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Aufbruch zur Reise nach dem Festlande. – Eine phantastische Karawane. – Unser erstes Zeltlager. – Ein idealer Lagerplatz. – Ungebetene Gäste. – Böse Zeiten. – Das große Festmahl. – Die vielgeplagten Wahinis. – Das »Hula-Hula«. – Das begehrte Mokporah. – Verzweifelte Lage. – Niemals zurück!
Es war spät abends, als wir uns auf den Weg machten, denn in jenen nordischen Gegenden, wo im Sommer das Tageslicht zu jeder Stunde am Himmel steht, werden alle Reisen in diesen Monaten in den Nachtstunden ausgeführt.
Wir kamen nur langsam vorwärts, denn der kalte Südostwind wehte uns gerade ins Gesicht, und die eisenbeschlagenen Kufen des schwerbeladenen Schlittens vergruben sich alle Augenblicke in dem treibenden Schnee. Nur langsam verschwanden die Hütten und Zelte der Eskimos und die Masten und Rahen der Schiffe in der trüben, dämmrigen Schneeluft, bis schließlich nichts mehr zu sehen war, als Eis und Schnee ringsum. Allein auf der endlosen Eiswüste wanderten wir dem Festland entgegen.
Es war ein phantastischer Aufzug, in dem wir durch die Wildnis wanderten, einer Zigeunerbande gut vergleichbar. Der große, schwerfällige Schlitten war bis zum Brechen gefüllt mit den großen und kleinen Dingen, die zu dem Haushalt eines Eskimo gehören. Den meisten Raum nahmen die als Schlafgelegenheit dienenden Renntierfelle ein. Dann kamen das Zelt, das Kochgeschirr, der aus einer Petroleumbüchse gefertigte Ofen, ausgeweidete Seehunde, die als Ölbehälter dienten, ferner Gewehre, Patronen, Pulver, Blei und ganz oben auf dem Haufen als höchster Schatz mein Sack Mehl und die Kanne Sirup. Nicht zu vergessen das Dambrett, das uns durch alle Fährten und Nöten der langen Reise stets ein treuer Begleiter gewesen ist; denn Roxy war – wie die meisten seiner Landsleute auf der Herschelinsel – ein passionierter Dambrettspieler.
»Wie der Herr, so's Gescherr.« Merkwürdig wie die Bagage waren die sie begleitenden Menschen. Wir waren unserer fünf von der Partie. Roxy, seine Gattin, eine ältere Dame mit einem langen, zungenbrechenden Namen, den ich leider vergessen habe, und die wir deshalb kurzweg die »Wahini«, d. h. die Frau, nennen wollen, ferner Roxys Sohn Naivoktuna, dessen junge Gemahlin Mimi, und schließlich als fünftes Rad am Wagen meine Wenigkeit.
Er war ein etwas eigentümlicher Mensch, dieser Roxy, der sich in vieler Beziehung – und um es gleich zu sagen – nicht immer zu seinem Vorteil, von seinen Landsleuten unterschied. Er war verhältnismäßig schlank gebaut und hatte, ganz im Gegensatz zu anderen Eskimos, bei denen alles ins Breite und Verschwommene geht, einen langen, knochigen Kopf mit einem Gesicht, das hager, runzelig und scharf geschnitten war wie das eines Indianers. Die rabenschwarzen Haare hatte er nach Eskimoart gerade ins Gesicht gekämmt, und auf dem Hinterkopf trug er, ebenfalls gemäß der Landessitte, eine Tonsur. Als ob durch alle diese Umstände die wilde Eigenart des Gesichts noch nicht genügend zum Ausdruck käme, hatte er es noch durch zwei weiße Steine »verziert«, die zu beiden Seiten des breiten Mundes durch die Unterlippe gesteckt waren. Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß er trotz dieses wenig einladenden Äußeren doch eine gute Seele und vor allem auch für seine Verhältnisse ein ungewöhnlich aufgeweckter und begabter Mensch gewesen ist. Er war einer der Häuptlinge seines Stammes, der Vertrauensmann der Mission und sprach mit großer Fixigkeit Pidgin-Englisch. Namentlich der letztere Umstand trug viel zur Erhöhung seines Ansehens bei seinen Landsleuten bei.
Selbstverständlich vermochte die Wahini neben solchem Gatten nur wie ein Stern siebenter Größe, oder wie der Mond mit geborgtem Licht zu leuchten. Wenn der Gatte im Kreise der Männer von seinen Heldentaten berichtete, da saß sie gewöhnlich bescheiden im Hintergrund und hörte glückstrahlend den Gesprächen zu, und es war, als ob ein Abglanz des Glorienscheines auch auf ihre bescheidene Persönlichkeit herabfalle. Die arme Wahini! Wie oft habe ich sie bedauert, sie und das ganze Geschlecht der Eskimofrauen! Sie war wie Wachs in der Hand ihres Mannes. Ein willenloses Werkzeug, ein Sklave in des Wortes verwegenster Bedeutung! Nie durfte sie eine eigene Meinung haben.
Von Naipoktuna und seiner Gemahlin ist nichts Bemerkenswertes hervorzuheben. Die beiden waren typische Feld-, Wald- und Wieseneskimos, d. h. dick und rund, mit kurzen, krummen Beinen, fett und wohlgenährt und dazu ein breites, glänzendes Gesicht mit nie versiegendem Lächeln.
Zum Schluß muß ich noch unsere treuen vierbeinigen Reisegefährten vorstellen, denn auch sie gehörten zur Familie. Sie hießen: Nanmuk, Natschik, Naschikak und Uniakeiak. Eine bösartige Gesellschaft von häßlichen, struppigen, widerspenstigen Kötern voll übler Launen und voll teuflischer Tücken. Es dauerte lange, bis wir sie ordentlich in Gang gebracht hatten, denn es war wahrhaft kein Kinderspiel, den schweren Schlitten über die bei der vorgerückten Jahreszeit schon ziemlich weich gewordene Schneedecke zu schleppen.
Etwa um Mitternacht kamen wir auf dem Festland an, wo wir unser Lager aufschlugen. Roxy und ich machten uns sogleich an die Errichtung des Zeltes, während die anderen das allenthalben umherliegende Treibholz sammelten. Im Nu hatten wir uns wohnlich eingerichtet. Das Zelt war groß und geräumig; der Fußboden, den wir vorher von dem Schnee gesäubert hatten, wurde mit dicken, warmen Renntierfellen belegt und das brummende Feuer in dem mitgebrachten Blechofen trug dazu bei, die Gemütlichkeit noch zu erhöhen. Auch draußen vor dem Zelt prasselte ein helles, freundliches Lagerfeuer. Über ihm hing von einem Holzgerüst ein großer, rußiger Eimer, in dem die junge Mimi aus Reis und Seehundfleisch eine gar köstliche Suppe bereitete, während die Wahini sich mit der Zubereitung der »Mukpowders«, einer arktischen Pfannkuchenart, beschäftigte. Diese werden aus Mehl und Seehundöl hergestellt und sehen in frischem Zustand wunderbar braun und appetitlich aus. Weniger appetitlich ist es allerdings, wenn man der Wahini zusieht, wie sie mit ihren breiten, ungewaschenen Händen den Teig knetet, während die lange Tabakspfeife dabei immer von einer Ecke des Mundes zur anderen wandert.
Tischsitten wechseln mit den Völkern und Ländern, aber die des Landes der Mitternachtsonne sind so verschieden von denen aller übrigen Länder, daß man sich erst nach längerer Übung darin zurecht finden kann. Nach Türkenart mit verkreuzten Beinen, machten wir es uns auf den ausgebreiteten Renntierfellen bequem. Dann wurde die dampfende Schüssel in der Mitte des Kreises aufgestellt, und jeder griff nun zu mit seinem großen Löffel. Wer sich am besten auf die Hantierung des Löffels verstand, bekam am meisten. Anfangs war ich in dieser Kunst ein erbärmlicher Stümper, aber Übung macht auch hier den Meister.
Erst spät abends am nächsten Tage brachen wir das Lager wieder ab und setzten unsere Reise in östlicher Richtung entlang der Küste fort, aber schon vor Mitternacht, nachdem wir kaum fünfzehn Kilometer zurückgelegt hatten, wurde wieder Rast gemacht. Am nächsten und übernächsten Tag leisteten wir auch nicht mehr, obwohl das Wetter sehr günstig war. Die zurückgelegten Strecken wurden eher noch etwas kleiner. Mir wurde ganz unheimlich zumute, wenn ich mir überlegte, daß wir bei solch' schneckenhaftem Tempo überhaupt nie ans Ziel gelangen würden. Aber der gute Roxy ließ sich durch mein Drängen und Treiben nicht im geringsten aus seiner Gemütsruhe bringen. Wenn ich ihn fragte, wann wir wohl in Fort Mac Pherson ankommen würden, da hatte er nur immer die eine Antwort: »Nanako«, das heißt soviel wie: »Komm ich heut nicht, komm ich morgen.«
Überdem wurde es ringsum immer sommerlicher. Bei Tag und Nacht glitzerte der helle Sonnenschein über der weißen Landschaft. Die Schneedecke war weich und schlüpfrig geworden, und große Wasserpfützen begannen sich allenthalben auf dem Eise auszubreiten. An den Abhängen der Hügel zeigten sich dunkle, braune Flecken, wo das nackte Erdreich zwischen den Schneefeldern hervorzuschauen begann, und überall rauschten helle, silberglänzende Bäche zu Tal, die geschwätzig davon erzählten, daß nun der Sommer gekommen wäre.
Nach einigen Tagen dieser gemächlichen Wanderung gelangten wir im Grunde einer weiten Bucht an die Mündung eines stattlichen Flusses, der mit seinen gelben Fluten das Küsteneis weithin überschwemmte. Dort gefiel es Papa Roxy so gut, daß er trotz meines entschiedenen Protestes eine mehrtägige Rast machte. Es war in der Tat ein idealer Lagerplatz, und hätte ich es nicht so eilig gehabt mit der Reise nach der zivilisierten Welt, so wäre ich mit dem Aufenthalt schon einverstanden gewesen.
Daß auch der Topf über dem Feuer nicht zur Ruhe kam, dafür sorgten die massenhaft auftretenden Schneehasen, deren weiches zartes Fleisch eine willkommene Abwechselung in den eintönigen Küchenzettel von Seehundfleisch und Mukpowders lieferte. Bald stellten sich auch gefiederte Gäste ein. Freche, vorlaute Spatzen, die sich nach Kräften bemühten, uns zu zeigen, daß sie selbst bei den vielen Graden nördlicher Breite noch nichts von ihrer Keckheit eingebüßt hatten. Es war eine Lust, zu sehen, wie die munteren Vögel sich vor dem Kochtopf um die Speisereste balgten. Und manch einer wanderte auch in den Kochtopf und lieferte einen nicht zu verachtenden Geflügelbraten.
In jenen Tagen wurden wir öfters durch Besuche von anderen umherziehenden Eskimos heimgesucht. Ungebetene und meist auch nicht gerade gern gesehene Gäste sind es gewesen, denn sie zeigten alle eine besondere Vorliebe für Reis und Mukpowders und andere Kabelunaspeise, und unter ihrem gesunden Appetit zerschmolzen unsere Vorräte wie die Schneebälle in der Hölle. Solchen Angriffen gegenüber waren wir völlig machtlos, denn es ist nun einmal des Landes so der Brauch, daß man sein letztes Stückchen Brot mit jedem hergelaufenen Vagabunden teilt. Man kann ja dort nie wissen, ob man nicht morgen selbst am Hungertuch nagt und die Hilfe anderer in Anspruch nehmen muß. Es ist also jedermann auf einen gewissen Kommunismus angewiesen, und das Betteln wird zu einer Art Versicherung auf Gegenseitigkeit.
Nachdem wir uns am Rande des Flusses genügend ausgeruht hatten und der Magen der eintönigen Hasenpfefferkost überdrüssig zu werden begann, setzten wir in dem gewohnten gemächlichen Tempo die Reise fort, bis wir ein hohes, weit ins Meer hinaus ragendes Vorland erreichten, das den Namen Kay Point trägt. Hier trafen wir auf ein großes Eskimolager. Wohl dreißig der niedrigen, bienenkorbartigen Iglus bedeckten das flache Plateau der steil abfallenden Küste.
Für große Herren ziemt es sich, daß sie auf großem Fuße leben und ein offenes Haus halten. Roxy war sich dieser Pflicht wohl bewußt, und die Nachbarsleute versäumten nicht, seiner Freigebigkeit die nötige Ehre anzutun. Bald hatte sich das ganze Lager mit Kind und Kegel vor unserem Zelte eingefunden und machte es sich um das lustige Lagerfeuer bequem. Fast alles alte Bekannte von der Herschelinsel. Vor allem Avayuuk, ein alter, grauhaariger Mann mit verwittertem Gesicht, von dem Roxy behauptete, daß er sein Großvater sei. Die Richtigkeit dieser Angabe kann ich natürlich nicht nachprüfen; möglich ist es aber immerhin; der alte Herr sah alt und ehrwürdig genug aus, um der Großvater des Methusalem selber zu sein.
Mir aber wurde ganz unheimlich zumute, als ich mit ansehen mußte, wie am nächsten und übernächsten Tag die Gäste immer wieder kamen und des Schmausens kein Ende mehr war. Als ich mich dann nach langem Zaudern dazu aufraffte, dieser Speisung der 5000 ein Ende zu machen, da mußte ich zu meinem Schrecken bemerken, daß es bereits zu spät war, denn die ganze Herrlichkeit hatte schon ein Ende genommen. Weder Mehl, noch Reis, noch sonst etwas war übrig geblieben, und das blasse Gespenst des Hungers hatte seinen Einzug in Roxys Zelt gehalten.
Ein Paket Tee war noch das einzige, was der Eskimoheißhunger übrig gelassen hatte, und damit mußten wir uns vorderhand über die Not der Zeit hinweghelfen. Was ich in jenen Tagen dort auf Kay Point an Hunger ausgestanden habe, das spottet jeder Beschreibung. Es war ja nicht das erstemal, daß ich den Hunger kennen lernte, denn im Laufe des letzten Winters war er tagaus, tagein der grimmige Gast an Bord des »Bowhead« gewesen. Aber was ich nun erleben mußte, das ging doch weit über das gewohnte Maß hinaus. Oft wurde mir schwarz und grün vor den Augen, und ich war nahe daran, vor Entkräftung zusammenzubrechen. In solchen Augenblicken sehnte ich mich zuweilen sogar nach den mageren Fleischtöpfen des »Bowhead« zurück.
Der ganzen Familie Roxy schien indes die Hungerkur ganz gut zu bekommen. Denn sie waren Philosophen wie alle Eskimos, und ließen sich durch ein bißchen Hunger noch lange nicht in ihrer Gemütsruhe stören.
Während meines Aufenthalts auf Kay Point, der sich, nebenbei bemerkt, sehr in die Länge gezogen hat, habe ich überhaupt die schönste Gelegenheit gehabt, gar manches über die Eskimos und ihre Lebensgewohnheiten zu erlauschen. Für ideale Regungen, wie überhaupt für alle graue Theorie ist der Eskimo nicht zu haben. Er ist ein Materialist bis auf die Knochen. »Was werden wir essen, was werden wir trinken?« das ist die große Frage, die von der Wiege bis zum Grabe sein ganzes Dasein erfüllt. Wie könnte es auch anders sein! Wo fände er die Zeit, an etwas anderes zu denken, er, dessen ganzes Leben nur erfüllt ist von einem einzigen erbitterten Kampf ums tägliche Brot! Man sollte meinen, daß dieser harte Kampf ums Dasein ihm vor allem die Tugend der Sparsamkeit beigebracht hätte; doch dem ist nicht so. Vielmehr lebt er als ein echter Wilder leichtsinnig in den Tag hinein und findet es übergenug, daß ein jeder Tag seine eigene Plage habe. Darum besteht auch sein ganzes Leben aus einer bunten Abwechslung von Perioden, in denen er sich durch übermäßiges Wohlleben den Magen verdirbt, und solchen, in denen die Erinnerung an vergangene und die Hoffnung auf künftige Mahlzeiten seine einzige Speise ist.
In einer der letzteren Perioden befanden wir uns, wie schon erwähnt, auf Kay Point. Der anhaltende Nordwestwind der letzten Wochen hatte das Packeis an das der Küste vorgelagerte sogenannte Fußeis herangetrieben, und dadurch war weit und breit kein offenes Wasser und somit auch kein Seehund zu sehen. Wenn es aber keine Seehunde gibt, dann ist die Not am größten im Haushalt der Eskimo. Einer von uns stand immer auf der Höhe des Hügels und hielt scharfen Ausguck, ob nicht irgendwo zwischen den anderen Zelten eine Rauchsäule aufstiege, denn wo Rauch ist, da ist auch Feuer, und wo Feuer ist, da gibt's etwas zu essen, und da durften wir nicht fehlen. Meistens stand aber die erhoffte Mahlzeit in keinem Verhältnis zu dem Aufwand von Rauch und Feuer. Eine Maus, eine Moschusratte, eine Seemöwe, ein Hund oder höchstens ein kleines Häschen schwammen in dem Wasser des Kochtopfs, aber was ist das unter so vielen?
Manchmal aber war der Rauch von glücklicher Vorbedeutung, und wir kamen gerade dazu, wie eine keuchende Wahini einen Seehund hinter sich herschleppte. Dann war Freude im Lager. »Natschik, Natschik, Natschik umalakta!« ging es wie ein Wildfeuer von Mund zu Mund. Alles war im Nu auf den Beinen und eilte hinunter nach dem großen Hula-Hula-Zelt, wo der köstliche Schmaus stattfinden sollte. Dort versammelten sie sich vor dem Eingang und schauten andächtig den Wahinis zu, wie sie mit märchenhafter Fixigkeit den Seehund abhäuteten und zerlegten und dann die leckeren Fleischstücke in den rußigen Eimer warfen, der über dem lustigen Lagerfeuer hing.
Einstweilen machen es sich die Herren der Schöpfung im Zelte bequem. Mit entblößtem Oberkörper, auf dessen brauner Haut die dicken Schweißtropfen stehen, und in der Hand ein langes, scharfgeschliffenes Metzgermesser, lassen sie sich mit der schwerfälligen Würde eines Paschas auf dem kahlen Sandboden des geräumigen Zeltes nieder. Mit den schwarzen, weit ins Gesicht gekämmten Haaren und mit den gierig flackernden Augen machen sie in dem dämmerigen Halbdunkel einen unheimlichen, phantastischen Eindruck. Der Laie möchte sie wohl für eine Gesellschaft von Kannibalen halten, die der Verspeisung des Missionars harren. – Endlich ist die Stunde der Tantalusqualen vorüber, und es kommt der große Moment, da die Wahini den im Zelt versammelten Gästen die lang entbehrte Mahlzeit serviert. Auf einem großen Brett bringt sie den duftenden Fleischhaufen herein, den sie in der Mitte des Kreises aufstellt. Der Älteste spricht nun noch schnell ein Tischgebet, währenddessen jeder das größte Stück zu erspähen sucht, und dann kann's losgehen. Mit der einen Hand ergreift jeder das von ihm erkorene Stück, das von den gelben Zähnen gierig erfaßt wird, die andere aber hantiert das große Messer, mit dem immer faustgroße Stücke abgeschnitten werden, die dann in diesem Zustand den Weg alles Eßbaren wandern.
Zuweilen gibt es bei diesen Orgien ganz üppige Mahlzeiten mit reichbesetzter Speisekarte:
Fisch.
Gebratene Moschusratte.
Seehundstew.
Tee.
Mukpowders.
Dessert à l'Eskimo.
Die zuletzt genannte Nummer der Speisekarte besteht aus dem Magen und den Gedärmen des Seehundes nebst Inhalt, die, in kleinen Schüsseln serviert, immer zwischen je zwei Mann aufgestellt werden. Von Zeit zu Zeit tut man sich daran gütlich, um der Speiseröhre die nötige Elastizität bei der Vertilgung des Seehundfleisches zu erhalten. Bei den Eskimos gilt dieses Dessert als besondere Delikatesse. –
Ich habe vergessen zu erwähnen, daß das schöne Geschlecht zu diesen Orgien keinen Zutritt hat. Während der Gatte ganz in den Freuden des Schlachtfestes aufgeht, kauert die Wahini bescheiden im Hintergrund und sättigt sich einstweilen an dem würzigen Fleischgeruch, der sich gar verlockend mit dem Rauche ihrer Tabakspfeife mengt. Nur der Kopf und die Flossen des Seehunds sind ihre unbestrittene Domäne. Aber Seehundsköpfe und Seehundsflossen sind zäh wie Leder und müssen stundenlang kochen, ehe sie halbwegs genießbar sind. Da sitzen denn die armen Wahinis halbe Nächte lang um das knisternde Feuer und löffeln die scharfe Transuppe und werfen lange, verlangende Blicke in das kochende Wasser im rußigen Kochtopf. Ich kann mir gar keinen grausigeren Anblick denken, als so einen Seehundskopf, der, mit abstehenden Schnurrhaaren und weit hervorgequollenen Augen, beinahe menschlich aus der Tiefe des Topfes hervorschaut.
Arme Wahini! Ihr Joch ist nicht sanft und ihre Last ist nicht leicht. Ihr ganzes Leben ist nur Mühe und Arbeit und nimmer endende Entsagung. Aber sie hat es gelernt, zu leiden, ohne zu klagen. Mit geduldiger Ergebung erträgt sie ihr Schicksal als eine gottgewollte Abhängigkeit. Suffragetten gibt es dort noch nicht, und die Wellen der Emanzipationsbewegung haben noch nicht bis dorthin ihre Kreise gezogen. Freilich, von großer Wäsche und von Scheuerfesten weiß sie nichts. Sie braucht auch keine Kragen zu bügeln und keine Möbel abzustauben, aber es sind andere, nicht minder schwierige Aufgaben, die ihrer harren. Sie muß die Felle der erlegten Tiere bearbeiten und mit den steifen Renntiersehnen daraus die Kleider zusammennähen. Sie muß mit den Zähnen das Seehundfell gerben und daraus Wasserstiefel anfertigen; sie muß die Hunde besorgen und von weit draußen auf dem Eise den erlegten Seehund hereinschleppen, und bei all diesen Arbeiten trägt sie noch immer das kleine Baby in der Kaputze ihrer Renntierjacke mit sich herum.
»Welch' herzloser Tyrann, so ein Eskimogatte!« So könnte man leicht aus dem Vorhergesagten schließen. Doch das wäre eine falsche Annahme. Immer ist er von tausend Gefahren umlauert, ob er in kalter Winternacht weit draußen auf der Eisscholle das Auftauchen des Seehunds erwartet, ob er in den Bergen dem wilden Renntier oder dem flüchtigen Bergschaf nachstellt, oder ob er dem König des Nordens, dem Eisbär, seine Fallen stellt.
Unter anderen »Segnungen« der Zivilisation hat der Weiße dem Eskimo auch das Kartenspiel beigebracht. Gerade die, unter denen ich lebte, waren eifrige Spieler und verlegten sich auch mit Leidenschaft auf das Wetten. Das wäre am Ende ein harmloses Vergnügen gewesen, da die verschiedenen Wettobjekte ja doch immer in der Familie blieben, wenn nicht die Sache ganz folgerichtig so eingerichtet gewesen wäre, daß der Verlierer auch wirklich nicht ungeschoren davon kam. Der Einsatz bestand nämlich aus Patronen, die der glückliche Gewinner nicht etwa einsteckte, sondern die der Verlierer vor den Augen und unter dem Spott der ganzen Gesellschaft in die Luft verpuffen mußte. Die Wahinis aber mußten bei jedem Schuß ein Hohngelächter anstimmen, und das war der schlimmste Teil der Strafe.
Viel schöner und eigenartiger als das dumme Kartenspiel ist das »Hula Hula«, eine Art heidnischer Geisterbeschwörung, wodurch man ein hereingebrochenes Übel zu beseitigen oder ein kommendes abzuwenden sucht. Was immer eine Eskimoseele bedrückt, das findet im Hula Hula seinen Widerhall. Wenn sich z. B. die Seehunde in nicht genügender Weise einstellen, wird ein Hula Hula veranstaltet, um dem Übelstand abzuhelfen; wenn eine Krankheit unter den Hunden ausgebrochen ist, muß das Hula Hula als Doktor herhalten; wenn ein böser Schneesturm die Männer an der Ausübung der Jagd verhindert, so muß das Hula Hula der Not ein Ende machen.
Und nun muß ich den Leser bitten, mich einen Augenblick zu einer Hula-Hula-Vorstellung meiner Eskimofreunde auf Kay Point zu begleiten.
Es ist Nacht, und die matten Strahlen der Mitternachtsonne kämpfen mit den Schatten der langen arktischen Dämmerung. Ringsum liegt die Natur verträumt und verschlafen da, aber zwischen den Eskimo-Iglus ist es noch immer lebendig, denn heute Nacht soll das große Hula Hula in Szene gehen. Von allen Seiten strömt es herbei nach dem großen Hula-Hula-Zelt in der Mitte des Lagers. Auch wir begeben uns dorthin trotz der mißgünstigen Blicke der Eskimos, die bei der Feier lieber unter sich sein wollen. Ein dämmeriges Halbdunkel herrscht unter dem Zeltdach, ein Übelstand, dem die Theaterregie durch die Aufstellung von Tranlampen nach Möglichkeit abzuhelfen suchte. Dies sind offene, mit Seehundöl gefüllte Holzschalen, mit einem auf dem Öl schwimmenden brennenden Moosstück, das die Stelle des Dochtes versieht. Über den matten Flammen steigt in feinen dünnen Streifen der schwarze Rauch empor, der sich allmählich an der Decke zu dunklen Wolken verdichtet und die Luft mit einem durchdringenden Trangeruch erfüllt. – Plötzlich kommt Bewegung in die Menge. Alles tritt zurück, und unter den bewundernden Blicken tritt die Primadonna in die Arena. Sie hat heute ihren feinsten, mit Wolfsfell besetzten Renntierrock angezogen. Die Kapuze ist mit einem schneeweißen Hundefell verbrämt. Das breite, am Kinn mit blauen Streifen tätowierte Gesicht ist tüchtig eingefettet, und so erglänzt sie in der ganzen Pracht ihrer arktischen Schönheit.
Und nun beginnt der Tanz.
Mit weitausgestreckten Armen führt sie phantastische Pantomimen auf, die sie mit allerlei verschrobenen Bewegungen ihres Körpers begleitet. Von der obersten Haarspitze ihrer Kapuze bis zu den Walroßsohlen ihrer Seehundstiefel, ist sie ganz Leben und Bewegung, und nur die bei andern Völkern wichtigsten Instrumente des Tanzes, die Füße, bleiben wie angewurzelt stehen. Das Publikum begleitet die Pantomimen der Tänzerin mit einem eintönigen Gesang. »Janga, janga, ja–a–a, ja, ja–a–a–anga.« So ertönt es unaufhörlich zum Takte der großen Trommel aus Seehundfell. Mit einem Mal verstummt der Gesang, und die Tänzerin stimmt ein Solo an, bei dessen Anhören allen Anwesenden das Wasser im Munde zusammenläuft, denn sie singt von Natschiks, Nanmuks, Tuktuks, Kaukau umalakta und anderen Herrlichkeiten, die geeignet sind, ein Eskimoherz mit Wonne zu erfüllen.
Schneller und schneller wird der Gesang, lauter und wilder erschallen die Beifallrufe: »Akana, akana–a–a, naguruk!« Salome selbst hätte vor dem König Herodes keinen größeren Beifall finden können. Immer heißer wird es in dem Zelt, immer dicker und beißender werden die Rauchwolken, immer unerträglicher der Trangeruch. Es ist Zeit, daß wir uns empfehlen. –
»Und du?« so höre ich den Leser fragen, »was hast du in allen diesen Zeiten getan, während die Männer dem Tode trotzten und die Wahinis im Schweiße ihres Angesichts ihrem Tagewerk nachgingen?« Ich will gerne zugestehen, daß ich mich nicht allzu nützlich gemacht habe, aber das geht jedem gesitteten Menschen so, der unter die Wilden verschlagen wird. Ihm fehlt der praktische Sinn und die unerhörte Vielseitigkeit, die jenen von Kindesbeinen an beigebracht wird. Man denke doch nur, was so ein Eskimo alles können muß!
Dennoch hat er einen großen Respekt vor den Künsten der Kabelunas; namentlich vor deren größten, dem Mokporah. Hierunter versteht man einen Brief, sowie überhaupt jedes Schriftstück. Roxy war im Besitz eines solchen Mokporahs, das ihm Kapitän Cook mitgegeben hatte, um es nach Fort Mac Pherson zu befördern. Es war sein Stolz und seine Freude. Er verwahrte es in einem Täschchen aus Seehundsfell, wo er seine Patronen, seinen Tabak und andere Kostbarkeiten aufzubewahren pflegte. Oftmals, wenn er gerade nichts Besseres zu tun hatte, kramte er das Mokporah hervor, betrachtete es von allen Seiten und schaute lange und sinnend auf die groben Züge der ungelenken Handschrift. Einmal fiel es dabei ins Wasser, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre dieser Schatz verloren gegangen. Aber Roxy rettete ihn im letzten Augenblick und breitete ihn auf der Zeltbahn zum Trocknen aus. Das alles erregte natürlich die Begehrlichkeit der anderen, und als die Kunde ruchbar wurde, daß Roxys Kabeluna sich auf die Herstellung solcher Mokporahs verstand, da war die Nachfrage groß. Ich aber schrieb mit teuflischer Tücke nur immer ein Mokporah pro Tag. Das war dann jedesmal ein großer Augenblick. Kein Richter konnte mit größerer Feierlichkeit ein Todesurteil unterzeichnen, als ich jene arktischen Talismane im Kreise der Wilden, die mit offenem Mund in atemloser Spannung dem rätselhaften Beginnen des Kabelunas zusahen. –
Mehr als vierzehn Tage brachten wir auf Kay Point zu; zweifellos die vierzehn hungrigsten Tage meines Lebens. Anfangs wurde wenigstens noch hie und da ein Seehund gefangen, aber gar bald war es auch damit zu Ende, und wir waren nun ganz auf gelegentliche Seemöwen oder Moschusratten angewiesen, die nicht genug zum leben und kaum zu viel zum sterben lieferten. Ah, welch' beredter Berater ist doch der Hunger! Bei Tag und Nacht verfolgt er sein Opfer mit seiner stillen, nagenden Stimme. Tausendmal redete er mir dasselbe vor. »Warum? Warum willst du hier mit aller Gewalt durch Hunger und Not zugrunde gehen, wo du doch bloß nach dem »Bowhead« zurückzukehren brauchst, um aller Not ein Ende zu machen? Ja, warum denn nur?« Eigentlich wußte ich es selber nicht, aber von Tag zu Tag fraß sich immer tiefer die eine fixe Idee: Niemals zurück!