Kurt Faber
Unter Eskimos und Walfischfängern
Kurt Faber

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Winternacht auf der Herschelinsel

Wir werden wieder zu Landratten. – Winterarbeit. – Das kostbare Trinkwasser. – Ein Kapitel über Schlittenhunde. – Beginn der Winternacht. – Barbarische Kälte. – Besuch im Schneehaus. – Traurige Weihnachten. – Der stimmungsvolle Kirchhof.

Wie überall auf der Erde, so ist auch im Eismeer die Zeit der Tag- und Nachtgleiche die Zeit der Stürme. Und fast schien es, als ob sie in diesem Jahre zu ihrem gewohnten Ungestüm noch ein Übriges tun wollte. Während des ganzen Monats September heulten die Stürme bald aus Nordwest, bald aus Nordost und begruben alles ringsum tiefer und tiefer in dem weißen Schnee.

Aber das schlechte Wetter durfte uns in unserer Arbeit nicht aufhalten, denn es galt, das Schiff für die Winternacht herzurichten, ehe uns die große Kälte daran verhinderte. Zunächst mußte das Deckhaus errichtet werden, ein aus mitgebrachten Brettern roh gezimmertes Haus, das von der Back bis zum Achterdeck über das ganze Großdeck reichte. Es war natürlich nur eine notdürftige Behausung, die einen gewissen Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee gewähren sollte. Das Dach bestand aus den großen Segeln, die über den nach vorn geschafften Besanbaum gespannt waren. Wenige Tage nach dem Einfrieren des Schiffes war diese Arbeit beendet, und wir konnten nun an die eigentliche Winterarbeit denken.

Es war an einem trüben, rauhen Oktobertage, als die ganze Mannschaft, wohlausgerüstet mit großen, ungeschlachten Sägen und mit den langstieligen »Gaffhooks«, die man beim Zerlegen des Walfisches gebraucht, über Land zog. Wieder einmal tappte ich blindlings hinter der Herde her und wunderte mich, was man wohl jetzt mit mir anfangen würde. Zunächst erstiegen wir eine im Hintergrund der Bai gelegene Anhöhe. Es kostete manchen Schweißtropfen, bis alle oben angelangt waren, denn der Berg war steil und die Seebeine revoltierten energisch gegen die ungewohnte Zumutung. Nachdem alle Nachzügler angekommen waren, ging es weiter querfeldein durch den knietiefen Schnee, bis wir die glatte Eisfläche eines großen Teichs erreichten. Das war unser Ziel. Hier sollten wir das Trinkwassereis für den Winter schneiden. Wir machten uns mit Feuereifer an die Arbeit, denn Mr. Johnson, der die Aufsicht führte, hatte nicht verfehlt, uns gleich am Anfang auseinanderzusetzen, daß er nicht vom Platze weichen wollte, ehe der ganze Vorrat geschnitten und an Land geholt wäre. Und wir wußten, daß Mr. Johnson ein solches Gelübde nicht um der bloßen Rede willen abzulegen pflegte. Dort oben kam mir zum erstenmal zum Bewußtsein, was es bedeutet, in der eisigen Kälte eines arktischen Wintertages eine schwere Arbeit zu verrichten. Die Temperatur – es mochten wohl zwanzig Grad unter Null gewesen sein – war erbärmlich rauh, und die leichte Brise, die bald aus Norden, bald aus Nordosten wehte, machte die Kälte nur noch fühlbarer.

War es schon eine Arbeit, die bereits zwei Fuß dicke Eisdecke zu durchsägen, so war dies doch ein Kinderspiel im Vergleich zu der Mühe, die es verursachte, die Stücke herauszufischen und am Ufer aufzustapeln. Die »Gaffhooks«, die man dazu verwendete, waren bald nur noch ein dicker Eisklumpen. Wir vollbrachten ein großes Tagewerk. Mr. Johnson machte beinahe eine befriedigte Miene, als seine kleinen, grünen Augen über die mit der Kante nebeneinander aufgestellten Eisstücke wanderten, die wie eine lange, dunkle Reihe Soldaten in der weißen, mondbeschienenen Landschaft dastanden. Er meinte auch etwas mürrisch, daß wir heute nicht ganz so faul und nichtsnutzig wie sonst gewesen seien – die höchste Skala des Lobes, zu der der Gestrenge sich aufzuschwingen vermochte. Bei völliger Dunkelheit erreichten wir endlich wieder das Schiff.

Von jetzt ab begann das regelrechte Winterleben. Über unsere seemännische Vergangenheit war der Schwamm gegangen, und wir hatten uns wieder in richtige Landratten mit einem geregelten Arbeitspensum verwandelt. Die Disziplin wurde selbst in den dunkelsten Tagen stets auf einem hohen Grad der Vollkommenheit gehalten. Und das war gut so, denn wer wollte durch all die langen, gleichmäßig dahinfließenden Monate, ohne die geringste Anregung von außen, seine Gemütsruhe bewahren, wenn ihm nicht die Rettung in Gestalt einer geregelten Tätigkeit zur Seite stünde! Und dann ist die körperliche Arbeit auch das einzige wirksame Gegenmittel gegen die schlimmste Geißel aller Eismeerfahrer: den Skorbut. Wohl liegt der erste Keim dieser entsetzlichen Krankheit in dem Mangel an frischen Nahrungsmitteln, aber einen günstigen Nährboden findet sie nur in dem stagnierenden Blut eines durch ungenügende Tätigkeit erschlafften Körpers.

Und die umgebenden Umstände sorgten während des ganzen Winters für die nötige Tätigkeit. Für jemand, bei dem die Trinkwasserfrage zeitlebens mit dem Gang zum Wasserhahn erledigt ist, klingt es fast unglaublich, daß fast alle unsere laufenden Arbeiten in den Winterquartieren sich allein um diese Frage drehten. Nicht weniger als sechzehn Mann wurden der »Eismannschaft« zugeteilt. Sie hatten weiter nichts zu tun, als täglich zweimal den großen Schlitten über die Hügel nach dem fernen Eissee zu ziehen und von dort im Laufe der Zeit das Frischwassereis, das wir an jenem kalten Oktobertag geschnitten hatten, nach dem Schiff zu bringen. Alle übrige Arbeit an Bord oder in der Umgebung des Schiffes war der »Schiffsmannschaft« vorbehalten. Es war weder eine Ehre, noch ein Vergnügen, zu diesem letztgenannten Teil der Besatzung zu gehören, und darum setzte sie sich zusammen aus denen, die keine Gnade fanden vor den Augen der gestrengen Vorgesetzten. Selbstverständlich befand sich auch meine Wenigkeit darunter, nebst dem anderen Deutschen – man hatte uns das Abenteuer in der Beringstraße nicht vergessen. Als dritter gehörte dazu ein durchtriebener Jüngling namens John aus Boston und zwei Eskimos, die wir Jack und Joe getauft hatten. Wir waren die »Mädchen für alles«, und man verwendete uns zu den unglaublichsten Arbeiten.

Unsere erste Aufgabe war, das Schiff mit einem Schneewall zu umgeben. Die Sache war durchaus nicht so einfach, wie man annehmen sollte. Es vergingen Wochen, ehe wir damit fertig waren. Da die umgebenden Schneebänke, aus denen das Rohmaterial gewonnen wird, stets hart gefroren sind, müssen sie mit der Säge bearbeitet und der Schnee in Würfeln von etwa einem Kubikmeter Größe nach dem Schiff gebracht werden, wo diese von einem als Architekt abkommandierten Bootsteurer geformt und beschnitten, und dann in kunstgerechter Weise längs der Schiffsseite aufgebaut werden. In dieser Weise wird allmählich rings um das Schiff ein etwa zwei Meter dicker Wall aufgeschichtet, der bis zur Höhe des Hausdachs reicht. Mittschiffs führt ein breites, mit Schneemauern eingesäumtes Portal nach dem Innern der Festung. Denn wie eine Festung steht das Ganze da, wenigstens solange der treibende Schnee die festen Umrisse des künstlichen Baues noch nicht verwischt hat. Eine Märchenfestung aus Eis und Schnee. Anfang November war diese Arbeit beendet, und nun mochten unsertwegen die Winterstürme heranbrausen und ihre ohnmächtige Wut an den Masten und Rahen, Ketten und Tauen der hohen Takelage ausheulen! Wir waren gerüstet für ihr Erscheinen.

Man sollte meinen, daß die Temperatur auf einem derartig eingehausten Verdeck auf eine ganz behagliche Höhe steigen würde. Doch das war durchaus nicht der Fall; vielmehr herrschte dort während des ganzen Winters eine barbarische Kälte. Alles war hart und steif gefroren, und Dach und Wände waren mit einer dicken Reifschicht überzogen, bei deren Anblick es mich jedesmal mit einer Gänsehaut überlief. Nur der durch eine Bretterwand abgeteilte Achterteil des Deckhauses, von der Mitte der Großluke bis zum Rande des Achterdecks, war bewohnbar. Das war der »Bullroom«, der Salon des Schiffes. Hier hausten Steuerleute und Bootsteurer und andere Götter und Halbgötter aus dem Achterteile. Hier saßen Sam und Schneeball beim warmen Ofen und spannen lange Garne mit bedächtig abgewogenen Worten. Zuweilen dröhnte dort auch die sonore Stimme des Kapitäns, gleich dem Brüllen des Löwen unter der Schar der geängstigten Lämmer. Den sonderbaren Namen Bullroom – eine Verunstaltung des Wortes »boilroom« – hatte der Raum deshalb erhalten, weil hier das Frischwassereis geschmolzen wurde. In der Mitte waren zwei mächtige, aus leeren Petroleumtanks hergestellte Kessel aufgestellt, unter denen Tag und Nacht ein wohlgenährtes Feuer brannte. In dem einen Kessel wurde Eis zu Koch- und Trinkwasserzwecken geschmolzen, während in dem anderen das als Waschwasser dienende Schneewasser hergestellt wurde.

Geradezu ungeheuerlich war der Holzverbrauch dieser beiden Öfen, und es stellte sich bald heraus, daß der mitgebrachte Vorrat auch nicht annähernd imstande war, ihrem gesunden Appetit gerecht zu werden. Von nun ab wurde jeden Tag ein Hundeschlitten nach der Lagune geschickt, von wo wir im Herbst, kurz vor dem Einfrieren, die Holzladung an Bord gebracht hatten. Diese Schlittenpartien, die immer von einem Eskimo und einem Weißen begleitet werden mußten, waren nichts weniger als populär, denn der Holzplatz lag reichlich fünfzehn englische Meilen entfernt, was bei Hin- und Rückweg schon eine ganz ansehnliche Leistung war, ganz abgesehen davon, daß an Ort und Stelle das Holz erst mühsam unter dem Schnee hervorgeholt werden mußte.

Von Rechts wegen sollte jedermann der Besatzung der Reihe nach mit dem Schlitten gehen, aber da gewöhnlich niemand wußte, an wem die Reihe war, so mußte Mr. Johnson ein Machtwort fällen, das dann immer zuungunsten derer ausfiel, die er am meisten liebte. So kam es, daß ich im Laufe des Winters sehr, sehr oft nach dem Holzplatz an der Lagune wandern mußte. Und ich ging nicht ungern. Es war eine Erlösung, für ein paar Stunden das verwünschte Schiff nicht mehr sehen zu müssen. Dafür nahm ich die Mehrarbeit gern in Kauf. Bei stillem Wetter war es sogar ein Genuß. Dann zündeten wir aus den trockenen Reisern dort draußen ein lustiges Feuer an und schauten den knisternden Flammen zu, wie sie in die stille, frostige Winternacht hinausleuchteten, und der Eskimo pflegte dann allerlei zu erzählen in seinem merkwürdigen Mischmasch von Eskimo und Pidgin-Englisch. Ein eigentümlicher Reiz liegt in solchen Erlebnissen.

Es kamen auch Tage, die weniger beschaulich verliefen, Tage, an denen der Westwind wehte und man jeden Schritt des Weges gegen die schneidende Brise und den treibenden Schnee erkämpfen mußte. Und es gab Tage, an denen die Schlittenhunde außer Rand und Band waren und keine Peitsche die Autorität wieder herzustellen vermochte. Wir hatten über 50 Hunde an Bord; zum Teil wahre Prachtexemplare. Aber gerade diese letzteren waren den Eskimos abgegeben worden, die im Auftrage des Kapitäns auf die Jagd gingen, oder sie befanden sich mit den größeren Schlitten auf der Reise nach dem Inland, um das erbeutete Renntierfleisch nach dem Schiff zu bringen. So blieb nur eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft von ausrangierten Kötern zurück, eine Art Hundespital, aus dem wir täglich die zehn bis zwölf brauchbarsten Exemplare heraussuchten. Alle hatten ihre scharf ausgeprägte Eigenart, und nur in einem Punkt stimmten sie alle überein – in ihrem unüberwindlichen Widerwillen vor dem Holzschlitten. Sobald dieses Marterwerkzeug vor dem Schiff aufgefahren wurde, gab es ein allgemeines »Rette sich wer kann«. In gestrecktem Lauf rannten sie querfeldein, und nach wenigen Augenblicken war im weiten Umkreis kein Hund mehr zu sehen. Wollte man sich ihrer Dienste vergewissern, so mußte man sie schon Stunden vorher einzeln auf dem Eise fangen und im Deckhaus einsperren, aber selbst dann pflegten sie sich nicht kampflos zu ergeben.

Endlich hat man die ungebärdige Gesellschaft zu zwei und zwei an der Leine angeschirrt. »Gu, gu, Haui–i–i –i–i–!« ruft der Führer und läßt die Peitsche knallend durch die Luft sausen. Fort geht die Reise.

Doch wir sind noch nicht am Ende der Widerwärtigkeiten. Wie auf Kommando laufen mit einem Male alle Hunde über- und untereinander weg und machen aus Geschirr und Leine einen gordischen Knoten. – Oder es ist wieder einmal Muktuk, in dessen Hundegehirn es aufdämmert, daß sein Nebenhund Nammuk sich lange nicht so kräftig ins Zeug legt wie er selber. Das verdient Strafe. Flugs packt er den Sünder beim Kragen und schüttelt ihn mit viel Temperament. Das ist das Signal eines wilden Kampfes aller gegen alle. Für eine Weile sieht man nur noch einen wirren Knäuel zottiger, blutbefleckter Felle, weiße Reihen fletschender Zähne und dazwischen zahllose kleine Hundefüße, die schnell wie ein Mühlrad durcheinanderwirbeln.

Nur zwei- bis dreimal in der Woche ist Fütterung der Raubtiere. Diese Stunde kennen die armen Geschöpfe ganz genau und begrüßen sie mit einem von Minute zu Minute lauter und kläglicher werdenden Geheul. Leider steht die erhoffte Mahlzeit in keinem Verhältnis zu dem gewaltigen Aufwand an Lungenkraft. Aus einem Faß verfaulten Walfischspecks, der selbst bei der großen Kälte einen schauderhaften Gestank verbreitet, wird jedem Hund ein Stückchen von dem ekelhaften Stoff zugeworfen, das dieser, zuerst mit den Augen und dann mit dem Maul, gierig verschlingt. Kaum zwei Sekunden dauert die Mahlzeit, und die arme Seele hat wieder Ruhe für zwei bis drei Tage. Wer jetzt noch immer hungrig ist, der muß die Augen offen halten nach einer Gelegenheit zu einem Extraschmause. Und diese findet sich fast immer. Wehe dem Unvorsichtigen, der über Nacht eine Pelzjacke oder seine Stiefel im Bereich dieser Hundezähne zurückgelassen hat! Am nächsten Morgen sind sie längst den Weg alles Eßbaren gewandert.

Ganz unversehens war der Winter in aller Strenge hereingebrochen. Immer kürzer wurden die Tage, immer matter und kraftloser das Licht der Sonne, die nur noch zur Mittagszeit langsam und zögernd hinter der bläulichen Eisfläche hervorkam, die den Horizont im Südosten begrenzte. Übernatürlich groß schien der feurige Ball und blutigrot, wie das Bild eines kranken, verlöschenden Auges. Dann kam ein Novembertag, wo noch einmal um Mittag der oberste Rand der Feuerkugel über der Eisfläche auftauchte, um Abschied zu nehmen für zwei lange, lichtlose Monate. Die Winternacht hatte begonnen.

Für den, der es nicht miterlebt hat, ist es nicht möglich, sich einen richtigen Begriff davon zu machen, was man unter einer Polarnacht versteht. Sie ist durchaus nicht identisch mit dem Begriff der kohlpechrabenschwarzen Finsternis. Im Gegenteil! Wenn etwas an ihr imstande ist, dem Menschen als bleibende Erinnerung anzuhaften, so ist es das eigenartige Spiel des wechselnden Lichts. Es mag wohl die frostige Luft und die reflektierende Wirkung der grellen Schneedecke sein, die das Licht der zahllosen Gestirne so scharf und feurig erscheinen läßt. Selbst das Tageslicht war mit der Sonne noch lange nicht verschwunden. Zu Anfang der Nacht lag die Dämmerung täglich stundenlang über dem Horizont und tauchte den ganzen südlichen Himmel in glühende Farben von flammendem Rot und leuchtendem Blau, und selbst zur Zeit der Sonnenwende huschte um die Mittagsstunde ein verstohlener Streifen von fahlem Dämmerlicht durch das Dunkel der Nacht.

Ja, es ist wunderbar, das nördliche Eismeer, aber seine größten und schönsten Wunder enthüllt es nur dem, der sie mit den kalten Monaten der langen Winternacht bezahlen will.

Liegt es nicht nahe, daß der Mensch während der langen, einsamen Wintermonate auf allerlei wunderliche Ideen verfällt? So nur kann ich mir die Anziehungskraft erklären, die ein am Fuße der Landzunge steil ansteigender Hügel auf mich ausübte. Er war durchaus nicht leicht zu ersteigen, denn seine Seiten waren wild zerrissen von dem Wasser, das im Frühjahr von dem Gipfel herunterrauschte, und der lose Schnee, der über den Schluchten und Rinnen lag, hat manche verräterische Fallbrücke, in der man bei der Dunkelheit gar leicht auf immer verschwinden könnte. Trotzdem erstieg ich fast täglich nach getaner Arbeit auf einige Minuten jenen einsamen, windgepeitschten Berggipfel. »Was der Mensch nur immer dort oben will?« pflegten die Leute zu sagen. »Er ist verrückt!« sagten einige, die mit einem Urteil über anderer Menschen Wunderlichkeiten stets schnell bei der Hand sind.

Was ich dort oben suchte? Wenn ich das nur selbst gewußt hätte! Es war wohl die wunderbar feierliche Stille, die es mir angetan hatte. Dort oben herrschte ein tiefes, andächtiges Schweigen, in dem selbst die Natur voll schaudernden Staunens den Atem anzuhalten schien. Der Himmel war rein und klar. Nicht das kleinste Wölkchen, nicht der feinste Nebel wagte die kalte Schönheit der flimmernden Sterne zu trüben. Es war, als ob die Winternacht mit ihren flammenden Nordlichtern und dem geisterhaften Mondschein einen lähmenden Bann über alles Leben geworfen hätte.

In allen diesen Monaten führte die Kälte ein strenges Regiment. Die Durchschnittstemperatur während der dunkelsten Tage betrug etwa dreißig Grad unter Null, und Ende Januar ging sie unter heftigen Schwankungen von zwanzig bis dreißig Grad, nicht selten bis auf fünfzig Grad herab. Fünfzig Grad unter Null! Solche Temperatur hat Hand und Fuß. Sie verfolgt den Menschen wie ein Gespenst. Kaum ist der heiße Atem aus dem Munde, da fällt er knisternd wie Reif zu Boden. Die Augenbrauen sind im Nu weiß gepudert, und die Haare zerfilzen zu einer eisigen Kruste. Und wenn eine Brise weht, dann schneidet sie scharf wie Messer in die Haut. Hart und unerbittlich ist solche Kälte und straft die Leichtsinnigen mit erbarmungsloser Strenge. Aber sie ist auch falsch und hinterlistig. Sie überfällt den Wanderer wie der Dieb in der Nacht; sie legt sich um seine Stirn wie ein eiserner Reif; sie umgaukelt ihn mit tausend schönen Träumen, aus denen es kein Erwachen mehr gibt.

Gegen solche Kälte schützen natürlich nur die dicken, weichen Fellkleider der Eingeborenen. Mit dem Fortschreiten des Winters verschwand daher ein zivilisiertes Kleidungsstück nach dem andern, und bald war, wenigstens äußerlich, zwischen Weißen und Eskimos überhaupt kein Unterschied mehr zu bemerken. Wer gute und warme Kleider tragen wollte, der mußte sich mit den Eskimofrauen an Land gut stellen und sie stets reichlich mit Tabak versorgen.

Es war höchst interessant, den Frauen bei ihren Näharbeiten zuzusehen. Das eine Ende der zu nähenden Fellstücke wird mit den Zähnen festgehalten, die eine Hand spannt die Stücke straff, und die andere näht mit Renntiersehnen die beiden Teile Kante an Kante zusammen. Die Zähne sind überhaupt das Universalhandwerkszeug der Eskimofrau. Eine große Rolle spielen sie bei der Anfertigung der Stiefel (Kumaks). Die Winterstiefel sind aus Renntierfell und werden mit den Haaren getragen, aber das für die Sommerstiefel bestimmte Seehundfell muß mit den Zähnen so lang geschabt und geknetet werden, bis es zu einem gänzlich haarlosen, wasserdichten Leder geworden ist. Die Sohlen dieser Stiefel werden aus dem dicken Fell der Walrosse und der weißen Walfische hergestellt. Dieser zähe Stoff ist natürlich im ursprünglichen Zustand gänzlich untraktierbar und wird deshalb zuerst in einer nicht näher zu beschreibenden Flüssigkeit aufgeweicht und dann mit den Zähnen gestreckt. Bei solch ausgiebigem Gebrauch und Mißbrauch unterliegt dieses unentbehrliche Handwerkszeug naturgemäß einer schnellen Abnützung, so daß es schon in den mittleren Jahren bis auf wenige Stummel verschwunden ist. Das ist natürlich eine fatale Sache – eine »Wahini« ohne Zähne steht schon mit einem Fuß im Grabe. –

Die auf der Herschelinsel ansässigen Eingeborenen sind in ihren Gewohnheiten nicht mehr so unverfälscht wie der »wilde«, nomadenhaft umherschweifende Eskimo »vom Lande«. Sie sind »reich«; sie sind wohlbestallte Hausbesitzer und denken gar nicht daran, wie die Zigeuner im Lande herumzuziehen. Freilich sind diese Häuser nur aus Treibholz errichtete Hütten, die zum Schutz gegen die Kälte bis zum Dach mit einem aus Erdschollen aufgebauten Hügel umgeben sind. Im Sommer, wenn der Schnee verschwunden ist, sieht es gar übel aus in der Umgebung dieser Hütten. Wertloser Krimskrams, leere Konservenbüchsen, zerbrochene Schlitten, tote Hunde liegen liederlich umher und verbreiten eine säuerlich duftende Atmosphäre der Fäulnis und Verwesung.

Der Besitzer flüchtet dann vor seiner eigenen Liederlichkeit und geht mit seinem Zelt irgendwo anders hin, in die »Sommerfrische«, bis die Kälte den schlimmsten Gestank wieder aufgesogen und der gutmütige Schnee die häßliche Lotterwirtschaft mit einer weißen, winterlichen Decke zugedeckt hat. Während des Winters ist dann nichts mehr zu sehen als eine hohe, hartgefrorene Schneebank, und nur die dünne, bläuliche Rauchsäule, die über dem Gipfel des Schneehügels in die frostige Nachtluft aufsteigt, verrät die Anwesenheit einer menschlichen Behausung.

Es ist nicht leicht, in solche Eskimohöhle hineinzugelangen. Nachdem man den losen Schnee vor dem Eingang weggeschaufelt hat, kriecht man zwischen harten Schneemauern durch einen finsteren Tunnel, wobei man fortwährend über Hunde stolpert, die dafür mit grimmigem Knurren und Zähnefletschen quittieren. Endlich sind wir in dem dunklen Wohnraum angelangt. Der einzige Ruhepunkt für das Auge ist ein mattrotes Licht, das irgendwo in dem Hintergrund mit stetiger Flamme brennt. Desto mehr gibt's zu riechen: eine dicke, muffige, tranige Atmosphäre.

Erst allmählich, nachdem das Auge sich an die Finsternis gewöhnt hat, beginnen die einzelnen Gegenstände sich aus dem umgebenden Dunkel abzuheben. Es ist eine niedrige Behausung, denn ihre Höhe ist nur berechnet für die kleinen Eskimogestalten. Der ausgewachsene »Kabeluna« muß daher schon eine Verbeugung machen, wenn er verhindern will, daß er mit dem Kopf den Reif von der Decke fegt, der ihm dann eisig kalt über den Rücken rieselt. Mitten in der Decke befindet sich, genau wie in einer Schiffskabine, ein Decklicht, eine Art Fenster aus Eis, zuweilen auch aus einer dünnen, zähen Fischhaut. Ringsum, entlang der Wände, führt eine erhöhte Plattform, auf der Renntierfelle, Fischnetze, Kochtöpfe, Schneeschuhe, kleine Kinder und was sonst noch zum Haushalt gehört, in genialer Unordnung übereinander liegen. Auf der hinteren Plattform sitzt mit verkreuzten Beinen der Herr des Hauses und füllt seine Patronen oder flickt an einem Fischnetz. In einer anderen Ecke kauert seine bessere Hälfte und raucht bedächtig ihre Pfeife oder kaut Gummi, wenn sie nicht gerade mit Näh- oder Flickarbeiten beschäftigt ist.

In solch gemütsruhiger, idyllischer Weise verträumt der Eskimo seine Tage; ein freier Herr auf freiem Land, ein kleiner König in seinem kleinen Reich. Aber wie bei so manchem andern Freiherrn, so sind auch bei ihm der Stolz und die Freiheit die größten seiner Güter, und im übrigen kreist tagaus, tagein der hungrige Pleitegeier um seine bescheidene Wohnung. Wenn man bei einem Menschen die Phrase von dem Kampf ums Dasein mit Berechtigung anwenden will, so gilt dies für den Eskimo. Jeden Bissen Brot muß er sich erkämpfen, und jede Mahlzeit, die er verzehrt, muß er zuvor unter Gefahr seines Lebens den Klauen der Eiswüste entreißen.

Weniger häufig konnte man auf der Insel das herkömmliche Schneehaus sehen – die Wohnung der Eskimos, wenn sie sich auf Reisen befinden. Für den, der sich auf diese Kunst versteht – und das ist bei fast allen Stämmen der Fall –, ist die Errichtung eines solchen Hauses viel einfacher und weniger zeitraubend, als man gemeinhin denkt. Aber auch abgesehen davon hat es den großen Vorteil, daß man das Baumaterial nicht erst mit dem Schlitten von einem Ort zum andern mitzunehmen braucht, sondern es überall mitten in der Wildnis findet.

Wenn zwei Mann sich daran begeben, ein solches Schneehaus zu errichten, so schneiden sie zuerst aus einer Schneebank eine genügende Anzahl von Schneeblöcken heraus. Dann stellt sich der eine der Leute auf den erwählten Hausplatz und pflanzt ringsum im Kreise die Blöcke auf, die ihm der andere zuträgt, und zwar jede aufeinanderfolgende Reihe weiter nach innen gerückt, bis sie domartig in eine Spitze zusammenlaufen. Die Hauptkunst besteht nun darin, das Mittelstück richtig in die Spitze einzusetzen, denn solange das nicht geschehen ist, kann das mühsam errichtete Gebäude in jedem Augenblick wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Will man zur Erhöhung der Gemütlichkeit ein Übriges tun, so setzt man noch ein Eisfenster ein und baut einen Tunnel, der von der Tür hinaus ins Freie führt. Freilich darf man die Innentemperatur nicht allzu hoch werden lassen, ohne die Sicherheit des Hauses zu gefährden, aber wenn erst einmal die weichen Renntierfelle auf dem Boden ausgebreitet sind und das trübe Tranlicht seinen matten Schein verbreitet, dann ist es dort drinnen ganz behaglich. Mit der Ventilation ist es freilich nicht immer am besten bestellt, aber darauf legt der Eskimo keinen Wert. Ein bißchen Trangeruch gehört schon zur Gemütlichkeit.

Ich muß auch von den beiden anderen Schiffen berichten, die mit uns auf der Herschelinsel überwinterten. Das eine derselben, der »Narwhal«, war eine Bark wie der »Bowhead«. Sie hatte schon einen Winter hinter sich, und alle Mann dort drüben hatten für uns den Nimbus der Veteranen, obwohl sie, im Grunde genommen, genau solche Grünhörner waren wie wir selber. Überhaupt beneideten wir die Leute, denn man war dort so viel vernünftiger und es war lange nicht so viel des Kommandierens und Räsonnierens wie bei uns.

Das andere Schiff war die »Bonanza«, ein Schoner, der kaum größer war als die famose »Penelope«. Er führte nur drei Walfischboote und demgemäß auch eine bedeutend geringere Besatzung. Diese Leute – es waren übrigens zur Hälfte Deutsche – beneideten wir nicht, denn sie hatten für fünf Jahre gemustert. Fünf Jahre in einem Lande, in dem jedes einzelne Jahr wie eine Ewigkeit erscheint! Und das um eines einzigen unbedachten Augenblicks willen, in dem man wie ich im »Blauen Anker« eine Verpflichtung über Jahre seiner Freiheit, und nicht selten sein Todesurteil unterschreibt. –

Allmählich war das Weihnachtsfest herangekommen. Dem Amerikaner bedeutet dieses Fest nicht mehr als irgendein anderer Festtag, und darum verlief die Sache fast unbemerkt. Aber man müßte kein Deutscher sein, wenn man es ganz und gar vergessen könnte, zumal in solch weißer, winterlicher Umgebung, wenn man nicht träumen müßte von Christkindern und Weihnachtsmännern, von Tannenduft und Weihnachtsliedern.

»Und den Menschen ein Wohlgefallen.« –

Ha, fort mit diesen Bildern, fort mit diesen Gedanken, die wie Hohn und Spott in dieser Wildnis widerhallen! Es war kein schönes Weihnachtsfest. Mehr noch als andere Tage war dieser dazu angetan, uns zu Gemüt zu führen, was wir alles entbehrten. Dazu kam, daß wir tags zuvor den armen Robert Hansen, den einzigen Menschen an Bord, der nicht mit allen seinen Mitmenschen in Feindschaft lebte, auf dem kleinen Kirchhof am Fuß des Hügels begraben hatten. Also Stoff genug zu allerlei nachdenklichen Betrachtungen.

Er war eine wunderliche, gänzlich weltfremde Persönlichkeit, dieser Robert Hansen. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er damals an Bord kam; der dürre, hochaufgeschossene Junge mit den schlotterigen Gliedern und den großen Augen, die gar verwundert um sich schauten. Und wie er dann seinen wohlgefüllten Seesack auspackte und daraus statt des Ölzeugs nur gestärkte Hemden, Kragen, Krawatten und – schrecklich zu sagen – ein Paar Lackschuhe herausbeförderte. Er war einer der Menschen, die nur in ihren Träumen leben und der erste Windhauch des Lebens das Kartenhaus ihrer Illusionen zusammenwirft. Bald war er nur noch der Schatten des jungen, anscheinend so gesunden Menschen, der in San Franzisko an Bord gekommen war.

Nun ist aber ein Walfischfänger ein denkbar schlechter Aufenthaltsort für einen Kranken. Man pflegt dort nur wenige Umstände mit ihm zu machen. Wenn er nicht gerade an der einzig rechtmäßig anerkannten Krankheit, des Skorbut, leidet, so wird er ohne weiteres unter die große Klasse der Simulanten gerechnet. So ging es auch dem armen Hansen. Erst in den allerletzten Tagen, als die Krankheit so weit fortgeschritten war, daß selbst in Mr. Johnsons Augen die Simulantentheorie sich nicht länger aufrecht erhalten ließ, wurde die Behandlung etwas angemessener. Von nun an brauchte er nicht mehr zu arbeiten, und der Kapitän kam mehrmals täglich nach seiner Koje, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. Es waren aber gar eigenartige Krankenbesuche. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er eines Tages nach unten kam und den Kranken, der mit hohlen Wangen und mit starren, fieberglänzenden Augen in seiner Koje lag, aufmerksam betrachtete.

»Kann ich vielleicht etwas für dich tun?« fragte er mitleidig.

»Es ist kalt hier unten«, antwortete der Kranke mit leiser, zitternder Stimme, »könnte ich vielleicht noch eine Wolldecke bekommen?«

»Was?« fuhr ihn da Johnny Cook mit fast beleidigter Miene an, »eine Wolldecke? Was in aller Welt willst du jetzt noch mit einer Wolldecke anfangen? In ein paar Tagen bist du ja doch schon tot, und bis dahin kannst du dich noch mit der einen behelfen.«

Wenn man einem Menschen im Leben nichts Gutes erwiesen hat, so ist es wenigstens anzuerkennen, wenn man ihm ein schönes Begräbnis bereitet. Daran wenigstens hatte es dem armen Hansen nicht gefehlt. Es war eine schöne und eindrucksvolle Feier. Wohl hundert Eskimos und die gesamte Mannschaft der drei Schiffe hatten sich um das offene Grab versammelt, das wir in dreitägiger Arbeit aus dem steinhart gefrorenen Boden aufgeschüttet hatten. Die großen »Cressets« waren angezündet und warfen ein wildes Licht über die weiße Schneelandschaft, die sich unter dem mondlosen Nachthimmel ausbreitete. Der Missionar hatte kaum die letzten Worte des Gebets gesprochen, als alle Eingeborenen, wie von unsichtbarer Macht getrieben, in die herrliche Melodie des alten Chorals einfielen:

class="vers"»There's a land that is fairer than day.«
(»Es gibt ein Land, überirdisch schön.«)

Nicht der feierlichste Begräbnisdienst in der stattlichsten Kathedrale könnte sich in seiner Wirkung messen mit diesem Gottesdienst, der in den Tälern und Schluchten der einsamen Insel im fernen Nordland ein tausendfaches Echo weckte.

Der einzige, der eine störende Note in die Feierlichkeit brachte, war Mr. Johnson. Nachdem er sich zuvor mehrmals unwillig geräuspert hatte, unterbrach er den Missionar mitten in der Predigt.

»Schon gut, Mister!« fuhr er ihn an mit seiner Donnerstimme, »das wäre genug für heute! Es ist dreißig Grad unter Null hier draußen. Wenn Ihr noch ein bißchen weiter redet, dann sind wir alle zu Eiszapfen erfroren, und Ihr könnt die ganze Arbeit für jeden von uns noch einmal machen.«

Schon manchen jungen, hoffnungsfrohen Menschen hatten sie dort oben auf dem einsamen Kirchhof in dieser Weise zur letzten Ruhe getragen. Bereits reihte sich Grab an Grab, mit schlichten, mehr oder minder verwitterten Holzkreuzen geschmückt. Keines trug ein Datum, keines eine Inschrift – eine namenlose Reihe vergessener Menschen. Nur in das letzte Kreuz, hart am Fuße des Hügels, hatte jemand mit ungelenker Hand ein paar Buchstaben eingegraben. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit verwittert und vermoost und den größten Teil des Jahres über zudem vom Schnee verweht. Neugierig, wie ich nun einmal bin, suchte ich eines Tages der Sache mit dem Messer auf den Grund zu gehen. – Mit einem Schauer überlief es mich, als sich die Buchstaben mühsam zusammenreihten zu den inhaltsschweren Worten:

»Wo diese schweigen, werden Steine reden.«

 


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