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Auf allen Schränken, Tischen und Konsolen blühen Chrysanthemen, eine jede Zimmerecke ist mit einem Boskett von Chrysanthemen ausgeschmückt, von allen Wänden hängen Bildstreifen nach japanischer Art herunter, auf welchen Chrysanthemen gemalt sind, die ein bißchen wie bunte Flederwische aussehen und keck gegen einen himmelblauen Himmel oder gegen einen schneebedeckten Fusijama stehen.
Alle haben sich beim alten Herrn Bornschbögel eingefunden, die ganze engere Familie bunt durcheinander, Männer und Weiblein, Bornschbögelmenschen und Mairoldmenschen. In erster Linie Herr Thom Bornschbögel selbst, der ein wenig einem alternden Bullenbeißer gleicht, mit Frau Minka Bornschbögel, die übermäßig dick geworden ist, obgleich sie noch immer in Angst lebt, daß es ihrem Manne schaden könnte, wenn er sich aufregt. Ferner die Bornschbögel-Töchter Philippine und Ludmilla mit ihren Gatten und Laurenz und Ulrich mit ihren Frauen, die Bornschbögel-Söhne, die beide nunmehr brave Mitarbeiter ihres Vaters und Teilhaber der Firma sind, aber in seiner Nähe noch immer wie verprügelte Jungen dastehen. Dann Frau Therese Mairold, deren Haar sich silbern zu färben beginnt, während an den äußeren Winkeln der noch jugendlich froh blickenden Augen sich zahlreiche Lachfältchen eingenistet haben, mit sämtlichen Kindern und Schwiegerkindern. Da wäre vor allem Christl zu nennen, der Älteste, der ein deutscher Professor nicht nur ist, sondern auch ungefähr wie ein solcher aussieht, weil er Brillen und einen langen, dunklen Philosophenbart trägt, ferner Moini, der Zweitälteste, der ein wenig seinem Onkel Thom gleicht, wie er in jüngeren Jahren war, und ebenso wie dieser, wenn er eine Bemerkung gemacht hat, den Unterkiefer vorschiebt, als ob er zuschnappen wollte. Weiters Niki, das Hausmütterchen, die bescheiden neben dem stämmigen und mit herausfordernder Miene um sich blickenden Dr. Lois Birenz steht, und Doll, der echteste von allen Mairolden, den die Bergsonne der Lüsen und die scharfe Luft der Wegwacht braun gebrannt hat, mit seiner jungen, lieblichen Gattin, der goldhaargekrönten Bethy Leodolter. Ferner Wolfi Mairold, der seit seiner Rückkehr aus Lyon die Vertretung der Firma in Wien übernommen hat, und dessen gemächliche, zum Scherzen aufgelegte Art der Neigung der Kunden, Geschäfte mit der Erzählung von Witzen einzuleiten, aufs wünschenswerteste entgegenkommt. Vefi, die seit wenigen Tagen ihr Anstellungsdekret in der Tasche hat und insgeheim fürchtet, der Großvater könnte das Versprechen, das sie ihm noch im letzten Augenblick abgenommenem den Wind schlagen und sie am Ende wirklich zum Mittelpunkt dieses bürgerlichen Familientages machen. Ferner die blondgelockte Käthi, die Jungverheiratete, die in ihren Gatten Alfred Leodolter so verliebt ist, daß sie ihn gar nicht auslassen will und fortwährend an seinem Arme hängt, und der Jüngste von den Mairoldgeschwistern, der martialische Franzl, der seinen Leutnantssäbel nicht abgelegt und auch die schwarze Offiziersmütze in der Hand behalten hat, weil er findet, es mache sich so besser zum Eintreten. Endlich Ludger Herrnfeld, der freilich nicht ganz zur Familie gehört, aber doch nicht fehlen darf; denn auf Wunsch des Großvaters hat er es übernommen, den Sprecher zu machen und die Gäste über den Sinn der kleinen Veranstaltung aufzuklären.
Er tritt ans Fenster und weist auf den klaren, sonnigen Wintertag hinaus, der über der Stadt leuchtet. Er erinnert daran, wie vor vielen Jahren der Großvater von hier aus den Kindein die goldene Kaiserkrone auf der Rotunde gezeigt, und wie er dabei die Hoffnung ausgesprochen hätte, daß es gelingen möge, die Völker dieses Reiches unter einen Hut zu bringen, unter den Hut des Kaisers nämlich. Er erinnert an die großen Veränderungen, die das Vaterland inzwischen erfahren, an die tiefeingreifenden Umwälzungen im Innern, an die Verschärfung des wirtschaftlichen und politischen Kampfes. Er erinnert an die Erweiterung des Wahlrechts, an den Zusammenschluß der Arbeiter in Gewerkschaften, an die Ausbreitung des Genossenschaftswesens und an das siegreiche Durchdringen des Gedankens der staatlichen Fürsorge. Und er erinnert an die neu aufgekommene Regierungsmaxime, die Slawen durch Zugeständnisse zu kaufen, an die Bedrängnis des Deutschtums in allen Teilen des Reiches, an die Entfachung eines scheinbar unversöhnlichen Hasses zwischen den Nationen und an die bittere Hoffnungslosigkeit, die sich weiter Kreise bemächtigt hat, daß sie an die Zukunft Österreichs nicht mehr glauben wollen und es nur für eine Frage der Zeit halten, wann es sich in seine Elemente auflösen wird.
Und abermals gegen das Fenster gewendet, von wo man das Häusermeer überblickt, mit seinen unzähligen, im blendenden Schneekleid funkelnden Dächern, den uralten Dom von St. Stephan in ihrer Mitte, beginnt er von den großartigen Veränderungen zu sprechen, die sich auch in dieser Stadt vollzogen haben, seit zum ersten Male die goldene Kaiserkrone auf der Rotunde darüber sichtbar wurde. Der hohe Turm dort drüben mit dem gepanzerten Ritter auf der Spitze steigt über dem neuen Rathaus empor, dem stolzen Heim einer der mächtigsten und betriebsamsten Stadtgemeinden der Welt. Die ehernen Quadrigen, die unweit davon in der Sonne glänzen, bezeichnen die Beratungssäle der Reichsboten, denen das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes so warm am Herzen liegt, als sie verbissen in acht oder neun verschiedenen Sprachen darüber streiten. Die steilen Zwillingskuppeln mit dem fackelschwingenden Genius krönen Gebäude von prächtigen Verhältnissen, die den Künsten und Wissenschaften geweiht sind. Und in der nächsten Nachbarschaft oder in der weiteren Umgebung all dieser großartigen Bauten, die das Nützliche mit dem Schönen vereinen, erheben sich unzählige andere, die dem neu erwachten Leben auf allen Gebieten des geistigen und materiellen Schaffens eine Stätte bereiten.
Das ist nicht die Kapitale einer Staatsgemeinschaft, die sich im Niedergang befindet, das ist nicht die Hauptstadt eines Reiches, das zerfallen will!
»Es lassen sich viele durch den Hader der Parteien täuschen,« sagt er, »und meinen, weil das josephinische Österreich zu Ende gehe, so gehe Österreich überhaupt seinem Ende entgegen. Aber das ist ja gerade die geschichtliche Aufgabe dieses Reiches, das Staatsgebilde der Zukunft aufzubauen, das den freiwilligen Zusammenschluß gleichberechtigter Völker zu geistigen und wirtschaftlichen Zielen ermöglichen soll. Und mag auch die Erfüllung noch in weiter Ferne liegen, gerade damit, daß Österreichs Völker – und neuestens auch die Deutschen – sich als selbständige Nationen innerhalb der Gemeinschaft zu fühlen beginnen, ist ein wichtiger Schritt nach vorwärts getan. Wie sollen zwei Nachbarn sich vertragen, wie sollen sie über gemeinsame Interessen einig werden, wenn nicht ein jeder vorerst treu sein Haus bestellt? Nur wem sein eigenes Volkstum heilig ist, der achtet und ehrt auch das des andern! Und wenn trotzdem heute noch der wüste nationale Zank auf der Tagesordnung steht, so ist es bloß darum, weil den Menschen ihr Volksbewußtsein noch nicht zur reinen Herzenssache, noch nicht zum unverlierbaren, innig vergeistigten Besitz geworden ist. So mißbrauchen sie das Heilige zu unheiligen Zwecken, das Gut der Seele zu Spekulationen auf Gewinn, schreien und lärmen, wo sie beten sollten, und nehmen den Mund voll wie einer, der falsches Gold im Beutel hat, sich protzig auf die Tasche schlägt, damit es klirren soll. Ist das ein Zustand, der Dauer haben kann? Wird er dem anbrechenden Morgen standhalten? Muß er nicht vor der Zeit, die kommen wird, wie ein Nachtmahr verschwinden, je tiefer das Menschliche den Menschen in die Herzen dringt? Er ist nichts als die Raupe oder Puppe der freien Völkergemeinschaft der Zukunft, die unser Reich der Welt zum ersten Male zeigen wird. Er ist das Unwetter und der Hagelschlag, die niederprasseln müssen, ehe der Regenbogen des Friedens sich am Himmel wölben kann. Und niemand, der daran glaubt, daß der Weg der Menschheit aufwärts führt, wird sich dadurch irre machen lassen, niemand, dessen Blick nach der Höhe gerichtet ist, wo der Morgen die Gipfel bereits rötet. Unverlierbar stehe ihm der Glaube an unser Vaterland, kein Lärm und Zank des Tages soll ihm die Zuversicht rauben! Denn wo ein echter und edler Wein werden will – ist es verwunderlich, wenn es da gären muß?«
Herr Thom Bornschbögel, der schon ungeduldig wurde, weil er lieber sich selbst als andere reden hörte, fiel Ludgern, der sich an seinen eigenen Ausführungen immer mehr erwärmte, ins Wort und sagte: »Wenn die nationale Frage nicht bald gelöst wird, so geht Österreich halt doch in Fransen!«
Aber in der Schule des Parlaments war Herrnfeld ein zu gewandter Debatter geworden, als daß ein Zwischenruf ihn hätte aus der Fassung bringen können.
»Die nationale Frage, wie sie das Österreich von heute in Atem hält,« sagte er, »wird überhaupt nie gelöst werden, sie wird bloß in Vergessenheit geraten. Wie andere Probleme, die in den verschiedenen Jahrhunderten die Völker aufwühlten, wird sie durch neu auftauchende Sorgen und Probleme verdrängt und in den Hintergrund geschoben werden. Streiten Sie heute über Religion? Sie achten den, der sie hat, und wohl Ihnen, wenn Sie selbst sie haben! Aber wer eine politische Kampfwaffe daraus schmieden will, wie es jetzt manche mit Partei-Katholizismus übertünchte Materialisten bei uns gibt, dem fehlt die wahre und echte Religion des Herzens, die wie König Lears Cordelia liebt und – schweigt!«
»Sollen wir uns also nicht offen als Deutsche bekennen dürfen?« fragte Herr Thom Bornschbögel und schnappte mit dem Unterkiefer in die Luft.
»Die Liebe ist reicher als das Wort!« sagte Herrnfeld.
»Lächerlich!« sagte Herr Thom. »Wir werden doch nicht vor lauter Liebe die Hände in den Schoß legen und uns slawisieren lassen!«
»Im Gegenteil!« sagte Herrnfeld. »Je weniger wir reden, um so kräftiger werden wir die Hände rühren, fruchtbare Arbeit leisten, neue Werte schaffen für uns und unser Volk. Denn die echteste Liebe ist die Tat!«
Und mit einer unerwarteten Wendung aus dem Allgemeinen ins Besondere kommt er plötzlich auf Vefi zu sprechen, die erschrocken und fast beschämt dasteht, während die glückseligsten Sonnenlichtlein über die errötenden Wangen huschen.
Blumen schmücken ihr zu Ehren diese Räume, und die nächsten Verwandten haben sich vollzählig eingefunden, ihr die Hand zu drücken. Steht sie denn nicht an einem wichtigen Wendepunkt? Ist sie nicht im Begriffe, das Elternhaus zu verlassen und hinauszutreten ins Leben, um sich in die Reihe derer zu stellen, die da schweigend mit friedlichen Waffen kämpfen? Folgt sie nicht dem Beispiel ihres Bruders Doll, der durch stille Arbeit seinem Volke ein Bollwerk hat schaffen helfen, weit unten an der südlichen Sprachgrenze? Und leistet Christl nicht dasselbe in seiner Art, indem er in der heiß umstrittenen Hauptstadt Böhmens deutschen Geist und deutsche Wissenschaft zu Ehren bringt? Können Moini und Herr Alfred Leodolter, deren Fabriken an den nordöstlichen Sprachgrenzen liegen, nicht ebenfalls dasselbe leisten, wenn sie wollen? Und Wolfi in Wien, das ja längst nicht mehr den Deutschen allein gehört, indem er für das Ansehen, den Wohlstand und den Einfluß einer altgeachteten deutschen Firma wirkt, als ein rechter Erhalter und Mehrer des Reiches? Ja sogar Franzl, wenn ihm ein volkstreues Herz unter dem Waffenrock schlagen sollte – darf er sich nicht an dem Gedanken erbauen, daß die Wehrmacht dieses Reiches heute weit weniger ein Kriegsschwert ist als ein mahnend gegen Osten aufgehobener Finger, die Entwicklung der Völker, die sich unter die Fittiche des Doppeladlers scharen, nicht zu stören?
Wie schön weißt du dies alles vorzubringen, Ludger Herrnfeld! Wo hast du deinen Spott gelassen, deinen Zweifel, deine Zerrissenheit? O du Sehnsüchtiger und stets Unbefriedigter, wie sehr ist es dir zu gönnen, daß es eine Zukunft gibt! Denn die Zukunft ist leicht und schwebend wie ein Traum, farbig wie das Morgenrot und klingend wie die fernen Töne eines silbernen Waldhorns vom dunklen Berge in mondloser Nacht. Wie ganz anders die Gegenwart! Sie gleicht einer staubigen Straße, auf der viele spitze Steine liegen, sie gleicht einem dunsterfüllten Tag, wo die Landschaft ohne Zauber ist, sie ist greifbar, man kann sie jederzeit betreten, und auch wo sie schön wäre, verfärbt sie sich sogleich und wird mißfällig, sobald ein ekelerfülltes Herz sich ihr nähert.
Ach, warum bist du in die Gegenwart, warum bist du nicht in die Zukunft geboren, Ludger Herrnfeld! Oder wäre es eine fruchtlose Gnade des Schicksals gewesen? Hätte deine Anwesenheit in der Zukunft genügt, sie sofort und wie mit einem Schlage abermals in eine Gegenwart zu verwandeln?
An diesem Tage hat Ludgers frierende Phantasie sich an der Zukunft so heiß entzündet, daß ihm auch in der Gegenwart für ein Stündchen warm geworden ist. Darum sieht er die Mairoldkinder, seine Lieblinge, darum sieht er sich selbst und alle Tätigen und Leistenden des deutsch-österreichischen Volkes gleichsam auf Posten stehen, das verklärte Siegeslächeln der Zukunft auf den Lippen und mit dem Friedenspalmzweig der Zukunft in der Hand den Feind abwehren. Er erinnert sich an ein Wort des Großvaters, Doll hat ihm einmal davon erzählt. Damals war er nicht in der Laune gewesen, es zu verstehen. Damals hatte er darüber gespottet. Ernüchtert durch die Erfolglosigkeit seiner parlamentarischen Arbeit, hatte er den Abstand als zu groß empfunden zwischen der mutigen Zuversicht dieses Wortes und der Wirklichkeit. Jetzt versteht er es plötzlich. Seine eigenen Worte haben ihn darauf hingeführt.
Und indem er nochmals auf Vefis Entschlossenheit und Volkstreue zu sprechen kommt und ihr von ganzem Herzen Glück und eine gesegnete Tätigkeit in der deutschen Schulvereins-Schule wünscht, in der sie als Lehrerin wirken wird, schließt er mit jenem Worte, das damals der Großvater ausgesprochen, als Doll zum ersten Male an seiner Seite die Paßhöhe über der Lüsen betreten und hinausgeblickt hatte ins weite fremdsprachige Land: »Wir alle stehen auf der Wegwacht!«
So hat Herrnfeld es gewendet, daß Vefis künftige Tätigkeit, so bescheiden sie sein wird, mit so großen Dingen verglichen wird, wie die Werke auf der Wegwacht und in der Lüsen es sind, die einer ganzen Gegend wirtschaftliches Gedeihen bringen. So hat er es bewirkt, daß alle, die zugehört haben, ob sie wollten oder nicht, ihr Achtung und Schätzung zuwenden mußten, und daß sie, das stille, liebe Mädchen, das sich lieber verstecken möchte, auf einmal zum Mittelpunkt der ganzen kleinen Versammlung geworden ist, einen Platz, den Herr Thom Bornschbögel, aus seiner Miene zu schließen, ihr nur widerwillig überläßt. So hat er es gewendet, daß all die vielen Chrysanthemen, die wirklichen und die gemalten, heute bloß zu ihren Ehren blühen.
Aber das ist ganz im Sinne des Großvaters. Strahlend tritt dieser an Ludger heran und drückt ihm die Hand.
»Sehr schön haben Sie das alles gesagt,« meint er. »Nur ein bissel zu lang war es und zu viel von Politik ist darin vorgekommen.«
»Eine Berufskrankheit!« entschuldigt sich Herrnfeld lachend. »Übrigens was wollen Sie? Wenn man den Menschen etwas Ernsthaftes zu sagen hat, muß man sie manchmal ein bißchen langweilen.«
Auch Frau Therese geht auf Ludger zu und reicht ihm schweigend die Hand. Ihre Augen sind feucht geworden.
Moini, der in der Nähe steht, schaut lächelnd auf Herrnfeld herüber und spottet: »Redner wird von allen Seiten beglückwünscht.«
»Was will er eigentlich, dieser – Mannsfeld oder Herrenberg, oder wie er heißt?« sagte Herr Thom zu Moini. »Meine Fabrik steht, soviel ich weiß, in Schlesisch-Riebstadt. Was geht denn mich die Wegwacht an?«
Ludmilla, die geborene Bornschbögel, die ein schwerreicher Färbermeister geheiratet hatte, obgleich sie noch immer die Unterlippe hängen ließ und mit dem linken Auge ganz wo anders hinsah, befand sich auch unter jenen, die Ludger beglückwünschten.
»Sie haben mir ganz aus der Seele geredet,« sagte sie, »ich habe die Vefi immer gern gehabt und sie immer in Schutz genommen, wenn sie auch viel jünger ist als ich, das heißt, viel jünger ist zu viel gesagt, ich bin ja auch noch nicht gerade in Methusalems Alter, aber in der Zeit machen ein paar Jahre viel, deswegen haben wir als Kinder auch nicht miteinander gespielt, dafür war der Altersunterschied doch zu groß, und darum kenn' ich sie auch eigentlich fast gar nicht, deswegen kann man doch einen gern haben, wenn man ihn auch nicht näher kennt, und besonders in Schutz nehmen, das soll man überhaupt jeden Menschen, weil es zum Anstand gehört, wenn andere sich den Mund zerreißen, und einen Anlaß hat es bei der Vefi ohnedies nie gegeben, wenn auch niemand geahnt hat, daß sie einmal Lehrerin werden will, was mich wirklich wundert, denn wie man Lehrerin werden kann, begreif' ich nicht, ich möchte eher alles andere werden, weil ich von meinen eigenen Kindern weiß, was man für ein Kreuz mit den Fratzen hat, so daß man gerade genug haben könnte und sich nicht auch noch fremde auf den Hals zu laden braucht. Aber es ist jeder seines Glückes Schmied, über Gusto kann man nicht streiten, weil die Geschmäcker zu verschieden sind und der eine gerade das will, was der andere nicht will, was auch ganz gut eingerichtet ist, weil sonst alle dasselbe wollten und es Lehrerinnen gäbe zum Schweinefüttern oder gar keine, wenn alle meinen Geschmack hätten, weil ich mich viel zu viel ärgern tat' in einer Schule, denn man glaubt gar nicht, was es für Kinder gibt bei den armen Leuten, Läuse sind noch das wenigste, da kommen noch andere Sachen vor, die ich lieber gar nicht erzählen will, weil sie sonst glauben könnten, es sind nur gerade die Arbeiter bei der Färberei so, aber die andern sind auch nicht um ein Haar anders, ich begreif' überhaupt nicht, warum man auf die Färber von oben herabschaut, meine Schwester hat einen Appreteur, und ich wüßte nicht, warum mir das lieber sein sollte, ein gutes Geschäft ist das eine wie das andere, abgehn lassen brauchen wir uns nichts, und das bleibt doch immer die Hauptsache, nicht wahr?«
»Gewiß!« sagte Ludger. »Auch Sie haben mir aus der Seele gesprochen.«
Er wendete sich gegen Doll herum und erkundigte sich nach dem Stand der Marmorwerke. Die Auskünfte, die er erhielt, befriedigten ihn.
»Ein Wagnis war es immerhin,« sagte Doll. »Und ein Glück, daß wir gerade in die Zeit der vielen Neubauten hineingekommen sind.«
»Und eine Freude ist es,« sagte Ludger, »daß du mitbauen hilfst an dieser schönen Stadt!«
»Ja, es freut mich,« sagte Doll, »daß ich hier mittun kann, so weit ich auch fort bin.«
Der Großvater hatte sich Bethy genähert, die am Fenster stand und in den Winter hinausblickte. Ihre schlanke Gestalt hatte sich wahrend der letzten Monate verändert, ein neues Leben keimte unter ihrem Herzen.
»Der Tod deiner guten Großtante ist mir nahe gegangen,« sagte er. »Ich hab' sie von Jugend auf gekannt. So eine wie die kommt nicht wieder.«
»Es war ein schönes Sterben,« sagte Bethy. »Sie ist wieder jung geworden dabei. Alle ihre Geschwister waren wieder um sie, die längst Verstorbenen. Sie, die Kranke, hat alle überlebt. Nun kamen sie an ihr Lager und saßen bei ihr wie einst. In meinem Vater sah sie nicht ihn selbst, sondern seinen Vater, der ihr Lieblingsbruder gewesen war. Und sie redete mit ihm von alten Zeiten und sorgte sich um die Erziehung seiner Söhne Poldi und Fred, denen sie eine Mutter gewesen war. In meinen Cousinen Beywald erblickte sie ihre jüngeren Schwestern Cajetana und Susann und in meinem Bruder Alfred den jung verstorbenen Bruder meines Vaters: Fred Leodolter, der ein Opfer des Sturmjahres achtundvierzig geworden ist, und den sie ihr ganzes Leben lang betrauert hatte. Es war ergreifend, wie sie ihm Mut zusprach, weil er sterben müsse. Nie sind schönere und trostreichere Worte gesprochen worden. Niemals begriff ich besser, daß unsere Seele stärker sein kann als jedes Leid. Denn es war keine Klage in ihren Worten, es war eine Verklärung darin, die über alle irdischen Begriffe geht. So dachte sie noch im Sterben nicht an sich selbst, sie dachte nur daran, zu trösten, zu ermutigen, stark zu machen – sie, die Schwache, die ihr ganzes Leben auf dem Krankenbett hingesiecht hatte!«
»Sie ist in der Lüsen gestorben?« fragte der alte Herr Bornschbügel.
»Im Klosterschlössel,« sagte Bethy. »Die ganze Bevölkerung strömte zusammen, und man sah bärtige Männer weinen wie Kinder. Gioja war ihnen eine Mutter gewesen. Sie hatte auch all den großartigen Anstalten vorgestanden, die für die Wohlfahrt der Werksarbeiter und ihrer Kinder während der letzten Jahre in der Lüsen begründet wurden, und ich bin ihr dankbar, daß sie mich stets zu Rate zog und in die oft ziemlich verwickelten Geschäfte einführte; sonst hätte ich mich schwer zurechtgefunden. Denn seit ihrem Tode habe ich mich natürlich ganz allein um diese Dinge zu bekümmern.«
Sie standen lange schweigend nebeneinander. Sie sahen immer bloß durch die halbvereisten Scheiben des Fensters, über die vielen Dächer hinweg, die wie unzählige beschneite Grabhügel unter dem reinen blauen Winterhimmel lagen. Die Sonne mußte bald untergehen, sie funkelte noch im goldenen Knauf des Turmes von St. Stephan, daß er wie eine Fackel loderte.
»Was hat der Turm nicht alles erlebt!« sagte der Großvater. »Von ihm haben sie hinausgeschaut ins weite Marchfeld und die französischen Kanonen und die Kürasse der Reiter in der Sonne blitzen sehen. Und Bürgerssöhne vom Schottenfeld, die sich zum schottischen Freibataillon hatten anwerben lassen, waren bei Aspern mit dabei, auch ein Urgroßvater von dir. Vergiß es nie, daß ein Tropfen von seinem Blut auch in den Adern deiner Kinder sein wird!«
»Ich werde es nie vergessen!« sagte Bethy.
»Und dann wieder haben die Sturmglocken von dem alten Turm geläutet. Dein Großvater Alfred Leodolter, den ich auch noch gekannt habe, war ein geistiger Führer im Kampf um die Freiheit, und der junge Bruder deines Vaters hat sein blühendes Leben für sie gelassen. Vergiß es nie, daß ein Tropfen von ihrem Blute auch in den Adern deiner Kinder sein wird!«
»Ich werde es nie vergessen!« sagte Bethy.
»Es wachsen neue Geschlechter auf,« sagte der Großvater, »und noch die Kinder deiner Kindeskinder, wenn du selbst nicht mehr sein wirst, werden diesen alten Turm sehen, und die Sonne wird scheinen wie heute und wird in seinem goldnen Knauf blitzen und funkeln wie heute. So grüßt er die Enkel von den Ahnen mit einem ewigen Strahl von Licht ... Ihr seid hinausgezogen in die Ferne, und es ist gut, wenn rings in einem weiten, ungeheuren Kreise die Kinder dieser Stadt auf Grenzwacht stehen. Sie sollen das heilige Licht bewachen, das von hier ausstrahlt wie eine Mahnung derer, die gewesen sind, an die, die sein werden. Vergiß es nicht, wenn deine Söhne einmal heranwachsen, sie jeden Morgen und jeden Abend daran zu erinnern, daß ihre Väter für ihr Vaterland, für ihr Volk und für die Freiheit gekämpft haben!«
»Ich werde es nicht vergessen!« sagte Bethy.
Dr. Lois Birenz hatte sich Ludgern genähert.
»Warum haben Sie mich übergangen?« sagte er schroff. »Gehöre ich nicht halb und halb zu den Mairold-Kindern? Und jedenfalls bin ich ein Schwiegersohn.«
»Man sagt, Sie seien Sozialist.«
»Also doch Parteimann? Ich glaubte, Sie wären ein Wilder.«
»Ich gehöre der Herrnfeldpartei an, und bei dem strengen Klubzwang, der leider besteht, bin ich natürlich gezwungen, mich dem Diktat der Mehrheit zu unterwerfen.«
»Aus wieviel Mitgliedern besteht denn Ihre Partei?«
»Eigentlich nur aus mir selbst; ich bin das einzige Mitglied, aber gerade darum wurde ich zum Obmann gewählt, mußte das Amt des Obmannstellvertreters übernehmen und konnte auch das Amt des Schriftführers nur mit mir selbst besetzen. In dem Falle nun, auf den Ihre Interpellation sich bezieht, beantragte der Obmannstellvertreter, auch den Dr. Lois Birenz unter den deutschen Volkskämpfern aufzuzählen, die die Zukunft vorbereiten. Der Schriftführer machte dagegen geltend, daß Dr. Lois Birenz nicht auf der Wegwacht, sondern im sozialistischen Lager stehe. Der Obmann schritt zur Abstimmung, das Mitglied stimmte mit dem Schriftführer, und Sie fielen durch. Ein letzter Versuch des Obmanns, zu Ihren Gunsten zu dirimieren, blieb leider erfolglos. Ihre Gegner schlugen einen fürchterlichen Lärm, behaupteten, es sei gegen die Geschäftsordnung, und überzeugten den Obmann durch ein Tintenfaß, das ihm an den Kopf flog, von der Gültigkeit der bereits vollzogenen Abstimmung. So mußte es denn leider dabei bleiben.«
»Ich kann Ihrem politischen Scharfblick meine Bewunderung nicht versagen,« sagte Lois ironisch, »wenn Sie die Sozialisten nicht zu denen zählen, die um die Zukunft kämpfen.«
»Wer sagt Ihnen das?« gab Herrnfeld zurück. »Alle vier Mitglieder meiner Partei zählen die Sozialisten zu den Kämpfern für die Zukunft. Aber zwei davon sind der Meinung, daß sie mit falschen Waffen kämpfen, mit zuviel Verstand und zu wenig Gemüt, und daß die gesunde Entwicklung langsam gehe und alles Gewaltsame sie eher hemme als fördere. Die beiden anderen Mitglieder, von denen, wie erwähnt, eines sogar der Vorsitzende selbst ist, teilen diese Ansicht nicht, und damit mögen Sie sich trösten.«
»Eines Trostes bedarf ich gerade nicht,« sagte Lois lachend, »aber wenn Sie mir einmal gelegentlich eine Unterredung gewähren wollen, so möcht' ich es gern versuchen, Sie von der Richtigkeit meiner Anschauungen zu Überzeugen.«
»Um Gotteswillen, daß Sie mich am Ende herumreden!« rief Herrnfeld erschrocken. »Es haben ja alle bis zu einem gewissen Grade recht und alle unrecht. Der die Helden spielt, ist manchmal ein schlechter Kerl, und der die Intriganten gibt, im Leben nicht selten ein Prachtmensch. Ich sehne mich aus diesem Reich der Schminke, der Perücken und falschen Bärte ins Parterre zurück.
Solange die Welt aussieht wie heute, täte man besser, in einem großen Wald zu leben und ein Philosoph zu werden. Ich hätt' es auch schon längst getan, wenn Einsiedlerklausen mit guter Verpflegung und Badezimmer zu vermieten wären. Aber Wurzel und Kräuter – pfui Teufel! Und der Schmutz! Da kann ich lieber gleich bei der Politik bleiben.«
Verflackert dein Feuer so rasch, Ludger Herrnfeld? Sollte es denn nicht echt sein? Oder ist es ein St. Elmsfeuer, das gewisser Witterungsstimmungen und sehr hoher Gegenstände bedarf, um seine Elektrizität auszusprühen? Nein, die Unechten sehen anders aus wie du, aber die Ganzen freilich auch. Wer weiß, ob in deinem Klub von vier Mitgliedern nicht oft so tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen wie in viel größeren? Und wer weiß, ob nicht manche Entscheidung dadurch herbeigeführt wird, daß dir in deiner Eigenschaft als Obmann ein Tintenfaß an den Kopf fliegt, das du selbst in deiner Eigenschaft als Mitglied geschleudert hast? Ein Mann, der so fest in seinen Stiefeln steht wie Lois Birenz, wird kein Verständnis für dich übrig haben, und du kannst es seiner Dankbarkeit zuschreiben, die er noch von seinen Bubenjahren her für dich hegt, daß er sich nur schweigend abwendet und zu Doll hinübergeht, seinem alten Kameraden, dem er so kräftig die Hand drückt, daß man gleich sieht, es ist noch die innige Freundschaft von früher, die sie verbindet.
Herr Thom Bornschbögel hat sich inzwischen in ein längeres Gespräch mit seiner Schwester vertieft. Er macht sie aufmerksam auf gewisse Mängel und Fehler, die er an ihren Söhnen und Töchtern wahrgenommen, und rät ihr, wieder ihre Kinder aufmerksam zu machen, daß sie sie ablegen möchten. Aber sie lächelt bloß, daß die kleinen Fältchen an den Augen durcheinanderschießen und meint: »Geh', laß sie doch! Warum sollen sie nicht auch ihre Fehler haben? Jetzt ist es ohnedies schon zu spät, jetzt können sie gewiß keine Heiligen mehr werden!«
»Ein freundschaftlicher Rat sollte unter Verwandten mit Dankbarkeit aufgenommen werden,« bemerkte Herr Thom scharf.
»Ach, Thom, reg' dich nur nicht auf,« klagte Frau Minka. »Bitte, Therese, sag' ihm, daß er sich nicht aufregen soll! Du weißt, es schadet ihm!«
In einzelnen Gruppen unterhielten die jungen Leute sich gut miteinander, es wurde gescherzt und gelacht, und der Großvater kam auf keinen Stuhl, er ging nur immer von einem zum andern und hatte für jeden ein gutes Wort. Es war, als ob er sich alle noch einmal recht gut anschauen wollte, um sie im Gedächtnis zu behalten. Und oft führte er Vefi an der Hand und erzählte jedem von ihrem guten Zeugnis, und daß es schon etwas wäre, wenn ein junges Mädchen, das es nicht nötig hätte, selbständig hinaustrete ins Leben, um zu leisten und zu wirken. Und dann fügte er jedesmal hinzu: »Darum hab' ich ihr auch ein Blumenfest gegeben, und japanisch ist es bloß deswegen, weil die Chrysanthemen japanesische Blumen sind.«
Und so wurde es nach und nach dämmrig, der frühe Winterabend schlich durch die Stuben, und jetzt wurden die Lichter in den vielen bunten Papierlampions angezündet, die von den Decken hingen. Da trat Frau Bohatschek ein, als Japanerin verkleidet, mit einer Frisur, die natürlich nicht so echt hätte sein können, wenn sie nicht falsch gewesen wäre, und brachte das Teebrett und Tassen und alles Zubehör, und Vefi half ihr die Gäste bedienen. Mit Ernst begonnen und heiter beendet – das war nach des Großvaters Sinn. Man blieb noch lange munter beisammen, und Frau Bohatschek, die nicht wenig zur allgemeinen Fröhlichkeit beitrug, tat nicht zimper, machte kleine, kurze Schrittchen, kühlte den Tee, wenn er zu heiß war, mit dem Fächer und lupfte manchmal ihren Kimono, daß man ihr nichts weniger als japanisches Schuhwerk zu sehen bekam. Es war wirklich edel von ihr, wie sie den Spaß mitmachte. Niemand hätte ihr eine solche Selbstverleugnung zugetraut. Aber sie vergab sich dabei nichts. Über ein Kostüm mochte man lachen, sie selbst war den andern Tag doch wieder – die Frau Bohatschek. Und dann tat sie es auch Vefi zulieb. Der Abschied von dem lieben Mädchen, das sie schon gekannt hatte, eh' es geboren war, fiel ihr schwer. Wie leicht hätte eine gedrückte Stimmung aufkommen können, bei ihr und beim Großvater und bei Frau Mairold. Nein, das sollte nicht geschehen! Man konnte sich doch nicht zusammensetzen, um zu schluchzen, wie einem eigentlich zumut gewesen wäre.
»No, und deswegen,« hatte sie sich entschlossen, »mach' ich ihnen meinetwegen einen Kasperl.«
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