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Es gibt Herbsttage, die einem windgeschützten Wasserspiegel gleichen, wunschlose Tage, die kein Hauch trübt, die tief und reich und wie verklärt scheinen. Tage, die mit Dankbarkeit erfüllen, weil man sie erleben durfte. Ein solcher Tag stieg blau und strahlend über dem weiten Marchfeld auf und hob segnend seine rosigen Hände – da brauste mit lautlosem Jubel eine Flut von Licht über das ungeheure Häusermeer von Wien. Die Türme und Kuppeln von Kirchen und Palästen badeten sich im goldenen Duft der Sonne, und hunderttausend Fensterscheiben, geblendet von ihrer feurigen Schönheit, hielten ihr demütig den Spiegel vor, daß sie sich darin beschaue.
Frau Sonne indessen war nicht eitel, daß sie schön sei, wußte sie längst; sie leuchtete nicht, damit die Welt sie bestaune, sie leuchtete, weil es ihr Freude machte. Aber ihre Fehler hatte sie auch, wie alles Irdische, und wenn sie keine Eitelkeit kannte, so plagte sie dafür um so mehr die Neugier. Darum langweilten sie die unzähligen verjüngten Kunterfeite, die die blitzenden Fensterscheiben ihr entgegenhielten, und die sich mit ihrer eigenen Pracht doch nicht zu messen vermochten. »Wie ich ausseh', weiß ich ohnedies,« sagte sie ungehalten; »aber was die Menschen tun und treiben, möcht' ich wissen. Das interessiert mich immer wieder aufs neue, weil ihnen auch immer wieder etwas Neues einfällt.« Und wendete keinen Blick auf ihre tausendfältig wiedergespiegelte Herrlichkeit, sondern schlich sich durch die Fensterscheiben hindurch in Stuben und Kammern und sah sich um und spionierte.
Da machte in einer hochgelegenen Vorstadtgegend jemand ein Fenster auf und ließ sie ein. Fröhlich huschte sie über den blank gebohnten, kunstvoll getäfelten Fußboden hin und erfüllte das geräumige Zimmer mit Glanz. Vorwitzig umherlugend, betrachtete sie, was rings an den Wänden stand. Da gab es hochbeinige Bücherkästen, aus denen die goldgepreßten Einbände hinter grünen Gardinen hervorlugten, da gab es Stühle, deren Rückenlehne einer Lyra mit kleinfingerdicken Saiten aus geglättetem Ebenholze glich, da stand ein altväterischer Schreibschrank mit vielen kleinen Fächern und Lädchen, über die man einen schweren gewölbten Holzdeckel herabklappen konnte, wenn man sie alle auf einmal verschließen wollte. Die schönen, rötlichbraunen, spiegelglatt polierten Möbel aus der Zeit des behaglichen Wohlstands, in der man wenig von Kunst redete, aber um so mehr Wert auf edel gediegenen Hausrat legte, gefielen ihr so gut, daß sie sich's nicht versagen konnte, liebevoll darüber hinzustreichen. Und wie sie ihre Strahlen auf ihnen spielen ließ, sprühte bald da, bald dort ein kleines Feuerwerk von lebendigen Lichtern auf, das wie ein schalkhaftes Kichern klingelte.
Jetzt sah sie sich erst nach dem rundlichen alten Herrn um, der ihr den Fensterflügel aufgetan. In seinem grauen Schlafrock, ein gesticktes Hauskäppchen mit goldener Quaste auf dem Kopf, stand er am offenen Fenster und atmete in tiefen Zügen die frische Morgenluft. Und während er die Hand schützend über die Augen hielt, blickte er über das endlose Gewühl von Dächern und Rauchfängen hinweg in die Ferne, wo aus bläulichem Dunst das steile, bunt gemusterte Dach des Stephansdomes aufstieg und wie ein tausendjähriger Traum der kühne Turm gegen Himmel wirbelte, dessen goldener Knauf hoch über dem Häusermeere gleich einem Leuchtturmfeuer blitzte und funkelte. Nun beugte er sich hinaus und sah nach der andern Seite hin, wo die sanftgeschwungenen Höhen des Kahlenberges über den Dächern sichtbar wurden und der Leopoldsberg, der einst die Burg der Babenberger getragen, im farbigen Schmuck seiner herbstlichen Wälder feurig erglühte. In einer steilen, beinahe an eine Bastion erinnernden Linie senkte dieser Berg sich gegen die Donau nieder, ein trutziges Bollwerk, vorgeschoben bis knapp ans letzte deutsche Ufer des mächtigen Stromes, dräuend gegen die nahen Grenzen der Slawen und Ungarn. Seit fast sagenhaften Zeiten schmiegten sich in die Falten seines rebenumkränzten, sanft bis in die Niederung hinwallenden Gewandes die Mauern von Wien, den herrlichsten deutschen Dom in ihrer Mitte. Seit fast sagenhaften Zeiten hielt Deutschlands erzgepanzerte Faust über diese alte Stätte deutscher Kultur, über diesen äußersten Vorposten deutscher Art und Sitte das Schwert und das Kreuz. Hier hatte der böhmische Ottokar verblutet, hier war die Macht der Türken zerschellt. Wie ganz anders hatten im Wechsel der Jahrhunderte die Verhältnisse sich gestaltet! Wie hatten die Notwendigkeiten des Völkerlebens, wie hatte das Ränkespiel des Eigennutzes und die Nebenbuhlerschaft um den Besitz der Macht das Gefühl der Zusammengehörigkeit zerstört! Nun war es Deutschland selbst, das mit einem entschlossenen Säbelhiebe eins seiner blühendsten Glieder sich vom Leibe trennte ...
Ernst und nachdenklich gestimmt, betrachtete der alte Herr die unter dem prangenden Morgenhimmel hingebreitete Stadt, in der allmählich die Geräusche des Tages erwachten und der Verkehr zu grollen begann.
»Vielleicht ist Österreich,« dachte er, »gar nicht so alt, wie wir immer glaubten? Vielleicht ist es erst am dritten JuliSchlacht bei Königgrätz. begründet worden? ... Wir werden umlernen müssen, wir Alten!« ...
Und er nickte wehmütig lächelnd, so als ob er mit den »Alten« nicht bloß sich und seinesgleichen meinte, zu der ehrwürdigen Burghöhe Leopolds des Heiligen hinüber und zu dem altersgrauen Dom, auf dessen Spitze das Leuchtfeuer des jungen Tages flammte und glitzerte.
Jetzt zog er die Uhr, erschrak, als ob er sich versäumt hätte, und trippelte in seinen weichen Morgenschuhen eilfertig zu dem andern Fenster hinüber, wo auf einem Tische ein Zeichenpult mit einer halbfertigen Federzeichnung aufgeschlagen stand. Eine Zeitlang betrachtete er aus einiger Entfernung die Arbeit des gestrigen Tages, schüttelte unzufrieden den Kopf, setzte sich endlich, rieb chinesische Tusche an und begann mit der Feder zu zeichnen. Da wurde die Sonne wieder neugierig, schlich sich wie eine leise Katze über seinen Rücken hinauf und lugte ihm über die Schulter.
Was war das für ein mühsames Werk, das er da auf dem aufgespannten Papiere aus lauter kleinen und feinen Strichelchen gewissenhaft zusammenbaute! An den Lichtern gab es freilich nichts weiter zu tun, die ließ er leer; in den Halbschatten aber legte er mit seiner nadelspitzen Feder die Strichlein sorgfältig nebeneinander wie ein appetitliches Gericht Spargel, und in den tiefen Schatten gar flocht er ganze Gitterwerke aus Strichelchen, als ob er die unwirtlichen Fenster eines Kerkers nachbilden wollte. Ein Kupfer, das er neben sich liegen hatte, diente ihm bei dieser Tätigkeit als Leitfaden und Wegweiser. Es stellte den Paß Luegg im Salzburgischen vor – Frau Sonne kannte ihn gut, wie oft hatte sie in seine Abgründe hineingeleuchtet! Den Paß Luegg mit der alten, halbverfallenen Burg obenauf, die die Straße bewacht, und der schäumenden Salzach tief unten in der Schlucht.
Indessen hielt der alte Herr sich nicht knechtisch an sein Vorbild. Er wollte seinem Blatte eine noch viel größere Kraft, eine noch viel tiefere Tiefe geben. Darum überzog er die schattigen Stellen mit noch viel schwärzeren Gittern, als der Kupferstecher es gewagt hatte, und an einzelnen Punkten, wo man gar keinen Boden mehr sollte sehen können, weil es wie in die Hölle hinunterging, da legte er die Strichlagen so dicht übereinander, daß sie schließlich zu einem abgründigen, tintenklecksartigen Gebilde zusammenflossen.
Darüber freute Frau Sonne sich ganz kindisch, denn sie wußte, daß ihr Licht um so mehr zur Geltung kommen mußte, je düsterer die Schatten dunkelten, und je bodenloser die Abgründe gähnten. Und um die Bemühungen des emsigen Zeichners, wie sie es verdienten, zu unterstützen, zauberte sie auf die helle Mauerwand der Burg Luegg ein rundes, warmes, leuchtendes Sonnenkringel, wodurch die ganze Landschaft plötzlich so täuschend natürlich wurde, daß man beinahe nicht glauben konnte, bloß eine Zeichnung vor sich zu sehen. Wenigstens der alte Herr fand, daß dem so sei, und darüber hatte nun wieder er seine helle Freude. So gut war ihm schon lange keine Zeichnung gelungen, meinte er. Und angeeifert durch den Erfolg, beschloß er, auf dem betretenen Pfade auszuharren und die Schatten immer noch schwärzer und die Abgründe immer noch abgründiger zu machen – als die Tür aufging und eine behäbige Frau, mit Besen und Mistschaufel bewaffnet, ins Zimmer trat.
»Sie stehen auch jeden Tag früher auf, Herr Bornschbögel,« sagte sie ungehalten; »an ihrer Stelle tät' ich mich überhaupt gar nicht mehr niederlegen!«
»Glauben Sie, ich werd' einen solchen Göttermorgen verschlafen?« sagte er vergnügt. »Dazu hab' ich, in meinem Alter, keine Zeit mehr!«
Sie bewegte, weil er unbeirrt weiter zeichnete, den Stiel der Schaufel aus dem Handgelenk, so daß das schwingende Blech Töne von sich gab wie das Musik- und Tanzinstrument irgendeiner kohlschwarzen Nation. Da aber alles Zeichengeben nichts fruchtete, so näherte sie sich, schüttelte den Kopf und stieß einen fast besorgniserregenden Seufzer aus.
»Und immer tüfteln und stricheln schon in aller Früh' –« sagte sie in einem Jammerton, der sich würdig an den vorausgegangenen Seufzer schloß. »Nein als ob Ihnen wer was dafür zahlen tät'!«
»Das ist der Paß Luegg,« sagte er, sich in seinem Sessel zurücklehnend und das Werk seines Fleißes mit unverhohlener Befriedigung betrachtend. »Schauen Sie sich das einmal an, das bekommt meine Tochter zu ihrem Geburtstag als BindbandAngebinde..« Frau Bohatschek, den Besen in der einen, die Schaufel in der andern Hand, trat hinter seinen Stuhl, um die Kunstleistung zu besichtigen.
»Eine schieche Gegend,« sagte sie. »Ich hab' mir's eh' schon ein paarmal angeschaut. In dem Felseng'schloß möcht' ich nicht wohnen, nicht um ein Eckhaus! Und das Wasser rinnt noch alleweil bergauf.«
»Finden Sie?« sagte er ein bißchen enttäuscht. Aber einer löblichen Selbsterkenntnis, die an sein Gewissen pochte, rasch Tür und Tor öffnend, setzte er aufrichtig hinzu: »Eigentlich kommt's mir auch so vor. Ja, mit der Salzach hab' ich ein Kreuz, sie will sich halt durchaus nicht legen! Es kommt manchmal gerade bloß auf ein paar Stricherln an!«
Er nahm die Feder zur Hand und wollte die »paar Stricherln« hinsetzen.
»Jetzt wird hier ausgekehrt!« sagte sie.
»No, kehren Sie nur mich nicht hinaus, Brummbär! Auf die halbe Minute wird's doch nicht ankommen?«
»Wenn die Salzach die ganze Zeit her Manderln gemacht hat, so wird sie sich in der halben Minute auch nicht bändigen lassen.«
»Da haben Sie recht, Frau Bohatschek,« sagte er, die Feder hinlegend. »Übers Knie brechen soll man nichts, und die rechte Einsicht kommt immer erst nach und nach!«
Müßiggehen brauchte Herr Bornschbögel nicht, auch wenn ihn der staubfressende Drache aus dem Tempel der Kunst vertrieb. Er hatte, seit er sich vom Geschäft zurückgezogen, gleich für zwei Freudenschmäuse gesorgt, an die er sich abwechselnd setzen konnte. Die eine Tafel war mehr für den Winter gedeckt, die andere mehr für den Sommer, oder, wenn man lieber will, die eine mehr für Regenwetter, die andere mehr für Sonnenschein. Denn bereit standen sie immer beide, und wenn es mit der Kunst nicht mehr ging, so kam die Natur an die Reihe, oder umgekehrt. Die an Arbeit gewohnte Seele war stets hungrig nach Schaffen und Hervorbringen, und zwar mußte es etwas Hübsches sein, etwas Farbiges, oder wenigstens etwas Zierliches; sonst hätte sie die schönen glatten und gemusterten Seidenzeuge zu sehr vermißt, die sie mehr als ein Menschenalter lang aus dem Nichts hervorgezaubert hatte. Darum teilte Herr Bornschbögel sein Leben zwischen Tuschnäpfe und Gartentöpfe, und wenn, wie es jetzt der Fall war, Frau Bohatschek das Federzeichnen untersagte, weil sie auskehren wollte, so begab er sich ganz einfach zu seinen Blumen.
Der Garten hinter dem Hause war nicht einmal gar so klein. Jetzt stand er voll Astern. Sie blühten in allen Farben, amarantviolett und blauviolett, lavendelblau und weiß, fliederfarben und rosenrot, feuerrot und purpurn, beinahe bis zu schwarz, und bronzefarbig bis zum prachtvollsten Kupferbraun. Überall blühten sie, in Beeten, in Gruppen, in Einfassungen, überall Astern, nichts als Astern. Herr Bornschbügel war gewohnt, alles was er anfing, gründlich zu machen. Dieser Herbst gehörte den Astern, den hochstämmigen und den zierlichen, den großblütigen und den kleinblütigen, den gefüllten und den einfachen, den alltäglichen und den seltensten. Und während er andächtig zwischen den herrlichen zarten und satten Farben umherging, wählte er im Geiste aus, was er in Töpfe setzen wollte, um die Wohnung im ersten Stock des Hauses zu schmücken, wenn seine Tochter mit den Kindern aus Nedweditz heimkehren würde. Fast war ihm zumute, als musterte er wie einst in seinem Magazin schöne schillernde Seidenstoffe, nur daß bei diesen der Färber seine Hand mit im Spiele gehabt hatte, während hier wie durch ein Wunder alles gleichsam von selbst wurde, wie es war, das reine Tischlein-decke-dich. Und er freute sich unter dem wunderbar klaren, sonnigen Herbstmorgen, den er jetzt im Freien doppelt genoß, daß die Welt so voll von Wundern war.
Als Frau Bohatschek den Kaffee auf den Frühstückstisch stellte, siehe, da lag ein Brief auf dem Auftragebrett. Er erbrach ihn und sagte ganz gelassen, aber mit einer Stimme, die von verhaltenem Jubel fast ein wenig zitterte: »Heute abend kommen sie!«
Sie war gleich stehen geblieben, um zu erfahren, was in dem Brief stünde, und sagte: »Es ist alles parat unten, im ersten Stock. Bloß die Vorhänge sind noch nicht aufgemacht. Dreimal war ich beim Tapezierer, dreimal hat er mir versprochen zu kommen, aber meinen Sie, es hätte was genützt?« ...
Und sie holte aus, um die Geschichte vom Tapezierer ausführlicher zu erzählen. Aber er unterbrach sie, indem er sagte: »Blumen müssen auch noch hinein! Ein ganzer Wald von Astern!«
»Jesses, werden die Kinder eine Freud' haben!« rief sie die Hände zusammenschlagend.
Wenn es sich nicht um Kunstwerke und Staubauskehren handelte, war sie eine ganz trätable Person, und die Kinder hatte sie gern.
»Ob die Veferl schon recht groß geworden ist?« meinte sie jetzt.
»Und erst der Franzl!« sagte er strahlend. »Der war ja noch ein Wickelkind, jetzt wird er uns entgegenlaufen!«
Aber in solchen Dingen hatte sie eine bessere Schätzung.
»Was Ihnen nicht einfallt, Herr Bornschbögel, der Franzl ist ja noch nicht einmal abgespent!«entwöhnt.
»Das macht nichts,« meinte er, »deswegen kann er doch laufen können! Wie alt ist er denn?« Er rechnete es an den Fingern nach. »Bald acht Monate,« sagte er, »no also!«
»Das müßte schon ein Wunderkind sein,« sagte sie lachend.
»Ist er auch!« behauptete Herr Bornschbögel eifrig. »Ist auch ein Wunderkind! Was der schon für Augen gemacht hat, wie er drei oder vier Tage alt war! Ich hab' nur immer gewartet, daß er den Mund aufmacht und ›Großvater‹ sagt – so hat er mich angeschaut!«
Er beeilte sich mit dem Frühstück und lief in den Garten. Den ganzen Vormittag arbeitete er wie ein Kuli, grub Astern aus dem Boden, setzte sie in Blumentöpfe und schleppte sie, einen Arm voll nach dem andern, die Treppe hinauf, vor die Wohnungstür, wo sich allmählich ein ganzer Blütenhain ansammelte; deswegen war aber im Garten noch lange nichts zu bemerken. In dieser Asternwildnis hätte man noch viel ausgiebiger roden können, ohne daß Lücken sichtbar geworden wären.
»Sehen Sie, wie gut es war, daß ich früh aufgestanden bin,« sagte Herr Bornschbögel beim Mittagessen zu Frau Bohatschek. »Jetzt stehen die Astern erst auf dem Gang. Ich wär' ja mein Lebtag nicht fertig geworden!«
»Warum muß es auch gleich der halbe Garten sein?« meinte sie; »weniger hätt' es auch getan.«
»So –? Neidkragen –! Haben Sie ganz auf die Cholera vergessen? Und auf die Preußen? Das ist kein gewöhnliches Wiedersehen, wissen Sie, bei so einem Anlaß werd' ich meine Astern nicht zählen!«
Am Nachmittag ging es ans Verteilen der Blumen in den Zimmern. Für jedes hatte er etwas Besonderes bestimmt. Für Frau Therese ein ganzes Fenster voll Großblütiger in schwarzpurpur, weil sie vermutlich noch Trauer trug; erst kürzlich war das Jahr voll geworden seit dem Tod ihres Mannes. Ans andere Fenster kamen schneeweiße, die gehörten dem kleinen Franzl, weil er sich noch im Stande der Unschuld befand. Für Käthi ein Fenster Gefüllte mit rosenroten Strahlen wie der erwachende Tag, für Vefi ans zweite Fenster die neuen Staudenförmigen, die mit ganz kleinen, aber überaus zierlichen und unzähligen Röschen bedeckt waren. Riki, die schon ihre eigene kleine Stube hatte, bekam blaue in allen Abschaltungen, und bei den Buben war es nicht so heikel, die mochten sich mit den gewöhnlicheren Sorten begnügen, vielleicht vergaßen sie ohnehin, die Blumen zu begießen, und ließen sie verdursten. Aber blühen sollte es auch bei ihnen; bei Christi und Moini, den beiden Lateinschülern, bunt durcheinander, weil es auch in ihren Köpfen ungefähr so aussehn mochte, bei Doll und Wolfi ebenfalls bunt durcheinander, aber wieder aus einem anderen Grunde: weil das unbekannte Leben ihnen noch in allen Farben schillerte.
Schließlich stellte er noch auf jeden Tisch, auf jeden Schrank ein paar Töpfe, hauptsächlich jubelnd rote, zur allgemeinen Aufheiterung, und damit Frau Therese sich erinnern sollte, daß jede Trauer ein Ende nehmen und der Mensch wieder dem Leben und der Freude gehören müsse. Und dann sah er an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut. Nur auf den Öfen, meinte er, hätte allenfalls noch etwas Platz. Eben war er auf einen Stuhl gestiegen und hatte begonnen, den Schutzengel, der auf Frau Theresens Ofen stand, rings mit Astern zu garnieren, als unten ein Wagen vorfuhr und gleich darauf ein zweiter. Kaum fand er Zeit vom Stuhl zu klettern, so stürmte es auch schon die Treppe herauf, und im nächsten Augenblick wurde Herr Bornschbögel in Küssen beinahe erstickt.
Der gipsene Schutzengel auf Frau Theresens Ofen hatte sich gern die Hände gerieben vor Vergnügen: die vielen Kinder waren wieder da! Aber weil er selbst ein gipsenes Knäblein an der Hand führte, das er nicht loslassen durfte, und in der andern Hand einen gipsenen Palmzweig zu halten hatte, so mußte er sich darauf beschränken, die großen gipsenen Schwingen, die ihm aus den Schultern wuchsen, leise hin und her zu bewegen; und dabei lächelte er wohlgefällig auf die Umarmungen nieder, die sich zu seinen Füßen abspielten. Aber niemand bemerkte es, und alle meinten, es sei das Wiedersehen von Menschen, die einander lieb haben, daß auf einmal ein solcher Hauch von Himmelsluft durch den Raum wehte.
Mitten im Jubel erinnerte sich der Großvater an den Franzl und sah sich nach ihm um. Er machte auf einmal ein ganz verdutztes Gesicht: »Ja – und wer soll denn das da sein?«
»Das ist der Lois Birenz,« sagte Doll, der ein zugebundenes Einsudglas mit dem Freudenfrosch in der Hand trug.
Frau Therese hielt es für nötig, ein erklärendes Wort hinzuzufügen, weil der Großvater den Lois Birenz gar so entgeistet anstarrte.
»Der Lois bleibt bis auf weiteres bei uns, Vater,« sagte sie; »ich werde dir später von ihm erzählen.«
»Ich erinnere mich schon, du hast mir ja von ihm geschrieben,« sagte Herr Bornschbögel, sich fassend. »Aber im ersten Augenblick bin ich beinah' erschrocken –: Teuxel, hab' ich mir gedacht, so groß kann der Franzl in der Zeit doch noch nicht geworden sein?«
Da trat die alte Zilli mit dem richtigen Franzl ein, aber der wurde wirklich noch immer auf dem Arm getragen. In dem fröhlichen Lachen, in das der Großvater mit einstimmte, hörte man aus dem tiefsten Hintergrunde auf einmal ein vergnügtes Aufkirren, das fast wie ein Juchschrei klang. Alle sahen sich um. Es war Frau Bohatschek, die für einen Augenblick die Herrschaft über sich verloren hätte, vor lauter Triumph, weil sie dem alten Herrn gegenüber einmal recht behalten.
»No, no, no!« machte Herr Bornschbögel. »Also schauen Sie her, Frau Bohatschek – aufrecht sitzen kann er ja doch schon, der Franzl! Gelt, Bubi? Gib dem Großvater das Handerl? So!« ...
Das Abendessen war diesmal gemeinsam. Auf dem Tisch blühten Astern, lauter rote: Flaggengala. Vefi hatte außerdem eine ihrer kleinen, niedlichen Staudenförmigen mitgebracht und vor sich hingestellt, die mit unzähligen Röschen übersät war. Sie konnte sich gar nicht mehr von dem Anblick trennen, und es war, als ob die Röschen, die noch in den Knospen staken, unter ihrem entzückten Betrachten erblühten wie unter der Sonne.
Frau Therese mußte berichten und immer wieder berichten, wer etwas zu sagen hatte, half mit, und der Großvater wurde nicht müde zu fragen.
»Eine Courage hat schon dazu gehört,« meinte er schließlich; »aber wacker war es doch von dir, daß du ausgehalten hast und nicht davongeloffen bist. Wenn die Wellen hoch gehn, darf der Schiffskapitän sich nicht ans Land setzen lassen. Und den Buben wird es auch gesund gewesen sein, daß sie einmal einen Ernst gesehen haben.«
Sie erzählte von der Angst jener Nacht, in der Moini an der schrecklichen Krankheit knapp vorbeigekommen war.
»Also, jetzt kannst froh sein!« sagte der Großvater aufgeräumt. »Wie manche Familie hat ihr Liebstes verloren, in dieser bösen Zeit, du hast zu deinen Kindern sogar noch einen Buben dazubekommen und bringst einen neuen Hausgenossen mit, der mir bis jetzt recht gut gefällt. Er kann auch Großvater zu mir sagen, wenn er mag.«
Der Lois Birenz wurde rot, aus Verlegenheit, weil von ihm die Rede war, und aus Freude, weil er dem alten Herrn sollte Großvater sagen dürfen. Doll, der neben ihm saß, ermutigte ihn durch einen Schlag auf den Schenkel. Da sagte der Lois Birenz: »Bittschön, Herr Großvatter! Dankschön, Herr Großvatter!«
Herr Bornschbögel nickte ihm lächelnd zu, zündete sich eine Zigarre an und sagte noch: »So bleibt es halt doch alleweil das Gescheiteste, man tut, was einem bestimmt ist ...« Er sah die blauen Rauchwölkchen zerfließen und hing seinen Gedanken nach. »Schließlich geht es auf der Welt auch nicht viel anders zu als beim Weben,« sagte er behaglich. »Wenn einer zimper ist und nicht weiß, soll er ordentlich auf seine Tritte steigen oder nicht, aus lauter Angst, es könnten ihm ein paar Kettfäden reißen, so reißen sie ihm manchmal erst recht. Wer aber ruhig und gleichmäßig, wie es sich gehört, seine Schemel tritt und nicht rechts noch links schaut, dem gelingt es oft ganz wunderbar, daß er schön kleinweis das ganze Stück glücklich zu Ende bringt, ohne daß ihm was dabei passiert ist. No, und wenn es eine gute und schöne Webe ist, so kann man ein Feiertagskleid draus machen, daran haben nachher viele Menschen eine Freud'!«
Die Worte ihres Vaters taten Frau Therese wohl. Aber es gibt mehr Meinungen unter den Menschen, als man glaubt, und nicht alle urteilten wie Herr Bornschbögel. Auch die Nahestehenden, die unser Bestes wollen, können unser Tun oft nicht begreifen, weil die Kreise, in denen die Gedanken und Gefühle eines jeden eingeschlossen sind, die Kreise der anderen zwar manchmal schneiden, aber niemals völlig durchdringen und decken.
Das sollte Frau Therese neuerdings erfahren, als einige Tage später Ludger Herrnfeld, ein Freund ihres verstorbenen Mannes, sie besuchte, der tolle Ludger, den sie halb liebte, halb fürchtete, der elegante, zartfühlende, spottlustige, rücksichtslose, sehnsüchtige Ludger Herrnfeld. Herr Mairold hatte große Stücke auf ihn gehalten, obgleich Ludger beträchtlich jünger und eine ganz anders geartete Natur war. Und die seltene Treue, mit der dieses Aprilwetter von einem Menschen an dem Verstorbenen und seinem Hause hing, verlieh ihm eine Ausnahmestellung, die durch keine verwandtschaftlichen Rechte hätte übertroffen werden können.
»Ich habe einen wahren Grimm auf Sie gehabt,« sagte er, als er eintrat. »Ihre Gegenwart macht mich wieder zum Lamm. Ich mag mir die Laune nicht verderben, darum verzichte ich darauf, Sie nachträglich abzukanzeln. Die Vorsehung sei gepriesen!«
»Seit wann anerkennen Sie eine Vorsehung?« fragte sie lachend.
»Ich anerkenne, was sich bewährt,« sagte er. »Ob die Homöopathie oder die Allopathie mich kuriert, ist mir gleichgültig; wenn ich nur wieder gesund werde.«
»Sind Sie krank?« fragte sie teilnehmend.
Ludger Herrnfeld lachte.
»Nein, nein – nicht so nach der gewöhnlichen Art. Übrigens – wem fehlt es nicht im Kopf oder im Herzen oder sonstwo? Reden wir nicht davon! Was hat es für einen Sinn, wenn der Mops mit der Wurst über den Spucknapf springt? Kriegt er sie nicht zu fressen, so soll er wenigstens das Springen sein lassen.«
»Sie sind dunkel,« sagte Frau Therese.
»Wie das Innere einer Nuß. Wer den Nußknacker gebrauchen wollte, fände vielleicht etwas, das einem Kerne ähnlich sähe – einem süßen, oder einem bitteren.«
Sie schwiegen. Im Nebenzimmer hörte man durch die verschlossene Tür ein endloses Geklimper auf und nieder, es war Riki, die auf dem Klavier Skalen übte.
»Mit der Zeit müssen Sie mir alles erzählen,« sagte Herrnfeld. »Die Kinder werden es mir erzählen. Heute will ich mich bloß freuen, daß Sie wieder da sind« ...
Er lauschte vorgebeugt und deutete mit dem Daumen nach der Tür.
»Wieso?«
»Hinauf, hinunter ... hinauf, hinunter ...«
Er stand auf und ging auf dem weichen Teppich hin und her.
»Hinauf, hinunter ... Geistlos und öde ... Gott im Himmel!«
»Da ist mir gerade etwas Merkwürdiges eingefallen,« sagte er stehen bleibend. »Die Menschen sind große Optimisten. Fragen Sie einmal herum: an den Teufel glaubt fast keiner mehr, an Gott glauben sie fast alle. Ist das nicht merkwürdig?«
»Wie haben Sie all die Zeit her gelebt?« fragte Frau Therese ablenkend.
»Wie immer, in einem großen Walde« ... Er setzte sich ihr wieder gegenüber und sah sie an. »Trauer steht Ihnen gut,« sagte er; »Sie sollten sie niemals ablegen. Auch in zehn Jahren nicht!«
»Es ist kaum erst ein Jahr verstrichen ...« sagte Frau Therese befangen ... »Warum waren Sie eigentlich ungehalten?«
»Ach – es hat doch keinen Zweck, Pulver zu verpuffen, nur damit es knallt!« sagte er ungeduldig. »Wo sind denn die Kinder? Ich möchte die Kinder sehn!«
Sie befanden sich teils in der Schule, teils waren sie an die Luft geführt worden. Bloß Riki war zu Hause. Frau Therese wollte sie rufen. Aber Herrnfeld hielt sie zurück.
»Lassen Sie Riki Skalen üben!« bat er. »Es ist so eine schöne trostlose, stimmungsvolle Melodie: hinauf, hinunter ...«
»Wenn Sie noch etwas bleiben, werden die Kinder heimkommen,« sagte sie.
»Ja! Ich möchte die Kinder sehen. Ich habe sie gern. Ich möchte, daß etwas Tüchtiges aus ihnen wird. Ich interessiere mich für ihre Erziehung ... Befolgen Sie Grundsätze dabei?«
Frau Therese fühlte, wie sie errötete. Es fiel ihr schwer, Rechenschaft zu geben, in Begriffen zu denken war sie nicht gewohnt.
»Ich bin eigentlich viel zu wenig belesen,« sagte sie verlegen. »Ich mache alles mehr nach meinem Gefühl.«
»Daran tun Sie recht,« sagte Herrnfeld. »Aber für eines wär' ich Ihnen verbunden. Wenn Sie Ihren Kindern sagen wollten, daß ein Stein in Bewegung gerät, wenn man daran stößt, und daß man naß wird, wenn man ins Wasser springt; daß dagegen ein Stein, der nicht durch irgendeine Ursache veranlaßt wird, seine Lage zu verändern, in der Regel liegen bleibt, wo er früher lag, und daß man nicht ins Wasser springen darf, wenn man es vermeiden will, naß zu werden.«
Frau Therese lachte.
»Das werden die Kinder wohl von selbst auch wissen, denk' ich?«
»Sie irren!« sagte er. »Das ist es, was am schwersten in den Menschenschädel hineingeht, der voll von Seifenschaum ist. Wiederholen Sie es Ihren Kindern täglich wie Percys Star, früh und abends, zehntausendmal, damit sie es endlich begreifen lernen; das ist das A und O aller Erziehung.«
Man vernahm Kinderstimmen im Vorzimmer, nach und nach rückte das junge Volk ein. Frau Therese sann darüber, was Herrnfeld mit seinen Worten habe sagen wollen. Er hatte sich wieder erhoben und ging im Zimmer auf und nieder.
»Sie finden vielleicht, daß ich billige Weisheit predige,« sagte er noch. »Mag sein. Ich habe es für nötig gehalten, Ihnen zu sagen, was ich denke. Deswegen bin ich eigentlich gekommen. Im übrigen empfehle ich mich Ihrer ferneren Gnade und bitte um eine Tasse Kaffee, wenn Sie nach wie vor Ihre Jause um diese Zeit zu nehmen gewohnt sind.«
Nun riß einer der Knaben die Tür auf und rief: »Ludger ist da!« Eins nach dem andern stürmte herein, ihn zu begrüßen. Die Kinder liebten ihn. Er hatte etwas in seinem Wesen, das ihm ihr Zutrauen gewann. Es herrschte ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen ihnen, fast wie unter Altersgenossen, sie nannten ihn einfach Ludger, zum Onkel ließ er sich durchaus nicht stempeln; es hätte auch nicht zu ihm gepaßt. Er wollte jung sein, jung bleiben, er scheute das Altwerden, sogar das Älterwerden, und war auch jung in seinem ganzen Wesen und nach seinem Aussehen kaum mehr als dreißig, obgleich das Haar schütter zu werden begann. Er pflegte sich sehr, trug die besten Kleider, war prächtig gewachsen und bewegte sich mit weltläufiger Sicherheit.
In seinem Kaffee fand er jetzt zur allgemeinen Überraschung ein niedliches Schäfchen aus Porzellan, fischte es heraus, schenkte es Käthi und bat um Zucker. Als er aber mit dem Löffel umrührte, war statt des Zuckers ein kleines Schweinchen in der Tasse, und als er abermals Zucker verlangte, ein Hündchen, und so streng die Kinder ihm auch aufpaßten, schließlich noch ein Katzerl. Bis sie jubelnd über ihn herfielen und in seinen Rocktaschen auf der einen Seite eine ganze Vorratskammer von verschwundenem Zucker, auf der andern noch eine kleine Reservemenagerie entdeckten. Da war er entlarvt. Die älteren Knaben aber behaupteten, sie hätten es gleich gesehen und genau beobachtet, wie es zugegangen wäre.
»Eigentlich kannst du also doch nicht zaubern!« belehrte ihn die kleine Käthi.
Er lachte und sagte: »Wenn der Ludger zaubern könnte, so säh' es ein bißchen anders aus in der Welt!«
»Was würdest du dann machen?« fragte Vefi gespannt.
»Vor allem ginge ich jetzt nicht zu Fuß nach Haufe,« sagte er, »sondern führe in einer goldenen Karosse, die mit zwölf weißen Mäusen bespannt wäre.«
»Das wäre unpraktisch,« sagte Doll. »Pferde laufen viel schneller als Mäuse. Es müßte dir etwas Besseres einfallen.«
»Du hast recht, schließlich könnte ich mir auch einen Fiaker nehmen. Ich verzichte auf die weißen Mäuse, aber ich würde in einem großen kristallenen Schlosse wohnen und riesige Frösche in grünen Livreen aus Samt mit silbernen Tressen müßten mich bedienen. Dich und deinen neuen Freund Lois Birenz würde ich zu meinen Ministern ernennen, und Vefi und Käthi wären meine Hofdamen und trügen lange, purpurrote, goldgestickte Atlasschleppen.«
»Das Leben in so einem Schlosse würde dir auf die Dauer langweilig,« sagte Moini. »Wenn du es recht überlegst, so fällt dir am Ende etwas noch Besseres ein.«
»Auch du hast recht,« sagte Herrnfeld. »Wenn ich schon zaubern kann, so soll wenigstens etwas Ordentliches dabei herauskommen. Also werde ich mich zum Papste zaubern. Nein – besser noch zum Kaiser von China! Oder am allerbesten – gleich zu einem Fabriksherrn vom Schottenfeld!«
Da lachte Frau Therese und sagte: »Ja, das will ich glauben. Wenn wir bloß am Ostersonntag wären, was mancher von denen sich schon am Karfreitag einbildet, so könnten wir freilich zufrieden sein!«
Zu jenen, die mit Frau Theresens Verhalten während des Krieges nicht einverstanden waren, gehörte auch Thom Bornschbögel, ihr Bruder. Er haßte die Preußen und schätzte sie gering, aber er fühlte auch keine Verpflichtung gegen sein Vaterland; wenn es schief ging, war seiner Meinung nach ein jeder sich selbst der Nächste.
»Ich steh' auf niemanden an und bin immer allein fertig geworden,« pflegte er zu sagen. »Soll jeder es halten wie ich und sich selbst helfen, so braucht er keinen andern dazu.«
In der Kriegsnot hatte er seine Fabrik, die sich in Schlesisch-Riebstadt befand, einfach zugesperrt, die Arbeiter entlassen, die Angestellten auf Wartegebühr gesetzt. Die Zentrale in Wien, unter die Aufsicht bewährter Mitarbeiter gestellt, zehrte bei herabgesetztem Betrieb vom aufgestapelten Lager wie der Igel von seinem Fett, wenn er Winterschlaf hält. Thom Bornschbögel selbst hatte mit den Seinen die Hauptstadt, in der die Cholera wütete, verlassen und war unsichtbar geworden, bloß der Prokurist wußte, wo er sich aufhielt.
Nun saß er wieder in dem alten, unscheinbaren Hause in der Seidengasse, wo seit unvordenklichen Zeiten das Bornschbögelsche Geschäft sich befand. Aber weil heute Sonntag war, saß er nicht unten im Kontor, sondern oben in seiner Wohnung und hielt Musterung. Denn jeder Sonntagsmorgen war in dieser Familie ein kleiner jüngster Tag, an dem abgerechnet und über die Sünden der ganzen Woche Gericht gehalten wurde.
»Philippine, bring' deine Ausgehschuhe! Sind das Absätze – he? Hast du zwei linke Füße – wie? Du wirst, bevor du zur Kirche gehst, dreißigmal abschreiben: Ich soll meine Schuhe nicht schieftreten!«
»Ich red' ja die ganze Zeit, wenn wir ausgehen,« klagte Frau Minka Bornschbögel: »Philippine, halte dich gerade! Philippine, hatsche nicht wie ein altes Weib! Philippine, vertritt nicht deine Schuhe! Glaubst du es hilft etwas? Nichts! Aber rege dich nur deswegen nicht auf, Thom, es könnte dir schaden!«
»Zeig' dein Schulheft, Laurenz!« fuhr Herr Bornschbögel fort. »Also, wird's bald? Zieh' dich nicht wie ein Strudelteig – hörst du? Vorwärts! Her damit! Da ist ja mehr rot darin als schwarz! Was – ? Schon wieder ein Ungenügend?«
Und klatsch! saß ihm eine Ohrfeige im Gesicht.
»Mit dem Buben ist es schon gar ein Kreuz!« jammerte Frau Minka. »Stundenlang sitzt er vor seinem Büchel, und wenn er dann ausgefragt wird, kann er erst recht nichts. Wo der seine Gedanken hat – ich weiß es nicht und bin mir auch nicht gescheit genug, was man mit ihm anfangen soll. Wenn es sich um eine Spitzbüberei handelt, das kapiert er geschwind – aber beim Lernen ist es rein, als hätt' er ein Brett vor der Stirn. Es ist mit dem Klavierspielen gerade so ...«
»Die Klimperei kann mir überhaupt gestohlen werden!« brummte Thom Bornschbögel ungehalten.
»Klavierspielen,« meinte sie, »muß ein junger Mann heutzutage doch gelernt haben. Aber alterieren mußt du dich deswegen nicht, Thom! Wenn du es für überflüssig hältst, von mir aus kann er die Musik auch sein lassen. Zum Üben kommt er ohnedies nicht wegen der dummen Schule, darum macht er auch immer wieder dieselben Gikser. Und wenn ich hundertmal sage: Laurenz, nimm dich zusammen! Laurenz, es sind drei Kreuz vorgeschrieben! Laurenz, schau, es war' doch schön, wenn du auch einmal ein bißchen Walzer spielen könntest wie andere junge Leute! Bei einem Ohr hinein, beim andern wieder heraus! Justement greift er daneben – rein, als ob er mir einen Schur antun wollte!«
»Aber ich tu's doch gar nicht zufleiß, ich hab' halt so steife Finger!« verteidigte sich Laurenz weinend.
»Heul' nicht!« kommandierte Herr Bornschbögel. »Und du, Ludmilla, mach' nicht ein Gesicht wie ein Haubenstock!« herrschte er das jüngere Mädchen an. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß man die Lippe nicht so hängen läßt! Es ist unglaublich, was für Kinder das sind! Ein jedes hat eine andere schlechte Angewohnheit! Schau' nicht mit dem linken Aug' weiß Gott wohin, hörst du? Mich sollst du ansehn, wenn ich mit dir spreche und überhaupt nicht so polizeiwidrig dumm dreinblicken wie ein Kalb! Weil alles Reden bei dir nichts hilft, so wirst du heute vom Tisch aufstehn und weggehn, wenn die Sonntagsmehlspeise aufgetragen wird!«
»Puh – puh – puh ...« fing nun auch Ludmilla zu heulen an.
»Die Mäuse brauchen kein Wasser, es regnet ohnedies genug!« überschrie sie Frau Minka. »Es geschieht dir ganz recht, warum folgst du nicht! Predige ich nicht ohnedies den ganzen Tag: Ludmilla, schau nicht so dumm! Ludmilla, mach' den Mund zu, es fliegt dir ein Vogel hinein! Ludmilla, denk' an dein linkes Auge! Aber bei euch könnte man sich die Lungensucht an den Hals reden, ihr seht es doch nicht ein, daß man es nur zu eurem Besten tut. Nun hast du es dir selbst zuzuschreiben, wenn du keine Mehlspeise bekommst; wer nicht hören will, muß fühlen.«
»Laß deine Fingernägel anschauen, Ulrich!« wendete Thom Bornschbögel sich an den jüngsten Knaben. »Haben wir Hoftrauer – wie? Heißt das Reinlichkeit – was? Da! Und da! Und da! Damit du dir merkst, daß heute Sonntag ist, und daß es sich nicht gehört, mit ungepflegten Nägeln zum Frühstück zu kommen!«
Das Klatschen, das seine Worte begleitete, entfesselte neues Gezeter, und Xaver Wegrad, der ins Zimmer getreten war, blieb erschrocken stehen: »Was ist denn los bei euch? Warum herrscht denn da Heulen und Zähneklappern?«
»Weil Sonntag ist,« sagte Herr Bornschbögel ingrimmig und schnappte mit dem Unterkiefer in die Luft wie eine Dogge, die eine Mücke fängt.
»Sonst ist doch Samstag der Auszahlungstag?«
»Unter der Woche habe ich keine Zeit, mich meiner Familie zu widmen. So heißt es halt am Sonntag ein bissel nach dem Rechten sehn. Denn was Hänschen nicht lernt, das lernt der Hans nimmermehr ... Schaut jetzt, daß ihr weiterkommt!« herrschte er die Kinder an. »Wenn ihr einmal groß seid, werdet ihr mir's danken!«
Xaver Wegrad war ein Vetter des verstorbenen Herrn Mairold und mit Thom Bornschbögel befreundet. Die Bandfabrik in der Halbgasse, die er von seinem Vater übernommen, ließ er ungefähr so weitergehen, wie sie von selber ging; der alte treue Mechanismus hatte Beharrungsvermögen genug in sich, um nicht gleich stille zu stehn, wenn niemand sich um ihn bekümmerte. Die Fabrik fuhr fort zu klappern wie die Mühle im Märchen, die unentwegt ihre Arbeit verrichtet, während der Müller auf der faulen Haut liegt. Das tat nun Herr Xaver Wegrad eigentlich nicht; beweglichen Geistes und phantasievoll, beschäftigte er sich mit hundert Dingen, nur gerade mit denen nicht, die ihm oblagen. Die Verhältnisse, in die er hineingeboren war, hatten noch den engen, handwerklichen Zuschnitt von früher, darum bedrückten sie ihn; aber sie der neuen Zeit anzupassen, dazu fehlte es ihm wieder an Liebe zur Sache und an Stetigkeit. Vor allem wohl auch an Nötigung; denn der goldne Boden des Handwerks von ehedem war keine Sage gewesen, und die Segnungen der Väterarbeit, die dem einzigen Sohne und Enkel in den Schoß fielen, hatten ihn früh daran gewöhnt, das Leben mehr für eine angenehme Zerstreuung zu halten als für eine Aufgabe. Indessen war er gut zu leiden, leicht zu entflammen und trotz seines schon gesetzten Alters immer noch ein Sehnsüchtiger und Suchender, der irgendwie aus seiner Haut wollte.
»Es bricht ein neues Zeitalter an in Österreich,« sagte er heiter, als er mit Thom allein geblieben war. »Auf allen Gebieten stehen Umwälzungen bevor. Darum bin auch ich in mich gegangen und habe beschlossen, meinen innern Menschen umzukrempeln. Siehst du mir nichts an?«
»Die Fahnen wehen noch alleweil,« sagte Thom und meinte den prächtigen braunen Bart, der dem Freunde zu beiden Seiten des ausrasierten Kinns auf die Brust herniederwallte. Er fand es unpassend für einen Geschäftsmann, einen solchen Bart zu tragen, ohne daß er einen andern Grund dafür hatte nennen können, als daß »man« so etwas nicht tue.
»Ein paar weiße Fäden sind eingeschossen,« bemerkte er boshaft; »sonst find' ich dich wenig verändert.«
»Man kann sie zählen,« sagte Wegrad vor den Spiegel tretend. Er ließ die beiden Flügel des Bartes mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung durch seine Hände gleiten und warf sich in die Brust. Er war ein stattlicher Mann, schlank und hochgewachsen, mit einer stolz geschwungenen Adlernase in dem offenen, männlichen Gesicht, das jenen Ausdruck von Kühnheit und Festigkeit zeigte, welcher manchen Menschen eigen ist, mehr weil sie an sich glauben, als weil sie sich erprobt hätten.
»Seid ihr eigentlich den Sommer über in Riebstadt gewesen?« fragte er und setzte sich Herrn Bornschbögel gegenüber.
»Lächerlich!« sagte Thom. »Solche Husarenstückeln überlasse ich meiner Schwester Therese.«
»Mir hat es, aufrichtig gesagt, imponiert, wie sie sich aus der Affäre zog,« meinte Xaver Wegrad. »Kein Mann hätte sich umsichtiger benommen.«
»An Umsicht fehlt es ihr nicht, aber an Einsicht.«
»Die Einquartierung in deiner Fabrik wird schön gehaust haben, wenn kein Herr zugegen war.«
»Im Gegenteil! Nicht ein einziger Soldat hat die Fabrik betreten. Versperrte Türen gewaltsam zu sprengen, ist einer Gemeinde, die den Kopf verloren hat, teils zu umständlich, teils zu verantwortungsvoll. Zustellungen haben sie mir wohl geschickt, eine nach der andern. Darauf bleibt man die Antwort schuldig und wartet ruhig bis alles sich im Sand verlaufen hat. So behandelt man unsere Behörden, wenn man sich auskennt; merk' es dir!«
»Dazu gehört Courage,« sagte Xaver Wegrad den Kopf schüttelnd.
»Es kommt nur darauf an, daß man richtig kalkuliert.«
Wegrad fragte sich im stillen, wie es wohl zugegangen wäre, wenn alle es hätten ähnlich machen wollen. Aber er hatte Ursache, seinen Freund Thom heute nicht zu verstimmen.
»Ihr habt also vom Krieg nicht viel gesehen und gehört,« sagte er ablenkend.
»Pulver riechen ist Sache der Soldaten,« versetzte Thom. »Wir haben den Sommer im Salzburgischen zugebracht, wo man von Kriegsnot und Cholera nichts wußte. Wenn alle so gescheit gewesen wären, so wäre mancher vor Schaden bewahrt geblieben. Die Therese soll sich schwer tun, hör' ich, sie hat alles Ersparte zugesetzt, jetzt muß sie sogar Geld aufnehmen, aufs Haus. Sie paßt zur Fabriksherrin wie die Gans zum Salathüten. Man spricht sogar davon, daß die Firma Mairold wackelt, Wenn es wahr ist – ich wundere mich nicht darüber.«
Xaver Wegrad hatte sich erhoben und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder.
»Das täte mir leid ... Deine Schwester schien heiter und zuversichtlich wie immer, als ich sie unlängst sah. Ich hatte nicht den Eindruck, als ob sie von Sorgen bedrückt wäre.«
»So etwas zeigt man nicht.«
»Und wenn sie sich in einer augenblicklichen Kalamität befände – so sind doch Verwandte und Freunde da, die sie nicht im Stich lassen würden.«
»Wer zum Beispiel?« fragte Thom Bornschbögel scharf.
»Du zum Beispiel!«
»Lächerlich!«
»Sie ist deine Schwester.«
»So lange die Firma Mairold floriert. Wenn es aber nicht der Fall ist, dann ist die Therese für mich nichts anderes als der Chef der Firma Mairold.«
»So, so ... Nun, dann würde ich ihr beispringen.«
»Von dir könnte sie es nicht annehmen.«
»Wer weiß? ... Eigentlich ist es mir lieb, daß du mir das angedeutet hast, das von den Geschäftsnöten. Sonst könntest du am Ende glauben, ich spekuliere aufs Geld. Ich möchte dich nämlich um etwas ersuchen. Deswegen bin ich heute gekommen.«
Er setzte sich wieder Herrn Bornschbögel gegenüber und sah ihm etwas befangen ins Gesicht.
»Ich gehe auf Freiersfüßen. Deine Schwester ist mir lieb. Sie ist eine ausgezeichnete Frau. Sie ist auch noch immer eine hübsche und begehrenswerte Frau, man sieht ihr die acht Kinder nicht an ...«
»Neun sind es,« bemerkte Thom trocken.
»Neun?«
»Das neunte ist ein Proletarierrange, den sie sich von der Straße aufgelesen hat.«
»Du meinst den Lois, der mit Doll zur Schule geht?«
»Weiß nicht, wie er heißt.«
»Gleichviel ... Ich komme in das Alter, wo mir festere Ziele not täten. Im Grunde bin ich unzufrieden mit mir. Es war mir von Jugend auf alles zu leicht gemacht. Ich hab' es schon ausgesprochen: umkrempeln möchte ich mich, solange es noch Zeit ist. Und – mit einem Wort, um es kurz zu machen, ich hätte Lust, deine Schwester zu heiraten.«
»So tu, was du nicht lassen kannst,« sagte Thom bitter.
»Ich möchte mir begreiflicherweise keinen Korb holen. Darum wollte ich dich bitten, für mich anzuklopfen.«
»Lächerlich!« sagte Thom abermals.
Das Gespräch wurde durch das Eintreten Georg Haarhammers unterbrochen, der eine Schwester der Minka Bornschbögel zur Frau hatte. Er legte einen großen Packen, den er unter dem Arm getragen hatte, auf den Tisch und begrüßte die Herren mit ein paar harmlosen Scherzen, die er mit schmetterndem Gelächter begleitete.
»Die Baupläne sind fertig,« sagte er; »ich habe sie mitgebracht.«
»Dann können wir sie gleich ansehen,« meinte Thom, der froh war, nicht länger mit Wegrad allein zu sein. »Hast du Zeit?«
»Bis zur Zwölfuhrmesse,« sagte Haarhammer.
»Immer fromm!« spottete Bornschbügel.
»Was wird denn gebaut?« fragte Wegrad.
Haarhammer löste die Schnur und öffnete das Paket. Er erklärte die Pläne und Risse, die auf pergamentartiges Pauspapier mit schwarzen, roten und blauen Linien klar und reinlich aufgezeichnet waren. Auf das Bornschbögelsche Haus in der Seidengasse sollte ein zweites Stockwerk aufgesetzt und das Ganze erweitert, erneut und dem herrschenden Geschmack entsprechend ausgestattet werden.
Wieviel Zeit der Umbau in Anspruch nehmen würde? wollte Thom wissen.
Das war aber der Punkt, über den Haarhammer wie alle Baumeister nicht gern bindende Erklärungen abgab. Von Thom bedrängt, meinte er schließlich: »Sagen wir halt – ein paar Monate. Mit der Zeit wird er schon fertig werden.«
Und wieder ließ er sein schmetterndes Lachen hören, das aufreizend auf Herrn Bornschbögel wirkte. Im vertrauten Kreise nannte er den Schwager gern den »Maurermeister« und schätzte ihn überhaupt gering, weil er es nicht mit Seidenwebern, sondern mit Ziegelschupfern zu tun hätte. Jetzt, da er im Begriffe stand, ihm einen Auftrag zuzuwenden, hielt er sich für berechtigt, ihn auch danach zu behandeln.
»Wenn deine Maurer mehr Zeit mit Pfeifenstopfen verbringen als mit Mörteln,« sagte er übellaunig, »so ist das nicht meine, sondern deine Sache.«
Frau Minka Bornschbögel, die eingetreten war und gleichfalls die Pläne besichtigt hatte, tippte ihm auf die Schulter: »Reg' dich nur nicht auf, Thom, du weißt, es könnte dir schaden! Verbrodeln wird der Haarhammer sicher nichts, wenn er weiß, daß dir dran liegt.«
»Aber selbstverständlich nicht!« versicherte Haarhammer gutmütig. »Zerwuzeln werd' ich mich!«
»Einen Lieferungstermin muß jeder Geschäftsmann einhalten!« beharrte Thom.
»Wir hängen halt ein bissel stark vom Wetter ab, wir Maurer.«
Abermals schmetterte er sein gesundes Lachen, das auf eiserne Konstitution und schlichte Gemütsart deutete. Und dann setzte er auseinander, daß es unmöglich sei, im Spätherbst noch mit dem Umbau zu beginnen, wenn der Regen anhalte wie bisher, und daß es dann wieder von der Frühjahrswitterung abhänge, ob man nicht bis in den Sommer hinein damit zuwarten müsse.
»Eine Ausrede wißt ihr alleweil,« meinte Bornschbögel nur halb besänftigt und sah nach der Uhr. »Geh' halt jetzt in deine Messe und bet' um schönes Wetter, vielleicht nützt es was.«
»Warum nicht?« sagte Haarhammer; »gutes Bauwetter gehört für uns zum Gottessegen, wie für den Landmann gutes Erntewetter.«
»Aber ein bissel aufgeklärter solltet ihr sein als die Bauern,« spottete Thom.
»Woher denn?« fragte Haarhammer, ernst geworden. »Aus den Zeitungen vielleicht? Meinst du, ich hätte Zeit, die Sachen ordentlich zu studieren? So bleib' ich halt bei meinem Herrgott – und du laß mich in Frieden, in dem Kapitel red' ich dir auch nichts drein.«
Als er sich entfernt und die beiden Freunde wieder allein gelassen hatte, wurmte es Thom, daß er ihm die gebührende Antwort schuldig geblieben sei. Er hielt sich an Wegrad schadlos und setzte ihm auseinander, wie ein gebildeter Mensch heutzutage liberal und Freigeist sein müsse, wenn er sich nicht lächerlich machen wolle; und Wegrad stimmte bei und sagte, alles Glauben sei Humbug, die neue Zeit werde bald mit allen Religionen aufgeräumt haben.
»Bloß wir haben noch unser Konkordat!« rief er aufgebracht. »Echt österreichisch!«
»Wir hinken alleweil nach ... Aber jetzt wird es auch bei uns bald Tag werden müssen, verlaß dich darauf!«
Sie besprachen noch Einzelheiten der Baupläne, die Haarhammer dagelassen hatte. Es war vorzüglich auf eine ausgiebige Erweiterung der Warenlager und Manipulationsräume abgesehen. Thom hatte längst eine gewisse Beengung in dem vom Vater überkommenen Geschäftshause als hinderlich empfunden, und bereits begann ein überraschender Aufschwung des gesamten industriellen Lebens sich anzukündigen. Trotz der finanziellen Erschöpfung des Staates regte es sich an allen Enden wie Frühling, der unerschlossene Reichtum der Länder, die natürliche Kraft der Völker drängte nach Entfaltung. Es war, als hätte Österreich einen vorteilhaften Krieg glücklich beendet und rüste sich jetzt, die Früchte seiner Siege einzusammeln.
»Etwas reichlich groß hast du dir's vorgenommen,« meinte Wegrad. »Man wird die Seidengasse nicht wiedererkennen, wenn du so einen Geschäftspalast hineinstellst. Mehr Raum allein für deine Magazine und Schreibstuben ist vorgesehen, als meine ganze Fabrik in der Halbgasse einnimmt.«
»Das neue Gewand wird mir nicht am Leibe schlottern,« sagte Thom zuversichtlich. »Ich weiß, was kommen muß. Die Ära der Großindustrie steht vor der Tür. Die Freiheit, die seit achtundvierzig begraben war, erwacht zum Leben. Jetzt erst geht die Saat auf, die damals gesät wurde. Die Wiederherstellung der Verfassung ist nicht mehr aufzuhalten. Schon hat der Kaiser die Einberufung des Reichsrates zugesagt. Wir brauchen nichts als freie Ellbogen, so arbeiten wir uns hinauf. Die Preußen kann ich nicht schmecken, aber sie haben uns erlöst wie der Prinz das schlafende Dornröschen. Jetzt erst sind wir Österreich. Jetzt werden wir zeigen, was wir können. Ich verlange vom Staat nichts, als daß er mich nicht hindert; für mich sorgen werd' ich schon selbst. Verlaß dich nur darauf: ich irre mich nie, ich hab' auch diesmal richtig kalkuliert.«
»Es wird einen scharfen Konkurrenzkampf geben,« sagte Wegrad. »Ich denke daran, meine Fabrik aufzulassen und mein Kapital in die Firma Mairold einzuwerfen. Deiner Schwester müßte es nur lieb sein, einen männlichen Berater zur Seite zu haben, der doch schließlich auch eine gewisse Geschäftserfahrung besitzt.«
Und nachdem er sich trotz aller Hindernisse zu dem Gegenstand, der ihm auf dem Herzen lag, zurückgefunden hatte, faßte er den Stier bei den Hörnern: »Du hast mir meine Frage von vorhin nicht beantwortet. Darf ich auf deine Unterstützung zählen?«
»Wo – ? Wie – ?« fragte Thom unschuldig tuend.
»Bei deiner Schwester.«
»Ach so, bei meiner Schwester? Bei der Therese meinst du?«
»Du hast doch nur die eine Schwester!« rief Wegrad ungeduldig.
»Allerdings. Und die ist eine verwitwete Mairold. Die Firma Mairold hat mich nie um Rat gefragt, so kann ich ihr meinen Rat auch nicht aufdrängen.«
»Hier handelt es sich doch nicht um die Firma!«
»Doch! Du willst dein Geld in die Firma einwerfen und Mitchef werden. Ich werde mich hüten, etwas dreinzureden. Soll nur die Therese selbst ihre Entscheidung treffen, sie ist kein unmündiges Kind mehr, und daß sie schließlich doch tut, was ihr und nicht was mir gefällt, das weiß ich im voraus.«
Wenn Thom Bornschbögel einmal eine Meinung ausgesprochen hatte, dann blieb es dabei, und wenn die Welt darüber zugrunde ging. Das erfuhr Xaver Wegrad jetzt wieder, obgleich er es längst wußte. Gekränkt ging er schließlich fort, er hatte den Eindruck gewonnen, daß der Freund seine Verbindung mit Frau Mairold nicht wünsche. Er riet hin und her, was der Grund sein mochte? Und wie wir für etwas, das uns halb oder ganz mißglückt, lieber die Mängel und Schwächen anderer, als unsere eigenen verantwortlich machen, so führte seine Witterung ihn auf Thom Bornschbügels Selbstsucht, von der er argwöhnte, daß sie einer Stärkung der Firma Mairold, die eine nicht zu unterschätzende Konkurrentin war, durch sein Kapital und seine Arbeitskraft abhold sei. Aber gerade hieraus sog er wieder Hoffnung; der häßliche Einfall trug dazu bei, ihn aus seiner gedrückten Stimmung aufzurichten. Wenn Thoms geschäftlicher Scharfsinn ihn für eine Gefahr hielt, so mußte Frau Theresens geschäftlicher Scharfsinn einen Gewinn in ihm erblicken.
Und daß sie, vielleicht von Gläubigern bedrängt, der Stimme der Vernunft Gehör schenken würde, auch wenn die Stimme ihres Herzens noch zauderte, sich für ihn zu entscheiden, das glaubte er von ihrem reifen Urteil erwarten zu dürfen.
Indessen hatte das spät erwachte Gefühl, das aufrichtig war, die Selbstsicherheit, an der es ihm sonst nicht fehlte, erschüttert. Da er in seinem Leben nichts geleistet und nichts versucht, also auch keinen Mißerfolg erfahren hatte, so war er gewohnt gewesen, sich für etwas Besonderes zu halten, eine Täuschung, die von seiner beweglichen Einbildungskraft lebhaft unterstützt wurde. Hierin trat, solange er mit sich allein blieb, auch jetzt keine Änderung ein; sobald er sich aber in Frau Mairolds Nähe befand, deren Anlagen und Verdienste sein entflammtes Herz vielleicht über Gebühr vergrößerte, kam er sich in Vergleich mit ihr müßig und unnütz vor und wurde zaghaft. Durch einen Korb hätte er das Urteil, das er in solchen Augenblicken zu innerst über sich selbst fällte, gleichsam bestätigt und besiegelt gefunden, und immer scheute er die Beschämung, die ihn dann von seiner eingebildeten Höhe herabgestürzt hätte. So geschah es, daß er Frau Mairolds Gesellschaft zwar mehr als sonst suchte, aber den ganzen Winter verstreichen ließ, ohne sich zu erklären. Um sich nicht selbst der Feigheit zeihen zu müssen, redete er sich dabei ein, daß es aus Zartgefühl geschehe, weil eine Werbung sogleich nach Ablauf des Trauerjahres sowohl auf sie selbst, wie auch nach außen hin den Eindruck unangebrachter Hast hätte hervorrufen müssen.
Frau Theresens Benehmen blieb ihm gegenüber das gleiche, das es immer gewesen war. Sie schätzte den Vetter ihres Mannes, der stets freundschaftliche Beziehungen zum Verstorbenen wie zur ganzen Familie unterhalten hatte, wegen seiner schätzenswerten Eigenschaften und sah milde über seine Mängel hinweg. Daß die Veränderung seiner Gefühle, die sich in ihm vollzogen hatte, ihr entgangen wäre, bleibt unwahrscheinlich; eine kluge Frau übersieht nicht leicht ein angelegentliches, wenn, auch unausgesprochenes Werben. Aber andere Saiten aufzuziehen, sah sie sich deswegen nicht veranlaßt. Vielleicht unterlag sie der allgemeinen weiblichen Eitelkeit, der das Auftauchen eines Courmachers, auch wenn er keine Aussicht auf Erhörung hat, immer ein klein wenig schmeichelt. Vielleicht wollte sie auch nur ihren gesteigerten Einfluß zu seinen Gunsten ausnützen, das Eisen schmieden, weil es heiß war, an ihm bosseln, ihn in Form bringen, einen tätigen und ganzen Mann aus ihm machen; denn daß sie sich bemühte, ihn zu erziehen, war leicht zu bemerken. Und gerade hieraus schöpfte Herrnfeld, der die beiden oft beisammen sah, Verdacht; er fühlte, daß sie ihn niemals erzogen, vielmehr dadurch, daß sie sich seinen Unarten willig anpaßte, wie man es Fremden gegenüber tut, gleichsam in einer gewissen Entfernung von sich gehalten hatte.
Er seufzte im stillen darüber und sagte einmal zu Frau Therese: »Am Saum des großen Waldes, in dem ich wohne, brennt manchmal ein Feuer, und ich sehe, wie die Kinder Tannzapfen hineinwerfen, um in der Glut Erdäpfel zu braten. Ich habe mir oft überlegt, ob ich lieber ein Tannzapfen, eine Kartoffel oder ein Feuer sein möchte.«
»Und wofür haben Sie sich entschieden?« fragte sie befremdet; denn sie wußte, daß Herrnfeld nicht in einem großen Walde, sondern in der Mariahilferstraße wohnte.
»Ich schwanke noch,« sagte er. »Die Kartoffel läßt sich braten, um verspeist zu werden, das ist dumm. Der Tannzapfen läßt sich verbrennen, um das Feuer zu nähren, das tut weh. Das Feuer aber verzehrt den Tannzapfen, um eine Kartoffel gar zu braten – das ist grausam ... Es ist mir lieb, daß ich nichts damit zu tun habe. Ich sehe zu, lächle und – gehe vorüber.«
Sie schüttelte den Kopf und fand ihn wunderlicher als je.
Im Frühjahr wurde mit dem Umbau des Bornschbögelschen Hauses in der Seidengasse begonnen. Thom schien geneigt, die Unbequemlichkeiten, die der Familie und dem Geschäftswesen daraus erwuchsen, tragisch zu nehmen. Immer war er auf der Suche nach einem Schuldtragenden, den er dafür verantwortlich machen könnte, daß die Arbeiten nicht rascher vom Fleck rückten. Haarhammer indessen hatte sich im Verkehr mit seinen Auftraggebern längst eine dicke Haut angeschafft, an der Ausbrüche bauherrlicher Ungeduld abglitten wie Wassertropfen von der Ente. Als einer, der es mit den Elementen zu tun hat, erinnerte er tatsächlich an einen Landmann, der, die Hände in den Hosentaschen, gemächlich zuschaut und es wachsen läßt, sobald er das Seinige geleistet hat.
»Überstürzen gedeiht nicht,« sagte er gern; »so ein Bauwerk darf man nicht bloß machen, es muß nach und nach werden, mit Gottes Hilfe.«
Im Erdgeschoß ließ er, um die Tragfähigkeit zu erhöhen, eiserne Träger einziehen, die er früher nicht vorgesehen hatte.
»Warum ist das jetzt auf einmal notwendig?« fragte Thom aufgebracht.
»Die besten Gedanken kommen einem immer erst bei der Arbeit selbst,« erklärte er aufrichtig.
»Und wenn es dir zufällig nicht eingefallen wäre, so hätte uns das Haus vielleicht über dem Kopf zusammenstürzen können?«
»Davor ist man bei keinem Haus sicher,« sagte Haar-Hammer und schmetterte sein befreiendes Lachen.
An einem der nächsten Tage sagte Thom zu seiner Frau: »Der Pinkenfeld in der Dreilaufergasse hat auch umbauen lassen. Sein Haus steht fix und fertig. Der Haarhammer ist ein Fretter. Ich hätte gute Lust, ihm die Arbeit zu entziehen.«
»Was hat der Pinkenfeld für einen Baumeister?« fragte Frau Minka erschrocken.
»Es ist eine Baugesellschaft, bei der er Aktionär ist. Da geht halt alles ins große. Wie die Pilze nach einem warmen Regen schießen die Häuser auf. Ich habe den Bauleiter gesprochen. Die kleinen Baumeister, sagt er, müssen alle zugrunde gehen, sie können nicht mehr aufkommen. In drei Wochen, sagt er, bauen wir Ihnen so ein Haus, das ist heutzutage keine Affäre mehr. Jetzt kommen wir schon in den Sommer, und der Haarhammer patzt noch alleweil mit den Traversen herum!«
Frau Minka hatte Mühe, ihn zu beschwichtigen. Es wäre ihr aus Familienrücksichten peinlich gewesen, hätte ihr Mann den Haarhammer vor den Kopf gestoßen. Daß kleine Reibereien stets neue Spannungen zwischen den beiden Männern hervorriefen, konnte sie nicht verhindern; aber bei der Geneigtheit Haarhammers, ein hitziges Wort des Schwagers nicht auf die Goldwage zu legen, und bei der lachenden Sicherheit, mit der er ruhig seinen Weg ging, gelang es ihr wenigstens, einen offenen Bruch hintanzuhalten.
Als Xaver Wegrad sich endlich einen Rand nahm, bei Frau Therese das entscheidende Wort zu sprechen, fand er das Nest ausgeflogen. Der Sommer hatte die Familie Mairold wie gewöhnlich nach Mähren entführt. Er entschloß sich kurz und trat die Reise nach Nedweditz an. Als er von der Poststraße, die über den sogenannten »Hals« führte, das Städtchen zu seinen Füßen liegen sah, ließ er sich vom Kutscher die Mairoldsche Fabrik zeigen. Das Herz schlug ihm höher, es war ein ehrlicher Wille in ihm, dieser tapferen Frau, die er liebte und verehrte, eine Stütze, ein Berater, ein Führer durchs Leben zu sein. Er fühlte die Fähigkeit in sich, an ihrer Seite, durch sie, über sich selbst hinauszuwachsen. Und er wußte, daß sie ihm gut war; bloß darüber quälten ihn noch Zweifel, ob diese Neigung sich als eine frauliche, oder als eine bloß freundschaftliche offenbaren, und ob sie stark genug sein würde, die Bedenken der Witwe, der Mutter und vielleicht auch der Fabriksherrin zu überwinden.
Nachdem er, sein unerwartetes Erscheinen durch allgemeines Interesse am Fabrikswesen rechtfertigend, ein paar Tage hindurch die Gastfreundschaft Theresens genossen hatte und neuerdings zaghaft geworden war, beschloß er, die Sache von der geschäftlichen Seite her in Angriff zu nehmen und Herrn Baudrillard ins Vertrauen zu ziehen. Er tat dies zwar nicht geradezu, ließ es sich aber angelegen sein, jeden Mangel des Betriebes, dessen Verbesserung Geldaufwendungen notwendig gemacht hätte, aufzuspüren; und dann redete er beiläufig davon, wie er dies und das deichseln würde, wenn er etwas mitzureden hätte, und wie man allenthalben merke, daß es an Kapital fehle, während er mit dem seinigen nicht wisse, wohin. Baudrillard indessen, der überraschend schnell begriff, wo der Hase im Pfeffer lag, verhielt sich zurückhaltend und lehnte die verhüllte Werbung um seine Bundesgenossenschaft ziemlich unverhüllt ab, indem er gleichmütig sagte: »Es ist bis jetzt auch so gegangen«; oder: »Wer etwas besser macht, als es sein soll, verdirbt es;« oder: »Mit der Zeit stecken wir allenfalls wieder etwas hinein, wenn's nötig wird. Man muß einen Acker auch nicht zu reichlich düngen, sonst trägt er Kraut statt Knollen. Erledigt!«
Einmal, spät am Abend, saß Frau Therese mit Herrn Wegrad noch auf der Gartenbank unter ihren Fenstern plaudernd beisammen – im Mondenschein – die Kinder waren schon schlafen gegangen.
Er erzählte von den vielerlei Dingen, die er wußte und erfahren hatte, er stand in Fühlung mit der Bildung der Zeit, mit den Wissenschaften, mit den Künsten, mit dem Leben. Sie kam sich dürftig vor neben ihm, so als ob sie bloß der mit dem Tag verbrauchten Nützlichkeit gehöre. Das Herz wurde ihr bang, weil so viel vorüberglitt, von ihr unbemerkt, das Glanz und Schönheit bedeutet.
»Manchmal kommt mir die Sehnsucht« ... sagte sie.
»Es stände nur bei Ihnen« ...
Sie schwiegen. Es war etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen wie die Finsternis, die unter den Bäumen des Gartens lauerte. Aus dem offenstehenden Fenster stöhnte eins der Kinder im Schlafe auf. Frau Therese lauschte, es blieb wieder alles still.
»Träume!« sagte Wegrad.
»Sehen Sie,« sagte sie, »wie der Mond die Kastanienblätter in den Kies zeichnet! ... So saß ich hier in mancher Nacht – mit ihm. Wir redeten von den Kindern. Von ihrer Zukunft, und wie wir sie erziehen wollten.«
»Dürfen wir nur Freuden kennen,« fragte Wegrad, »die von Pflichten kommen?«
»Ich will Ihnen sagen, wie wir uns die Zukunft unserer Knaben dachten.«
Und sie schilderte einen Mann, wie er nach ihrer Meinung sein sollte. Es war aber das getreue Abbild des verstorbenen Herrn Mairold, das sie beschrieb, und das Gegenbild von Xaver Wegrad. Da sank ihm wieder der Mut.
»So hätte ich auch gern werden mögen,« sagte er schließlich.
»Ich habe lange, lange überlegt,« sagte sie. »Man darf nur eines lieben, nur eines wollen. Es kommt mir selbst oft zu hart vor. Ich bin noch nicht alt genug, es gibt soviel Lockendes, so viele Möglichkeiten. Aber ich weiß es, daß man nur eines lieben, nur eines wollen darf« ...
»Und warum das Leben nicht reicher machen?« fragte er bang.
»Weil wir ein hochgestecktes Ziel nur erreichen, wenn wir keine andern Ziele kennen.«
Er schwieg bekümmert, endlich sagte er: »Es wird dabei viel Entsagung gefordert.«
»Ja, das ist das Schwerste im Leben, daß man an manchem vorübergehen muß.«
Sie stand auf und trat ins Licht des Mondes.
»In so einer milden Nacht,« sagte sie heiter, »kommt man fast ins Philosophieren. Und morgen ist ein Arbeitstag. Es ist Zeit, daß ich schlafen geh'. Leben Sie wohl und gute Nacht! ... Wann reisen Sie?«
Er hatte von seiner Abreise noch kein Wort gesprochen.
»Morgen früh,« sagte er gepreßt.
»Leben Sie wohl!« wiederholte sie, ihm die Hand drückend. »Wir wollen gute Freunde bleiben, nicht wahr?«
Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf ihre Hand, dann ging sie ins Haus.
Den nächsten Morgen reiste er ab. Als sie im Herbst in die Stadt zurückkehrte, war er von Wien abwesend und blieb den ganzen Winter fort. Erst im Frühjahr tauchte er wieder auf, hielt sich aber in gemessener Entfernung, ohne daß es sonderlich aufgefallen wäre. Bloß Ludger Herrnfeld bemerkte es.
»Ich sehe seit einiger Zeit einen eigentümlichen Lichtschein um Ihr Haupt,« sagte er zu Frau Therese. »Es muß die Glut einer seraphischen Liebe in Sie gefahren sein, die mich auf irdische Entsagung schließen läßt.«
»Was nehmen Sie sich heraus?« rief sie entrüstet. »Wer gibt Ihnen das Recht, ungehörig zu mir zu sprechen?«
»Es war nur ein Versuch, der mißglückte wie so ziemlich alles, was ich beginne,« sagte er bitter. »Die Feindesliebe der heiligen Therese, Ihrer Namenspatronin, war so groß, daß ihr Unbill zufügen mußte, wer ihre Gunst gewinnen wollte. Von einer solchen Heiligkeit sind Sie noch weit entfernt, wie ich sehe, und ich habe den Nachteil davon: statt mir Ihre Gunst zuzuwenden, strafen Sie mich mit Ungnade. Der Schein um Ihr Haupt hat mich getäuscht.«
»Wenn etwas Sie entlastet,« sagte Frau Therese, »so ist es der Umstand, daß Sie wenigstens offen zugeben, sich eine Ungehörigkeit herausgenommen zu haben.«
»Das klingt schon milder,« sagte er heiter. »Vielleicht erreicht Ihre Vollkommenheit mit der Zeit noch einen so hohen Grad, daß ich wenigstens auf Ihre christliche Nächstenliebe zählen darf.«
Es dauerte mehrere Jahre, ehe Xaver Wegrad den verwandtschaftlichen Verkehr mit Frau Mairold wieder aufnahm. Er hatte sich inzwischen vermählt, etwas eigen Übertriebenes und Großsprecherisches war in sein Wesen gekommen, und jedesmal, wenn er die Flügel seines Bartes durch die Hände gleiten ließ, hob er den Kopf dabei und drückte die Augen zu wie der Hahn, wenn er kräht. Im übrigen schwänzelte er vor Liebenswürdigkeit und nannte Frau Therese nicht anders als seine schöne Cousine.
Der alte Herr Bornschbögel fand, daß er unleidlich geworden sei.
»Seine Erziehung ist zu jäh unterbrochen worden,« sagte Ludger. »Erst stand er im Warmhaus und wurde sorgsam begossen, dann kümmerte sich niemand mehr um ihn, in Dürre und Regen blieb er sich selbst überlassen; so schoß er ins Kraut, ohne eine Blüte anzusetzen.«
Frau Therese seufzte und dachte an ihre Kinder, die heranwuchsen und alle ihre Gedanken ausfüllten. Der Großvater aber, der nur so viel verstand, daß Ludger seine Tochter aufzog, tätschelte zärtlich ihre Hände und meinte: »Es kommt viel darauf an, wie eine Zwiebel beschaffen ist; bei aller Sorgfalt zieht man nicht aus einer jeden das gleiche.«
Er stand auf, entschuldigte sich und trippelte in sein Stockwerk hinauf. Denn er wütete diesen Winter in Hyazinthen, die ihm so viel zu schaffen machten, daß er sich wenig freie Zeit gönnen konnte.
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