Kurt Faber
Unter Eskimos und Walfischfängern
Kurt Faber

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Die Sonnenwende

Rückkehr der Sonne. – Tückische Schneestürme. – Ihre Majestät, die Langeweile. – Die tröstenden Tranlampen. – Schneeball wird unpopulär. – Ein unheimlicher Gast. – Arktische Veilchen. – Vorbereitungen für den Sommer.

Langsam schlichen die dunklen Tage vorüber; eine einzige, endlose Nacht, in der die Tage sich zu Monaten und die Monate zu Ewigkeiten verzerrten. Zuweilen lag in langen Wochen zu jeder Stunde des Tages das bleiche Mondlicht über der Landschaft, und dann wieder kamen andere Wochen, wo ringsum alles schwarz und dunkel war, wo die Sterne, kalt und klar und übernatürlich groß, wie funkelnde Stahlspitzen am frostigen Nachthimmel standen und nur ab und zu ein unstetes Nordlicht einen flimmernden Schein durch das Dunkel warf. Und wie das alles sich tagaus, tagein in gleichem Wechsel abspielte, da war es uns allen, als ob das immer so gewesen wäre, als ob es nie einen Sommer gegeben hätte und die lange Winternacht kein Ende nähme. Gab es wirklich noch irgendwo auf dieser Erde eine Stelle, wo stolze Bäume ihre Äste zum Himmel recken und der lustige Bach im lachenden Sonnenschein durch das Wiesental eilt? Und gar erst die Städte mit ihrem Menschengewimmel, die Autos, die elektrischen Straßenbahnen – das alles war sicher nur ein Traum, und das einzig Wahre und Gewisse war Nacht und Eis, und die weltverlassene Insel mit ihren Eskimo-Iglus und der »Bowhead« und Johnny Cook mit seiner pomadigen Miene und der leuchtenden Glatze, und dieser Mr. Johnson.

Doch auch eine arktische Winternacht hat einmal ein Ende. Ganz unmerklich kam es: der fahle Schein des Dämmerlichts, der alltäglich um die Mittagsstunde über die Gipfel der Berge huschte, die im Süden das Gesichtsfeld begrenzten, breitete sich mit jeder Wiederkehr weiter aus, und bald stand er stundenlang am Himmel, ein buntes, wechselndes Farbenspiel von Rot und Blau. Nun konnte es nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne wieder käme. Und sie kam!

Wieder wie damals, vor beinahe zwei Monaten, als wir sie zum letztenmal gesehen, war es ein klarer, bitterkalter Tag, und wieder war der Himmel lebendig mit tausend Farben. Die hohe Bergkette des Festlandes glühte in dunkelvioletten Farben, und ihre scharfkantigen Gipfel waren getaucht in ein Meer von flammendem Rot. Kaum drei Minuten war die oberste Kappe der roten Feuerkugel zu sehen, aber dennoch lange genug, um einen Strahl der Hoffnung in die Seelen von Mensch und Tier zu senden, denn selbst die Hunde begrüßten die Erscheinung mit freudigem Geheul. – Wer nie im Schatten einer arktischen Winternacht gelebt hat, der weiß nicht, wieviel Trost und wieviel Freude in diesem ersten Sonnenblick liegt!

»Wenn die Tage langen, kommt der Winter gegangen.« Mit Siebenmeilenstiefeln hatten wir bald die lange Nacht hinter uns gelassen, und wieder stand die Sonne stundenlang am Himmel. Doch ihr Licht war kalt und tot wie das des Mondes, und die Temperatur sank tiefer und tiefer mit jedem Tag.

Zyklone; Taifune, Pamperos habe ich erlebt, aber keiner unter ihnen ist so wild und unberechenbar und so unheimlich gewesen wie einer jener arktischen Schneestürme, wie sie zu jener Zeit oft über uns hinwegbrausten. Unvermittelt bricht er aus dem klaren, wolkenlosen Himmel herein und rast mit Donnergetöse dahin. Wie der heiße Wüstenwind den gelben Flugsand aufwirbelt, so erfaßt er den pulverigen Schneestaub und treibt ihn mit furchtbarer Wut vor sich her. Mit Blitzesschnelle ist alles ringsum im dichten Schneetreiben verhüllt, so daß man kaum noch die Hand vor den Augen sieht. Ein wütendes Meer von feinen Schneestäubchen, hart wie Diamant und spitz wie Nadeln, bohrt sich in die Gesichtshaut. Wehe dem, der unterwegs von solchem Unwetter überrascht wird; ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich in den Schnee einzugraben und in Geduld abzuwarten, bis der Hexensabbat vorüber ist. Und meist dauert das auch nicht allzu lange; nach ein bis zwei Stunden hat sich das Wetter ausgetobt, und alles ist wieder still und ruhig wie zuvor. Unter Umständen kann es aber auch tagelang dauern.

Während dieser Stürme, die im ganzen Monat März kaum jemals abflauten, waren wir auf unserem Schiffe von aller Welt abgeschnitten wie auf einer einsamen, sturmgepeitschten Insel inmitten eines heulenden, brausenden Meeres von treibendem Schnee. Oft war es tagelang unmöglich, das kaum hundert Schritte entfernte Land zu erreichen. Ja, selbst die wenigen Schritte bis zu dem dicht neben dem Eingang des Deckhauses errichteten Holzgerüst, auf dem man das Trinkwassereis aufgestapelt hatte, waren dann mit Lebensgefahr verbunden, und es mußte ein Seil gespannt werden, um daran den Rückweg zu finden.

In solchen Wochen brütete die Langweile über dem »Bowhead« wie ein grinsendes Gespenst. Sie hockte im Bullroom auf dem kochenden Wasserkessel und lauschte den täglich eintöniger werdenden Gesprächen der Bootsteurer, sie trieb sich mit den halbwilden Hunden auf dem Deckhaus umher, wo die grimmige Kälte alles zu Stein erfroren hatte und der wilde Sturmwind mit donnerndem Getöse an den reifbeladenen Wänden rüttelte, sie war auch hinunter gestiegen in unsere Höhle, wo die kümmerliche Lampe noch immer mit dem gleichen mattgelben Licht durch die Finsternis schimmerte. Um der Dunkelheit einigermaßen abzuhelfen, hatte sich jeder, je nach Geschick, mit Hilfe einer Blechdose voll Walfischtran und etwas ausgefranstem Kabelgarn eine Tranlampe für seinen Privatgebrauch hergestellt, die er in seiner Koje befestigte. Tag und Nacht waren diese Lampen in Tätigkeit und erfüllten alles ringsum mit schwarzem, qualmendem Rauch und einem scharfen Trangeruch, an den sich nur die abgehärtete Nase eines Polarfahrers gewöhnen konnte.

Im vorderen Teile des Raumes stand der rotglühende, hitzesprühende Ofen, neben dem es sich die Kartenspieler bequem gemacht hatten. Ha, diese Kartenspieler! Für sie waren auch diese langen, langen Tage zu kurz, und sie mußten noch die halben Nächte in Anspruch nehmen, um ihre Kämpfe auszufechten. Ein Bild zum Malen war es, wenn sie auf der Bank neben dem Ofen saßen und der flackernde Schein des Feuers auf ihren erregungsblassen Gesichtern spielte. Ein jeder hatte neben sich einen Berg von schwarzem, abgegriffenem Plattentabak. Meist spielten sie vorsichtig mit kleinen Einsätzen. Nur ab und zu kam ein großer Coup; und dann kam die ganze Mannschaft zusammengelaufen und folgte dem Gang der Ereignisse in atemloser Spannung.

In jenen trüben, langweiligen Wintertagen hätte ich willig jedem hergelaufenen Teufel meine Seligkeit verkauft, wenn er mir etwas Ordentliches zum Lesen angeboten hätte. Aber von alledem war an Bord des »Bowhead« nichts vorhanden. Nichts als ein bißchen Schundliteratur, das ich mir zuweilen von den Steuerleuten erbettelte. Alles Machwerke der übelsten Sorte, die ich unter anderen Umständen nicht angesehen hätte. Aber dort habe ich sie verschlungen, den Buffalo Bill, den Nic Carter und anderes Zeug. Ich hatte einen förmlichen Hunger nach Druckerschwärze. Ich glaube, daß ich das Adreßbuch von Groß-Berlin von A bis Z, und das Register von Andrees Handatlas mit samt den Anmerkungen durchgelesen hätte, wenn es mir unter die Finger gekommen wäre.

Bei uns sowohl wie im »Bullroom«, wo die Steuerleute und Bootsteurer hausten, war alles Mißgunst und Verdrießlichkeit. Auch dort saßen sie stundenlang neben dem Ofen am brodelnden Wasserkessel und führten giftige Gespräche mit halblauter Stimme, und wenn der Zufall einen von uns Grünhörnern in ihre Nähe führte, so riß plötzlich der Faden der Unterhaltung ab, weil es nun einmal mit der Disziplin nicht verträglich ist, wenn die Matrosen zu hören bekommen, daß die Vorgesetzten einander verlästern.

Namentlich Schneeballs Popularität war inzwischen nicht gewachsen. Es gab bald keine Schlechtigkeit mehr, die man ihm nicht andichtete. Weil er aber als farbiger Gentleman etwas auf seinen Ruf hielt, so litt er sehr unter diesen Verdächtigungen. Oftmals, wenn ich nach der Kombüse kam, um heißes Wasser zu holen, benutzte er die Gelegenheit, um mir ein Stück seiner Meinung über die Schlechtigkeit der Menschen im allgemeinen und der Bootsteurer und Steuerleute im besonderen zu geben.

»Hast du gehört, wie dieser blaunasige Mister Johnson mich wieder angeschnauzt hat?« fragt er mit rollenden Augen. »Ich sei ein Magenräuber! Ich ließe sie in der Kajüte verhungern, um mich mit dem ersparten Mehl bei den Wahinis beliebt zu machen! Ja, draußen an Deck kann er mir das alles sagen, aber hier in der Kombüse, zwischen meinen Messern und Gabeln, hätte er sich so etwas nicht einfallen lassen!«

Und so wie dem armen Schneeball ging es jedermann an Bord. Alle lebten auf dem Kriegsfuße. Der Kapitän mit den Steuerleuten, die Steuerleute mit den Bootsteurern und die Bootsteurer mit den Matrosen. Die brütende Eintönigkeit des langen Winters hatte die Luft vergiftet. Der Eismeerkoller hatte alle erfaßt. O, ihr Polarforscher, die ihr uns in euren schönen Büchern immer glauben machen wollt, daß an Bord eurer Schiffe in der langen Winternacht stets alles ein Herz und eine Seele gewesen ist, ich glaube euch nicht!

Zu allem Unglück tauchte gegen Ende des Winters noch ein anderes Gespenst auf. Das schlimmste, das der Seemann kennt: der Skorbut. Oft schon im Laufe der Reise hatte man diesen Teufel an die Wand gemalt und uns mit allerlei Vorbeugungsmaßregeln geärgert, bis schließlich keiner mehr daran glaubte. Aber auf einmal war sie da, diese unheimlichste aller Krankheiten, und grub ihre Zeichen in das aschfahle Gesicht und die tiefliegenden, blaugeränderten Augen ihrer Opfer. Heimtückisch und hinterlistig ist diese Krankheit, und niemand kann sicher wissen, ob er selbst schon davon befallen ist oder nicht. Oft schleicht sie wochenlang unerkannt durch das kranke Blut, bis sie eines Tages zum Ausbruch kommt. Dann geht es gewöhnlich schnell zu Ende.

Dennoch ist, dank der an Bord der Walfischfänger angewandten, etwas eigenartigen Heilmethode – niemand der Krankheit zum Opfer gefallen. Es war ein bißchen eine Kur nach Dr. Eisenbart. Mit den in dem geschwollenen Zahnfleisch schon ganz lose gewordenen Zähnen mußten die armen Patienten rohe Tomaten und das zähe Renntierfleisch in rohem Zustande verzehren, und täglich mußten sie mit den geschwollenen Füßen mehrere Stunden lang in dem kalten Deckhaus auf und ab laufen. Keines der Bilder jener bösen Jahre ist mir so deutlich im Gedächtnis geblieben, als das der armen Menschen mit den bleichen, schmerzverzerrten Gesichtern und den fieberglänzenden Augen, die so mühsam auf dem Verdeck umherhumpelten. Wenn einer sich ermüdet gegen die Reling lehnte, wurde er unbarmherzig fortgestoßen. »Vorwärts! Marsch! Hier wird nicht geschlafen!«

So ging über Mühe und Not und tausend großen und kleinen Ärgernissen der lange Winter allmählich seinem Ende entgegen. Anfangs machte es uns Spaß, jeden verflossenen Tag im Kalender recht dick und fett auszustreichen, genau so, wie es die Soldaten zu tun pflegen. Das gab dem alten Schneeball einen willkommenen Anlaß zu boshaften Bemerkungen. Ja, so ist's recht, Jungens! Streicht nur immer hübsch durch! Im nächsten Winter wird euch Johnny Cook einen neuen Kalender geben!«

Im nächsten Winter? Der Gedanke war gar nicht auszudenken! Aber wie, wenn es nun doch ein richtiger Teufel wäre, den dieser alte Griesgram an die Wand malte? Möglich war ja alles hierzulande. Allmählich begannen wir darüber nachzudenken und wurden womöglich noch mürrischer und verdrießlicher wie zuvor und überdrüssig des kindischen Spiels mit dem Kalender und strichen keine Tage mehr aus.

Ehe man's gedacht, war der Mai gekommen mit feuchter Luft, mit grauen, schweren Wolken und wirbelndem Schneegestöber. Aber es war nicht mehr der scharfe, nadelartige Treibschnee, den der Wind vor sich herfegte, sondern dicke, wollige Flocken, die lustig durcheinander tanzten und sanft auf Land und Eis herunterschwebten.

Komm, lieber Mai, und mache
Die Bäume wieder grün!

Bei uns begann nun erst der richtige Winter, so wie wir ihn von der lieben Heimat her gewohnt waren, und was wir in den vergangenen Monaten erlebt hatten, das war eine Art Überwinter gewesen. Und doch waren auch diese winterlichen Maitage nicht ohne einen Vorgeschmack des nahenden Sommers. Mitten zwischen dem düsteren Schneewetter kamen Tage, an denen der Himmel so blau war, wie nur irgendwo im sonnigen Kalifornien, wo heller, flimmernder Sonnenschein über den Schneefeldern spielte und um die Mittagsstunde große, glitzernde Tautropfen von den Rahen und vom Tauwerk heruntertropften. Tautropfen! Seit Monaten das erste Zeichen erwachenden Lebens in dieser leblosen Natur!

Scharen von Spatzen – weiß der Himmel, wo sie sich während des Winters aufgehalten hatten – machten sich geräuschvoll bemerkbar, und ihr übermütiges Gezwitscher hörte sich herrlicher an wie die schönste Musik.

Und bald kam noch anderer, weit gewichtigerer Besuch.

Indianer – waschechte Rothäute mit knochigen, kupferfarbigen Gesichtern unter einem Schopf von pechschwarzen Haaren – kamen aus dem Inland, um den Bleichgesichtern die kostbaren Fuchsfelle anzubieten, die sie mit ihren leichten Schlitten oder gelegentlich auch auf dem Rücken der als Packesel verwendeten Hunde herbeischafften. Stolz und stattlich sahen sie aus mit ihren perlenbesetzten Mokkassins und den eng anliegenden Kleidern aus Elentierfell, von denen die langen Fransen phantastisch herunterhingen.

Ja, das waren noch die echten Rothäute, von denen man in den Büchern lesen kann!

Nun, wo der Sommer vor der Tür stand und unter der warmen Frühjahrssonne die Tautropfen wie dicke Tränen über die vergangene Winterherrlichkeit von den Dächern der Schneehäuser heruntertropften, rüsteten sich auch die Eskimos einer nach dem anderen zur Abreise. Würdig und schwerfällig, mit einer gewissen Feierlichkeit, wie sich das für einen Eskimo gebührt, packten sie ihre Sachen zusammen, und schweißtriefend schoben sie mit Kind und Kegel den schwerbeladenen Schlitten dem Festland entgegen. Dort draußen lagen sie der Jagd ob im Auftrag der Schiffe, die sie mit gefrorenem Renntierfleisch versorgten. Zuweilen brachte auch einer eine Ladung von Hasen und Schneehühnern und appetitlich aussehenden Lachsen und Forellen, die so hart gefroren waren, daß sie wie Gußeisen von einander brachen, wenn man mit dem Hammer darauf schlug.

Ist es ein Wunder, wenn solch' neuerwachtes Leben in der Natur bei einem unruhigen Geist die Lust nach neuen Abenteuern lebendig macht? Fortlaufen, desertieren –! Ein glücklicher Zufall hatte es mir ermöglicht, eine wunderschöne Karte des Eismeers aus Mr. Johnsons eigener Kajüte zu entführen. Die sollte mir noch große Dienste tun. Sie war mein Schatz und mein Geheimnis, das ich eifersüchtig vor fremden Blicken hütete. Oftmals, wenn die anderen schon lange schliefen, hatte ich sie in meiner Koje ausgebreitet und beim Scheine der Tranlampe die verwegensten Reiserouten hineingezeichnet. Nach der Hudson-Bay, über den Mackenziefluß, nach der kanadischen Pazifikbahn. Aber die verlockendste Route von allen war entschieden die, die nach dem Klondike führte. Sie ging in südlicher Richtung geradeaus über die Berge nach dem Yukonfluß und von dort nach dem Klondike. Es waren nur lumpige siebenhundert englische Meilen! Die Goldfelder des Klondike! Das war mein neuestes Luftschloß.

Und wie die Tage immer länger, das Wetter immer wärmer und der Sonnenschein immer heller wurde, da stieg das Desertierungsfieber mit jedem Tage, und ich verwandte kein Auge mehr von den hohen blauen Bergen, die gar verlockend vom Festland herüber winkten.

Doch damit war noch nichts getan. Bei allem jugendlichen Unverstand war mir doch klar, daß ohne die gehörige Ausrüstung: Schlitten, Gewehr, Patronen usw. nie etwas Richtiges aus der Sache werden konnte. Woher aber nehmen und nicht stehlen? Und wo wollte man stehlen, wenn sich keine Gelegenheit dazu bot? Die meiste Aussicht mochte man wohl haben, wenn man sich beim Holzholen mit dem Hundeschlitten davon machte, aber da trug man stets Sorge, daß ein oder mehrere Eskimos als Aufpasser mitgingen.

So verging eine Woche um die andere in fiebernder Untätigkeit, und schon begann der lange arktische Sommertag, wo es mit der Möglichkeit zum Fortkommen im Dunkel der Nacht endgültig vorbei sein würde.

Gerade zu dieser Zeit der Reise- und Desertierungspläne kam es mir einmal in den Kopf, den alten Jan zu besuchen, der Zimmermann auf der »Bonanza« war. Jan stammte von den friesischen Inseln und war, wie alle Leute, die von dort her kommen, ein blondhaariger, blauäugiger, überaus schweigsamer, verschlossener Riese, der für seine Mitmenschen selten mehr übrig hatte als ein mürrisches Knurren als Antwort auf eine Anrede. Aber an jenem Abend kam er zu meinem größten Erstaunen gerade auf mich zu und reichte mir seine gewaltige, hartgearbeitete Tatze.

»Na, adjüs, Jung,« sagte er mit seiner dröhnenden Stimme, »bliv man immer gesund.«

Da überlief es mich eiskalt.

»Du wirst doch nicht etwa – –«

»Ja, hüt Nacht geit's los,« flüsterte Jan mit einem Seitenblick nach dem kleinen, wohlbeleibten Kapitän, der eben an Deck kam, »aber mach, daß du jetzt von Bord kommst. Da kommt der Alte.«

»Vielleicht sehen wir uns doch noch einmal wieder,« sagte ich im Fortgehen, nur um etwas gesagt zu haben.

»Lebendig nicht!« antwortete Jan sehr ernst.

In jener Nacht konnte ich lange nicht zur Ruhe kommen. Stundenlang irrte ich auf den Hügeln umher, und tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Es war eine kalte, klare Nacht, wie geschaffen für ein abenteuerliches Unternehmen. Am nördlichen Himmel stand das blasse Licht des Tages, das über dem Horizont in allen Farben des Regenbogens leuchtete, bis es in einen breiten, blutroten Streifen überging, dort, wo der Himmel sich mit der unabsehbaren Masse des bläulich schimmernden Packeises zu vereinigen schien.

Am nächsten Morgen wehte ein heftiger Schneesturm, der den Verkehr zwischen den Schiffen beinahe unmöglich machte, aber trotzdem hatte sich die Kunde von der Missetat bereits herum gesprochen. Johnny Cook schritt mit gewaltigen Schritten im »Bullroom« auf und ab, und neben ihm trippelte der kleine Kapitän der »Bonanza«, der mit seinen kurzen Beinen und dem ansehnlichen Bäuchlein nur mühsam Schritt zu halten vermochte. Johnny Cook blähte sich wie ein Truthahn, und sein Gesicht war rot wie Feuer.

»Das sollte sich einmal einer von meinen Leuten einfallen lassen!« rief er mit seiner gewichtigen Baßstimme, »beim Teufel! ich würde ihn schon zurückbringen. Tot oder lebendig! – Yes, sir! Tot oder lebendig!« Aber Kapitän Moog war anderer Ansicht.

»Daraus mache ich mir schon gar nichts,« sagte er seelenruhig, »meinetwegen können alle fortlaufen. Wenn sie hungrig sind, kommen sie von selbst wieder zurück.«

Doch Jan kam nicht wieder zurück. –

Inzwischen hatte die Mitternachtsonne wieder ihr Regiment angetreten. Es kamen warme Tage mit blauem Himmel, mit strahlendem Sonnenschein und herrlichem Vogelgezwitscher. Wunderbar schnell zerschmolzen die hohen Schneebänke, und an ihrer Stelle bildeten sich große, glitzernde Teiche, in denen alles voll unruhigem Leben und voll bunter Abwechslung war. Zuweilen lagen sie still und regungslos, wie große, glänzende Spiegel, in denen sich der blaue Himmel betrachtete, zuweilen aber, wenn die leichte Brise darüber wehte, begann ein übermütiges Spiel unzähliger grüner Wellenköpfe, die mit dem silbernen Licht des Tages ein neckisches Tänzlein aufführten.

Tauwetter überall. Von allen Rahen und Decksaufbauten perlten die dicken, glänzenden Tropfen, von allen Schneebänken rieselten die Rinnen zu murmelnden Bächen, die sich donnernd von der steilen Küste ins Meer hinabstürzten. Da und dort begann schon der gelbe Sand oder ein Stückchen des moosigen – ach, so lange nicht geschauten Erdreichs zwischen der Schneedecke hervorzuschauen. Schneeglöckchen zeigten ihre weißen Köpfe. Wunderschöne Veilchen und Vergißmeinnicht leuchteten zwischen den Sträuchern. Anemonen, Schlüsselblumen und bunte Glockenblumen wetteiferten an den Abhängen der Hügel mit ihren bunten Gewändern. Wildenten zogen schnatternd vorüber. Habichte kreisten in den Lüften, und aus den Erdhöhlen ertönte der unheimliche Schrei der Schneeulen. Warm und feucht war die Luft, und zuweilen stiegen dicke Nebel aus dem offenen Wasser, das sich draußen, jenseits der Insel, als ein breiter, dunkelblauer Streifen hinzog. Auch das Eis in der Bai und entlang der Küste zeigte breite Risse und Sprünge, die daran mahnten, daß es mit unserer Gefangenschaft nun bald zu Ende wäre.

Mit gutem Willen machte sich jedermann daran, das Schiff für die Sommerreise instand zu setzen. Der zu Anfang des Winters mit so vieler Mühe um das Schiff gebaute Schneewall wurde weggeschaufelt, das Haus über dem Verdeck wurde abgerissen und die dazu gebrauchten Bretter wieder aufgeschichtet; dann ging es ans Überholen der Takelage, der die Winterstürme gehörig zugesetzt hatten. Neue Taue wurden eingeschoren, die Blöcke überholt und mit neuen Scheiben versehen. Überall wurde gekratzt, geölt, geteert und geschmiert – kurzum, wir waren wieder Seeleute geworden.

 


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