anbelangte. Wir hatten einen einheimischen Lotsen an Bord, denn es gehört die genaueste Kenntnis jener tückischen Gewässer dazu, um ein Schiff, zumal bei Nebel, an den verborgenen Klippen und Riffen vorbeizumanövrieren.
Als die Morgensonne den Nebel zu zerreißen begann, lag die Bai von Unalaska bereits hinter uns, und wir segelten durch die Unimackstraße, die in der Inselflur der Aleuten das Eingangstor vom Pazifik nach dem Beringmeer bildet.
Gegen Abend hatten wir das Ende der Straße erreicht. Eine matte, schmutzigrote Abenddämmerung lag über dem nordwestlichen Horizont. Das Wasser hatte eine harte, stahlgraue Farbe, finster und abschreckend. Mir ahnte nichts Gutes, als der »Bowhead« seine Nase nach Nordwesten richtete, gerade hinein in dieses ferne, geheimnisvolle Meer, der sinkenden Sonne entgegen.
Nachdem wir aus dem Lee des Landes herausgelangt waren, setzte eine kräftige Brise aus Südosten ein, die die Segel tüchtig füllte und die kleine Bark mit der für einen Walfischfänger geradezu unerhörten Geschwindigkeit von acht bis neun Seemeilen vorwärts trug. Die Temperatur wurde immer niedriger, die Luft wurde dick, und der Himmel nahm eine grau-melancholische Färbung an. Dies alles deutete auf die Nähe von Eis und – von Walfischen. Wir waren am äußersten Rand der südlichen Fanggründe für Grönlandwale angelangt. Jeden Augenblick konnte ein »Fisch in Sicht« kommen, und allenthalben wurde mit Hochdruck gearbeitet, um alles für seinen Empfang vorzubereiten. Die Vorbramrahe wurde an Deck heruntergesandt, um Platz für das »Krähennest« zu machen – eine enge Plattform, umgeben von einem mit Segeltuch bekleideten Holzgeländer. Der Laie würde diese Vorrichtung als Mastkorb bezeichnen. Von diesem luftigen Standort wurde von nun an scharfer Ausguck nach Walfischen gehalten, und auch die Augen der nicht auf Ausguck befindlichen Leute waren nicht müßig, denn, abgesehen von der Ehre, winkte auch noch eine ganze Kiste Tabak als Belohnung für den, der den ersten Walfisch erspähte.
Nachdem das »Krähennest« errichtet war, wurde die Ausrüstung der Boote überholt. Wir führten deren fünf an den Davits und außerdem zwei zur Reserve, die mittschiffs über dem Haus angelascht waren. Sie sind außerordentlich flink und seetüchtig, und in den Händen geschickter Führer, wie jene alten Walfischfänger, vermögen sie jeder See zu trotzen; sie haben eine Länge von 30 Fuß und laufen nach beiden Enden spitz zu. Diese Boote sind der Stolz des Walfischfängers und eine nie versiegende Quelle von Eifersüchteleien, denn jede Mannschaft hält ihr eigenes für ein Muster von Schnelligkeit, Eleganz und aller guten Eigenschaften, während die übrigen vier durch eine siebenmal kritische Brille betrachtet werden.
Zunächst wurde nun die Walfischleine – eine lange Jolle aus bestem Manilahanf – an Deck gebracht. Jedem einzelnen Boot wurden 700 Meter, auf dem Boden in zwei Behältern sorgfältig aufgeschossen, zugeteilt. Dann wurden die Widerhaken der Harpunen, der sogenannten »Eisen«, geschliffen bis zur Schärfe eines Rasiermessers und die tödliche Bombe an dem langen Schaft befestigt. Dann kamen die Lanzen an die Reihe, dünne, mit einer haarscharfen Spitze versehene Speere von etwa 1,5 Meter Länge. Sie sind, ebenso wie die Harpunen, an einem Holzschaft befestigt. Nach dem Wurfe werden sie an einer Leine zurückgezogen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in den heroischen Zeiten des Walfischfangs, hat man die Walfische ausschließlich auf diese primitive Weise »gelanzt«, aber mittlerweile ist dieses Mordwerkzeug etwas aus der Mode gekommen. Es ist von dem Schultergewehr verdrängt worden, einem unförmlichen Instrument, das ganz gefährlich aussieht und lebhaft an die plumpen Musketen von Anno dazumal erinnert; tatsächlich ist es auch gefährlich, und zwar für den Schützen nicht minder als für den Walfisch, weil es ihm durch den gewaltigen Rückschlag unter Umständen alle Knochen im Leibe zerschlagen kann. Man greift daher nur im äußersten Notfall zu dem verhaßten Ding. Weitere Ausrüstungsgegenstände sind die fünf Riemen von je 3 bis 5 Meter Länge, der Steuerriemen, der Mast, das für die Größenverhältnisse des Bootes geradezu gewaltige Großsegel, das viel kleinere Sturmsegel, ferner eine Laterne, ein Kompaß, eine Kiste Biskuits, ein Fäßchen Wasser, wie es sich in jedem Rettungsboot findet oder wenigstens finden sollte, und nicht zuletzt der wheft, die Signalflagge.
Während dieser kriegerischen Vorbereitungen waren wir mit jedem Tag weiter ins Beringmeer eingedrungen, und schon begann die Nähe des Eismeers sich bemerkbar zu machen. Kalt und rauh waren die Nächte mit unnatürlich hellem, flimmerndem Sternenlicht, und wenn des Morgens die Sonne wieder aus der endlosen Wasserfläche herauf kam, da brach sich ihr Licht jedesmal an dem blendend weißen Kleid von Rauhreif, das die Natur während der Nacht wie Zuckerguß über das Tauwerk gestreut hatte. Aber schwächer und schwächer wurden diese wärmenden Sonnenstrahlen mit jedem Tage. Alles hüllte sich mehr und mehr in die dicke, dunstige, stahlgraue Atmosphäre des Eismeers. Das Wasser nahm eine tintenschwarze Färbung an. Die hohe Dünung, die uns draußen im Stillen Ozean so erbarmungslos umhergeworfen hatte, hatte sich gelegt, und die See war so ruhig und oft so spiegelglatt wie die Wasserfläche in einem kleinen, stillen Binnensee. Das alles deutete auf die Nähe von Eis.
Eis! Der Himmel weiß, mit welcher Ungeduld ich in jenen Tagen darauf gewartet habe! Im Stillen fing ich schon an zu befürchten, daß wir schließlich mit Schimpf und Schande nach San Franzisko zurückkehren müßten, ohne etwas davon gesehen zu haben. Wer weiß: ich war immer ein Pechvogel gewesen.
»Nur Geduld,« pflegte der alte Nick zu sagen, »du wirst noch Eis genug zu sehen bekommen, und mehr davon als dir lieb ist.«
Und über Nacht war es wirklich aufgetaucht, das Eis! Ich lag gerade in meiner Koje und dachte an nichts Böses, als ich durch einen dumpfen, knirschenden Laut dicht neben dem Ohr aus dem Schlaf aufgeschreckt wurde. Im ersten Schrecken glaubte ich nichts anders, als daß wir auf eine Sandbank oder gar auf ein verborgenes Riff aufgelaufen wären und stürzte Hals über Kopf an Deck, um den Schaden zu besehen.
Ja, da war es nun wirklich! Mitten durch ein Feld von losem Eis ging unser Kurs. Ringsum, so weit das Auge reichte, war das Meer bedeckt mit unzähligen Schollen. Lange schaute ich an jenem Morgen über die Reling hinweg und freute mich des ungewohnten Anblicks; verwundert hörte ich auf das Knirschen und Krachen der Eisschollen, die vor dem Bug des vorwärtseilenden Schiffes zerbrachen, und auf die eintönigen Ruderkommandos des Mr. Johnson, der vorn auf der Back den Eislotsen spielte.
Plötzlich wurde dieser Gewaltige meiner ansichtig.
»Was treibst du dich hier an Deck herum, wenn du Freiwache hast?« fuhr er mich an mit einer Stimme, die aber nun gar nichts Einförmiges mehr an sich hatte, »mach daß du zur Koje kommst, du Unglücksrabe! Du bist wohl der Jonas, der uns diese ganze Geschichte auf den Hals gehetzt hat.«
Nun, nachdem wir das Eis angetroffen, sollte es endlich ernst werden mit dem Walfischfang, denn gerade das zerstreute Treibeis, das sich gleichsam als Vorhut vor die schwere Masse des Packeises legt, ist der bevorzugte Aufenthalt des Walfisches. Aber, wiewohl die Portugiesen ihre scharfen Habichtaugen nach allen Seiten schweifen ließen, war doch nirgends in der weiten Runde der kleinste Spaut zu entdecken. Das wirkte sehr niederschlagend auf alle Mann an Bord. Johnny Cook zeigte eine finstere Miene und schritt täglich viele Stunden lang mit mindestens fünf Meilen Fahrt auf dem Achterdeck auf und ab, um seinem täglich mehr in Wallung gebrachten Temperament die nötige Ablenkung zu verschaffen. Und gar erst Mr. Johnsons harte Züge waren völlig zu Essig geworden.
Denn nun war kein Zweifel mehr möglich – irgend ein Unglücksrabe, ein Jonas, mußte an Bord sein, der das Schiff mitsamt den Walfischen verhext, total verhext hatte! Es handelte sich nur noch darum, festzustellen, auf welchen armen Sünder man dieses Odium abwälzen sollte. Inzwischen ließ man uns der Sicherheit wegen alle dafür büßen. Die Disziplin wurde womöglich noch strenger gehandhabt wie vorher und all die kleinen Arbeiten, mit denen man uns bisher drangsaliert hatte, wurden mit fieberhafter Hast betrieben, als ob der Erfolg der Reise davon abhinge.
In einer frostigen, winterlichen Nacht fanden wir uns jedoch plötzlich von schweren Eismassen eingeschlossen, und nirgendwo in der weiten Runde war ein Tropfen offenen Wassers zu sehen. Es war ein gar sonderbarer Anblick, das einsame Schiff inmitten der endlosen Eiswüste. Ringsum nur die weiße, scheinende Fläche, und darüber der schwarze Mantel des endlosen Firmaments, von dem die zahllosen Sterne in übernatürlich hellem Glanze wie funkelnde Edelsteine herunterschauten.
Wie still hier alles war! Wie unnatürlich rein und klar die Luft! Keine Wolke stand am Himmel. Und dennoch wurde die Aufmerksamkeit des Auges immer wieder gefesselt durch ein eigentümlich wolkenartiges Etwas, das unruhig und unstet wie ein böses Gewissen über den Himmel hin huschte. Bald zog es sich weithin durch den dunklen Raum, als ein breites, scheinendes Land, bald war es nur von ferne sichtbar wie ein silbernes Wölkchen, bald war es wieder spurlos verschwunden, als ob es niemals dagewesen wäre.
»Was wird's denn sein?« brummte der Bootsteurer, den ich auf die Erscheinung aufmerksam machte, »ein Nordlicht ist's, du Grünhorn!«
Wahrhaftig! Das Nordlicht! Daß ich auch nicht von selbst darauf gekommen war! So waren wir also angelangt im Lande der Mitternachtsonne!
Wohl zehn Tage lang trieben wir so als Gefangene des Eises im Beringmeer umher, bis eines Tages eine starke Brise aus Südwesten aufkam, die das Eis auseinandertrieb, so daß sich bald zahlreiche Rinnen bildeten, die die weiße Fläche nach allen Richtungen wie blaue Adern durchzogen. Nun hieß es die Gelegenheit wahrnehmen und durch den Irrgarten der Rinnen (leads nennt sie der Eismeerfischer) einen Weg aus dem Eisgefängnis zu suchen. Da besann sich der alte »Bowhead« plötzlich darauf, daß er zu diesem Zweck eine Dampfmaschine besaß. Schon qualmte der Schornstein, und die Schraube wühlte ungeduldig im Wasser. Dann ging es mit Volldampf vorwärts gegen die Eisbrücke, die den Weg nach der nächsten Rinne versperrte. Mit einem Krachen, das das Schiff in Stücke zu zerreißen schien, rannte es gegen das Hintereis und schob mit eigensinniger Wut die losen Stücke beiseite. Nach diesem wirkungsvollen Auftakt begann ein hartnäckiger, tagelanger Kampf mit den heimtückischen Mächten des Eismeers.
Das ist ein anderes Fahren, wie draußen in der großen Einsamkeit der hohen See. Während dort nur ab und zu eine unternehmende Seemöve für Abwechslung sorgt, ist hier zwischen den Eisschollen kein Mangel an allerlei Getier. Zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht macht sich der Seehund unangenehm bemerkbar durch seinen unheimlichen, durchdringenden Schrei, der sich anhört wie klägliches Kinderweinen. Weit seltener wie die Seehunde sind die Walrosse. Sie sind sehr gesellig und liegen gern in großen Schulen auf den Eisschollen, wo sie ihre ungeschlachten Körper in aller Ruhe und Beschaulichkeit von der Sonne bescheinen lassen. An ihrer dunklen Haut, die sich scharf von der weißen Fläche abhebt, sind sie schon aus größerer Entfernung leicht erkennbar, aber dennoch glückt es nur sehr selten, sie mit Muße aus der Nähe zu betrachten. Denn sie haben ständig Wachposten aufgestellt, auf deren Warnungssignal sie sich alle kopfüber ins Wasser stürzen, nachdem sie vorher ihre Jungen in ihrem breiten Maul hinter den Stoßzähnen in Sicherheit gebracht haben.
Für jedermann an Bord war es eine Erlösung, als wir einige Tage später dunkles Wasser um uns sahen und der brave »Bowhead« wieder mit vollen Segeln seine Reise nach Norden in die graue Wildnis fortsetzen konnte.
Nicht lange darnach tauchte am nördlichen Horizont die wilde, unwirtliche Küste der Sankt-Lorenz-Insel auf, die sich wie ein Riegel quer vor den Südeingang der Beringstraße schiebt. Je näher wir der Insel kamen, desto mehr verbreitete sich unter den Bootsteurern eine Atmosphäre freudiger Erwartung. Sie alle hatten auf früheren Reisen schon einmal vor jener Insel gelegen und dabei ein mehr oder minder großes Stück ihres Herzens an eine dort ansässige Eskimoschöne verloren. Nun winkte nach dieser »langen Trennung bitterem Schmerz« ein frohes Wiedersehen.
Schon waren wir unter dem Lee des Landes angelangt, und fuhren eine Weile dicht an der Küste entlang, so daß wir es mit Muße betrachten konnten.
Wie öde und traurig es aussah! Wie finster und abschreckend! Kein Baum, kein Strauch war an den steilen Abhängen zu erkennen. Überall nur nacktes Erdreich, das stellenweise von einer dünnen Schicht von Moosen und Flechten überzogen war. In den tiefen, steil nach dem Meer abfallenden Rinnen und Talsenkungen lagen aber noch immer große Schneemassen, mit denen auch die Sonne dieser letzten Maitage nicht fertig zu werden vermochte.
Voller Erwartung segelten wir entlang des Landes in westlicher Richtung, ohne daß sich vorerst etwas Bemerkenswertes ereignete. Schon begann ich zu glauben, daß die Bootsteurer uns zum Besten halten wollten, als eine niedrige, weit ins Meer hinausragende Sandbank am Fuße eines steilen Kaps in Sicht kam. Bei näherem Herankommen war zu erkennen, daß sie mit Hütten und Zelten bedeckt war, und deutlich konnte man auch mit dem bloßen Auge die Wahrnehmung machen, daß sich mehrere dunkle Punkte vom Lande loslösten, die mit pfeilschneller Geschwindigkeit heranschossen und sich bald als eine Anzahl großer, flachbodiger Kanoes herausstellten, die bis zur äußersten Grenze ihres Fassungsvermögens gefüllt waren mit bunt gekleideten Menschen. Schon von weitem konnte man sehen, wie sie mit gleichmäßigen Stößen der Paddels die Boote durchs Wasser trieben und deutlich hörte man, wie sie sich dabei ermunternd einander zuriefen: »Gu–Gu–u–u!«
Im Nu waren sie langseit und kletterten ohne weitere Zeremonien an Bord. Es war eine abenteuerliche Gesellschaft. Richtige, waschechte Eskimos mit kupferbraunen, fettglänzenden Gesichtern, mit kleinen, verschmitzt dreinschauenden Schlitzaugen und einem breiten, häßlichen Mund, der auch dadurch nicht an Schönheit gewann, daß er mit zwei zu beiden Seiten durch die Unterlippe gesteckten Steinen »verziert« war. Die rabenschwarzen Haare trugen sie gerade ins Gesicht gekämmt, und auf dem Hinterkopf eine Tonsur, die ihnen einigermaßen das Aussehen von Klosterbrüdern verlieh. Phantastisch waren sie aufgeputzt, mit Gewändern aus Renntier-, Seehund-, Fuchs-, Wolfs-, Hunde- und Bärenfell, oder gar aus Entenfedern. Einer von den sonderbaren Heiligen, der eben über die Back an Deck gesprungen war, kam auf mich zu mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum andern ging. Mit viel Grandezza reichte er mir die Hand und sagte dazu: »Good morning, allright, thank you, god damm, good night.« Offenbar sein ganzes englisches Vokabularium. Aus solcher Rede konnte ich begreiflicherweise weder Kopf noch Fuß machen, aber der zufällig dabeistehende Schneeball half mir aus der Verlegenheit.
»So sei doch kein Geizhals, und gib ihm ein Pfund Tabak, wenn er dich darum bittet!« fuhr er mich an.
Kaum war dieser Bittsteller zufriedengestellt, als eine alte Dame, die ein kleines Baby in der Kaputze ihres langen Renntierrockes trug, mich mit Beschlag belegte.
»Tabak bschuktu,« sagte sie mit nicht mißzuverstehenden Gebärden auf eine unendlich lange, mit einem unsagbar winzigen Köpfchen versehene Tabakspfeife. Auch sie bekam ein Stückchen von dem schwarzen Plattentabak, wofür sie mit breitem Grinsen quittierte. Mit Hilfe von Schwamm und Feuerstein hatte sie bald das unförmliche Ding in Gang gebracht. »Naguruk!,« sagte sie dann mit einem grunzenden Laut der Befriedigung.
Mit einem der Boote, die ununterbrochen zwischen dem Schiff und dem Lande hin- und herfuhren, kam auch ein Portugiese an Bord. Eine der groteskesten Persönlichkeiten, die ich je gesehen habe. Der lebendige darwinische Beweis. Er war noch länger wie Mr. Johnson, und womöglich noch dürrer. Er hatte große Hände und unendlich lange Arme. Er trug einen enganliegenden Anzug aus Seehundsfell mit einer, von einem wild zerzausten Wolfsfell eingesäumten, Kapuze, aus der ein dunkles, knochiges Gesicht mit schwarzen, funkelnden Raubtieraugen hervorschaute. Das war Sam, der berühmte Sam, von dessen Heldentaten ich zuvor schon mancherlei gehört hatte, denn er galt als einer der geschicktesten und kühnsten in der Zunft der Bootsteurer. Nun war er an Bord gekommen, um sich nach einem Schiff und vor allem nach einer ordentlichen Mahlzeit umzusehen, denn er hatte auf der St.-Lorenz-Insel überwintert, und dabei grausamen Hunger gelitten.
Johnny Cook war das gerade recht, und er sparte keine Mühe, um dieses Neuntagewunder zum Bleiben zu bewegen. So kam es, daß Sam als Bootsteurer anmusterte und unserer Bootsmannschaft zugeteilt wurde. Ich muß ein dummes Gesicht gemacht haben, als ich davon hörte, denn Sam hatte gleich meine Gedanken gelesen.
»Hast du etwas dagegen, du Grünhorn?« brüllte er mich an mit einer Stimme, die in Schneeballs Kombüse die Pfannen rasseln machte, »dir werde ich das Nötige schon beibringen, du naseweises Affengesicht. Bei mir hast du nichts zu lachen!«