Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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An einem Sonntag frühmorgens war die Jugendschöne Frau Mara weggeritten. Der Rittmeister, der sie zu begleiten pflegte, hatte sie abgeholt. Es lagen in Nedweditz und dessen Umgebung mehrere Schwadronen Ulanen, und die meisten vornehmeren geselligen Veranstaltungen, die während des letzten Winters das öde Landstädtchen aus seiner Versunkenheit gerüttelt hatten, waren von den flotten Reiteroffizieren ausgegangen.

Schönheit, Jugend, Lebenslust, ihr Sterne am Himmel des Daseins! Fließet zusammen in eine einzige Erscheinung, sprühend von Geist, Laune und Leidenschaft, so leuchtet ihr wie der nahe Planet, der in allen Farben spielend am späten Abend- und am frühen Morgenhorizonte funkelt, und locket einen Schwarm sehnsüchtiger Monde an, die um den Zauber eures Glanzes kreisen. O jugendschöne Frau Venus, erbarme dich deiner Vasallen und Trabanten! Schüre nicht das Feuer, das ihr Hirn kochen macht, zieh' ein die Krallen, die ihre Herzen zerfleischen, senge sie nicht mit deinem Blick, durchkälte sie nicht mit deinem Spott! Es ist hart, Qual zu leiden um eine Tugend, aber härter noch, Qual zu leiden um die Sünde, nach der sich die Hände gierig ausstrecken, während sie leise singend durch die Finsternis schwebt, ein leuchtend nacktes Weib mit nachflatterndem Haar, das sich wie Schlangenleiber ringelt und mit hundert Natternzungen zischelt: »Greift mich, wenn ihr könnt!«

Die niedrigen, unscheinbaren Räume des Nedweditzer Gasthofes, mit Reisiggirlanden geschmückt, damit man den Schmutz an den Wänden und die Spuren der Fliegen nicht sehen soll, verwandeln sich in goldprunkende Spiegelsäle, wenn die Schönheit der Ballkönigin den märchenhaften Schimmer ihrer Erscheinung darüber ausstrahlt. Auf der winterlichen Wiese zwischen gedüngten Rübenfeldern, auf der man Wasser gefrieren machte, an deren Rändern man Drähte von Korbweide zu Korbweide gezogen hat, um bunte Papierlampen mit dürftigen Kerzenstümpfchen daran aufzuhängen, entfaltet sich ein Kostümfest, blendend und bestrickend wie die glänzendsten Eisfeste der Residenz. Hat Nedweditz jemals dergleichen gesehen? Wer ist es, der den Zauberstab schwingt? Eine einzige Gestalt in reizender Verkleidung, eine liebliche Schalksnärrin, um die sich die ganze Fastnacht dreht, die ein Meer von Licht, Glanz und Jugendlust um sich zu verbreiten scheint, daß es glitzert wie tausend Bogenlichter in Eiskristallen. Gerade als erhöben sich Feenpaläste an Stelle der Bretterbuden, in denen man Erfrischungen reicht, als spielte statt der verstimmten Feuerwehrkapelle ein Hoforchester zum anmutigen Gleittanz auf, der mit stählernen Kanten Liebesworte ins Spiegeleis ritzt – geradeso ist es. Immer ist etwas los, immer gibt es etwas zu feiern, ob die Erde weiß ist von Schnee oder weiß von Kirschbaumblüten. Bald klingen die Schellen der Schlittenpferde durch das Land, bald knallen die Freudensalven eines improvisierten Schützenfestes vom nahen Schießstand. Bald ladet der Frühlingswald zu fröhlichen Picknicks, die Maibowle duftet, benebelt die Sinne und verleitet die ausgelassenen Gemüter zu Spielen im Grünen, bei denen manche verstohlene Kühnheit vorsichtig die Fühler ausstreckt. Bald geht die Sommerfahrt mit Viererzügen nach den benachbarten Gutshöfen und Schlössern, bald sieht der rauschende Eichenbusch, durch den das Licht des Vollmonds sickert, kichernde Troll- und Elfenschatten einer phantastischen Mittsommernacht zwischen seinen Stämmen huschen, bald galoppiert die wilde Jagd hochroter Fräcke über die herbstlichen Stoppelfelder. Ist es eine Göttin, auf deren Machtspruch die alltägliche Umgebung des mährischen Fabriksstädtchens sich in die Insel Kythera verwandelt, wo im Zwielicht galanter Parks das Flügelrauschen der Schwäne aus marmorumbordeten Weihern klingt? Ist es eine Königin, die das bunte Treiben einer fürstlichen Hofhaltung, die den brausenden Jubel sich jagender Festlichkeiten mit ihrem kleinen, niedlichen Stiefelchen aus dem Nichts hervorzustampfen weiß?

Solange viele Monde um einen Planeten kreisen, schlägt ein Licht das andre, keines wird beherrschend. Warum übt Frau Luna so verführerischen Einfluß auf die Liebespärchen im Schatten der Alleen und auf die Kater, die miauend in den Dachrinnen schleichen? Weil ihre glänzende Scheibe keinen Rivalen zu fürchten hat, weil in der allgemeinen Dunkelheit jeder Blick, jeder Gedanke, jede Herzensregung in diesen einzigen Lichtkrater stürzt.

In jenem Sommer, da Frau Therese in Nedweditz weilte, war es dahingekommen, daß die Sterne und Doppelsterne der Leutnants und Oberleutnants sich bescheiden und rücksichtsvoll zurückgezogen hatten. Bloß das goldene Dreigestirn, das auf den roten Aufschlägen eines österreichischen Ulanenrittmeisters funkelt, spiegelte sich mit siegreichem Glänze in den feuchten Augen der jugendschönen Mara Nehuda.

»Es hat mir besser gefallen, wie's noch ein ganzer Schwarm gewesen ist,« sagte kopfschüttelnd der alte Hummer, wenn er die Herrin mit dem Rittmeister davonreiten sah.

Das nahm dann die Hummerin gern krumm und begann zu schelten.

»Geh schäm' dich! Redet so ein Christenmensch? Möchtest dir 'leicht einen Türkenharem einrichten, wenn ich es erlauben tät'!«

Dem alten Hummer gab es fast einen Riß. Ein ganzer Türkenharem mit lauter Hummerinnen, das war eine Vorstellung, ihm die Haare zu Berge zu treiben.

»Nicht um ein Eckhaus!« rief er erschrocken. »Hab' schon mit einer genug, in die Haut hinein!«

»Jetzt willst du dich halt schön machen, ja!« sagte sie, noch immer ein wenig mißtrauisch und doch auch ein wenig geschmeichelt. »Was begehrst du dann dagegen auf, daß die Frau nicht mehr den ganzen Schwarm hinter sich her hat?«

Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Stirn und sah sie an, als ob er sie auffressen wollte.

»Weil einer oft mehr ist als viele – begreifst du das nicht? Wo gleich ein Dutzend Täuber ans Kukuruznürschel will, da kommt keiner recht zum Fressen, weil jeder den andern wegdrängt. Und deswegen ist mir auch eine ganze Schwadron Ulanen lieber als ein einziger Rittmeister. Capisti?«

An diesem Sonntag ging ein Gewitter nieder, das bis gegen Mittag anhielt. Was brauchte es einer andern Erklärung, daß Frau Mara zur Mahlzeit nicht heimgekommen war? Aber Moini schien es keine genügende Erklärung. Und wie ein verstimmtes oder gar mißtrauisch gewordenes Gemüt Gründen nicht mehr leicht zugänglich ist, so verschloß er sich den milden Vorstellungen der Mutter, die dem an sich unbedeutenden, aber durch die besonderen Umstände immerhin peinlichen Vorfalle eine harmlose Deutung zu geben sich bemühte.

Es ist seltsam, wie schicksalsschwere Stunden sich oft der nichtigsten Zufälle bedienen, um weittragende Entscheidungen herbeizuführen. Warum mußte Moini gerade für diesen Nachmittag die Landauerkutsche befohlen haben, um mit seiner Mutter, seiner Frau und seinen Kindern einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen? Warum mußte Mara von ihrem Spazierritt, auf dem der Regen sie genötigt hatte, in einem Bauernhofe unterzustehen, gerade in dem Augenblick zurückkehren, als er sich entschloß, ohne sie zu fahren, und Frau Therese mit den Kindern im Wagen bereits Platz genommen hatte? Warum mußte Mara, als er, halb versöhnt durch ihr endliches Eintreffen, sie einlud, doch noch mitzukommen, darauf erwidern, sie müsse sich erst umkleiden, im Reitkleid könne sie an der Wagenfahrt nicht teilnehmen? Und warum mußte gerade diese letzte Viertelstunde Wartens, die das Eingehen auf ihren berechtigten Wunsch erfordert hätte, und auf die es wirklich nicht mehr angekommen wäre, den dürftigen Rest von Moinis Geduld völlig erschöpfen, daß er dem Kutscher ein zorniges »Vorwärts!« zurief? War denn die Kluft, die zwischen den Gatten gähnte, nicht tief genug, daß es noch solcher Kleinigkeiten bedurfte, sie unüberbrückbar zu machen?

Vielleicht ist es lächerlich, daß eine Ehe, die große Gegensätze stillschweigend überdauert hatte, daran scheitern mußte, daß Moini, das Recht seiner Frau, sich umzukleiden, nicht anerkennen wollte. Aber wer es unglaubhaft fände, der wüßte nicht, wie oft gerade entscheidende Augenblicke mehr auf einen platten als auf einen feierlichen Ton gestimmt sind. Der wüßte nicht, daß das Leben nicht gern wie ein Jambendrama stelzt und deklamiert, daß es wirksame Aktschlüsse mit bengalischer Beleuchtung nicht liebt und manchmal dem Hanswurst gleicht, der »Hopsa!« sagte, als ihn der Henker mit der Schlinge um den Hals von der Leiter stieß.

Erquicklich war diese Spazierfahrt nicht. Moini blieb einsilbig und in sich gekehrt, Frau Therese hielt sich an die Kinder, die ihr gegenübersaßen, und zwang sich dazu, mit ihnen zu scherzen, weil sie ihr leid taten. Wie lange würde es währen, so fingen sie vielleicht zu begreifen an, daß die Neigung, der sie ihr Leben dankten, zu sterben drohte oder längst gestorben war. Es waren unverkennbar Maras Kinder, sie glichen mehr ihrer schönen Mutter als dem Vater. Aber es waren auch Frau Theresens Enkelkinder, und ein Herz wie das ihrige verzichtet nicht auf das Recht zu lieben.

In der Wirtschaft, die weit draußen im grünen Lande, am Saum eines Buchenwaldes lag, erlebten die Kinder eine Enttäuschung. Die Großmutter hatte ihnen von der Schaukel gesprochen, die es dort gab, indessen fand man den Garten überfüllt und mußte froh sein, im Gedränge der Menschen noch ein Plätzchen an einem abseits stehenden Tische zu erobern, um eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen. Deutsche Turner aus dem benachbarten Kreisstädtchen hatten sich an diesem Tage eingefunden, um sich mit ihren Volksgenossen, die in Nedweditz zu einer winzigen Minderheit zusammengeschmolzen waren, zu verbrüdern. Jetzt feierten sie hier gemeinsam ein urgermanisches Fest, schwangen ihre mit Eichlaub geschmückten Turnerhüte, ließen ansehnlich viel Bier durch die Gurgel laufen und hielten Reden, die mit einmütiger Begeisterung aufgenommen wurden und keinen Widerspruch zu fürchten brauchten, denn es waren alle der gleichen Meinung. Dazwischen aber sangen sie mit unentwegten Stimmen, wie es sich für Wotansenkel ziemt, feierliche Scharlieder, die manchmal vielleicht ein bißchen falsch klingen mochten, an Überzeugtheit aber nichts zu wünschen übrig ließen.

Warum sollen die Menschen nicht so viel Wärme und Begeisterung in sich wecken, als jedem möglich ist? Laßt ihm das bißchen Glühen für eine allgemeine Sache, heiße sie wie immer! Hebt es nicht den Beschränktesten über seine Gewöhnlichkeit hinaus, so hoch als sein Wuchs eben langt? Hascht er nicht schon ein Endchen, einen äußersten Zipfel wenigstens vom Kleide des Göttlichen, wenn er nur erst angefangen hat, seiner eigenen Enge zu vergessen? Verrucht die irdische Gewalt, die den Gemütern ihre natürlichen Herdegüter verkümmern wollte, ihren Glauben oder ihre Sprache, ihre Art und ihre Sitte, ihre Lieder oder ihre Helden!

Aber das politische Schachspiel hat den slawischen Pionen allmählich die Meinung erweckt, die Figuren auf dem Brette würden bloß gezählt, und gleiches Recht für alle bedeute, daß ein Pion nicht weniger gelten dürfe als ein Läufer, ein Springer oder Turm. Sie haben sich alte Spielregeln ausgegraben, die nie zu Recht bestanden, und halten sich für herausgefordert, wenn sie nicht das ganze Feld allein beherrschen. Und sie hoffen die Partie auf die denkbar bequemste Art zu gewinnen, indem sie über verletzte Rechte zetern, wenn ihnen nicht gutwillig alle Vorrechte eingeräumt werden, die sie sich anmaßen.

Um den Gastgarten hatten allerhand verdächtige Gestalten sich gesammelt, die lauernd hinter die Ligusterhecken gedrückt standen und die Festfeier der Turner mit hämischen Blicken beobachteten. Durch fortwährenden Zuzug einzelner oder ganzer Rotten ans der Stadt wuchsen sie allmählich zu einer schwarzen Menschenmenge an, aus der Gejohle aufstieg und Pfiffe gellten, so oft die bierfröhlichen Teutonen in Jubelrufe ausbrachen.

»Was ist das für ein Mob?« sagte Frau Therese empört. »Die Deutschen werden doch noch ihre Feste feiern und ihre Lieder singen dürfen?«

»Warum bleiben sie nicht daheim?« antwortete Moini. »Warum müssen sie gerade nach Nedweditz kommen?«

Die Mutter sah ihn groß an, mit freiem Blick und erhobenem Haupt.

»Und warum sollen sie gerade nach Nedweditz nicht kommen dürfen, wenn es ihnen Vergnügen macht?«

Er schwieg und zuckte bloß die Achsel. Es brauste ein Lied durch den Garten. Feierlich klang es und weihevoll: »Deutschland, Deutschland über alles!« Die Turner an den Biertischen sangen es, und manchem wurde das Auge feucht und sein Antlitz verklärte sich, als ob er in einer Kirche und vor einem Altar sänge. Kaum waren die Klänge verhallt, so stimmten die Tschechen hinter den Ligusterhecken das » Kde domov muj« an. Es war der ganze Zauber der slawischen Melodie in dem Liede, die Sehnsucht und die Melancholie der Rasse.

»Wenn sie singen,« sagte Frau Therese milde, »so rühren sie an das Tiefste, das ihr Volkstum in sich birgt. Warum setzen sie sich nicht wie die andern in einen Gastgarten zusammen? Niemand würde sie hindern, ihr Lied zu pflegen. Warum müssen sie den deutschen Turnern ihr Fest stören?«

»Weil sie wissen,« sagte Moini, »daß es den Turnern bloß um eine Provokation zu tun ist.«

»Ist es so weit gekommen in Nedweditz,« sagte Frau Therese bekümmert, »daß schon die bloße Anwesenheit von Deutschen als Herausforderung betrachtet wird?«

»Es kann noch ungemütlich werden,« meinte Moini. »Wir wollen aufbrechen und lieber die Wagenfahrt weiter ausdehnen, statt länger hier zu sitzen.«

Ein Wettstreit der Lieder und Gesänge hatte begonnen. Im Garten klangen deutsche Worte und Weisen, von den Feldern draußen, wo die Menge immer noch anwuchs, tschechische Nationalgesänge. Schon klirrte es wie von Waffen. Wie Donner und Hagel prasselte das hussitische Hetzlied » Hrom a peklo« auf die Köpfe der Turner nieder, da sangen sie mit zusammengezogenen Brauen und entschlossenen Mienen: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ.« Und jedesmal, wenn ein Sang zu Ende war, schrien die Deutschen minutenlang aus voller Kehle »Heil!« oder gar »Heilo!« und die Tschechen ebensolange und ebenso dröhnend ihr »Slawa!« Als nun aber gar in einer Sangespause ein blonder Wotansenkel, erbittert durch die Störung des internen Festes, seinen Bierkrug hob und die deutsche Staatssprache hochleben ließ, da flog der erste Stein in den Wirtsgarten.

Im Tumulte beeilte sich Moini, seine Mutter und seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie bestiegen den Wagen und fuhren weiter ins Land hinaus, um über die bewaldete Bodenwelle, die sich an den sogenannten Hals schließt, in weitem Bogen nach Nedweditz zurückzukehren.

Frau Therese verbarg ihren Unmut nicht. Sie nahm sich kein Blatt vor den Mund und tadelte das herrschende System, das die Begehrlichkeit der Slawen ins Maßlose steigere. Hatte nicht der führende Staatsmann selbst in einem Augenblick des Zagens es ausgesprochen, daß es unmöglich sei, ihre Unersättlichkeit zu befriedigen? Hatte er nicht seufzend einbekannt, daß es sie jetzt nach der ganzen Hand gelüste, da er ihnen einmal den Finger gereicht? Gleiches Recht für alle Völker des Staates, meinte sie, sei das doch nicht, wenn man in den Ländern der Wenzelskrone auch rein deutschen Gebieten die tschechische Sprache neben der deutschen für Amt und Schule aufzwingen wolle und damit stillschweigend das böhmische Staatsrecht anerkenne, das das Gefüge des Reiches zu sprengen drohe!

»Haben wir jetzt nicht den Unfrieden allüberall, den Krieg im Innern? Ist an die Stelle der deutschen Ungerechtigkeit und Überhebung von früher nicht die der Slawen getreten? Warum soll nicht ein jeder sein Volk, seine Sprache, die Art seiner Väter lieben und dabei seinen Nächsten verstehen und achten können, wenn er dieselben Güter liebt und heilig hält?«

»Ich bin Fabrikant,« versetzte Moini ausweichend; »ein Mensch, der viel zu tun hat, ein einfacher Arbeiter, nichts weiter. Was kümmert mich der Zank der Nationen? Ob Böhmen oder Deutsche an meinen Webstühlen stehen, mir gilt es gleich. Der Arbeiter ist für mich der Arbeiter, welche Sprache er immer spricht. Ich habe keine anderen Interessen zu vertreten als die meiner Industrie, es fehlt mir an Zeit und Lust, mich mit Parteistreitigkeiten abzugeben. Von mir aus können die Tschechen ganz Nedweditz erobern, ich bin Weltbürger, ich wehre es ihnen nicht.«

»Bloß Weltbürger?« rief Frau Therese den Kopf schüttelnd. »Das ist nicht genug, Moini! Es muß ein jeder auch ein bestimmtes Volkstum in sich haben, soll er nicht kalt und farblos werden. Niemand kann für die Welt wirken, der nicht zuerst auf seine nächste Umgebung, für die ihm Zugehörigen, für seine Landsleute und sein Volk zu wirken gelernt hat. Weist nicht schon Christus seine Jünger an: ›Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte?‹ Aus dem Kleinen ins Große muß der Segen eines tätigen Lebens strahlen, aus dem Engen ins Weite, kein Wort, kein Werk, keine Tat, keine Errungenschaft hat je die Menschheit erlöst, die nicht vorerst ein Volk erlöste. Darum soll ein jeder sich zu dem bekennen, wozu er geboren ist, und sein Volkstum nicht verraten noch veräußern. Nur darf dieses freilich nicht, wie es jetzt unter den Nationen geschieht, zum Haß und zur Unterdrückung gebraucht werden. Eine Quelle der Kraft soll es sein, die uns gegen engherzige Gesinnung stärkt, ein Born der Milde und des Verstehens, der aus unserm tiefsten Innern quillt, eine Schulung der Liebe am Nahen und Greifbaren, ehe wir reif geworden, die ganze Welt mit unserer Liebe zu umfassen.«

Bereits senkte der Abend sich hernieder, als der Wagen die lange, gerade Straße zwischen Wäldern entlang fuhr. Die beiden Kinder, die ihnen gegenübersaßen, waren müde geworden durch die lange Fahrt. Sie hatten sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Der Schlummer nahm sie in seine Arme und wiegte sie sacht.

»Laß mich ein offenes Wort zu dir sprechen, Moini,« sagte Frau Therese, indem sie die Hand ihres Sohnes ergriff. »Du bist nicht zufrieden mit dir selbst, ich weiß es, und du machst auch deine Umgebung nicht froh. Die Arbeiter lieben dich nicht und sind verdrossen bei ihrem Tun. Deine Mitarbeiter lieben dich nicht und gehorchen nur widerwillig deinen Befehlen. Sie alle sehen in dir nichts anderes als den klugen, weitblickenden Ausbeuter ihrer Kraft, den sie fürchten, vielleicht achten, aber nicht lieben.«

»Du sprichst hart, Mutter,« sagte Moini.

»Du hast die Fabrik zu einem großartigen und blühenden Unternehmen ausgestaltet,« fuhr sie fort, »und ich kann dir meine Anerkennung nicht versagen, daß du meine Arbeit, die Arbeit deines Vaters so glücklich und erfolgreich fortsetzest. Aber du bist unser Nachfolger geworden nur im Werk, nicht im Geiste. Denn unser Ziel ist das Wirken selbst gewesen und das Gedeihen vieler. Deine Tätigkeit aber geht bloß auf Gewinn, die Menschen sind dir gleichgültiger geworden als Maschinen. Die Schutzgesetzgebung für die Arbeiter, die ich unserer Zeit hoch anrechne, die Unfall- und Krankenversicherung, alles, was das Elend, das die Maschinen über die Menschen gebracht haben, durch Liebe mildern und heilen soll, ist dir ein Dorn im Auge, ich habe dich nur mit Groll davon sprechen hören. Du bist nicht auf dem rechten Wege, Moini, halte ein! Was soll aus dem deutschen Bürgerstande werden, dessen gesunde Kraft, dessen schlichter und gerechter Sinn unser Vaterland zusammenhält, wenn er über sich selbst nicht mehr hinausdächte, keine andern Ziele mehr kennte als Geldverdienen und Reichwerden? Wenn er sich nur mehr seiner Rechte bewußt wäre, seiner Pflichten aber vergäße? Du weigerst dich, deinem Volke zu geben, was deines Volkes ist. Du versagst auch den Vielhundert Menschen, die von dir abhängen, was sie von dir zu erwarten ein Recht haben: Wohlwollen, Fürsorge, ein teilnehmendes Herz. Und dies ist der Grund, warum du nicht glücklich und im Innersten mit dir nicht zufrieden bist, Moini: denn um es zu sein, muß man mehr ans Geben denken, als ans Nehmen.«

»Ich bin in erster Linie Fabriksherr,« wiederholte Moini verstockt. »Der Wettbewerb ist scharf, ich kann keine Gefühlspolitik machen. Für mich ist der wohlfeilste Arbeiter der beste, und im übrigen geht er mich nichts an. Ich wüßte auch keinen Grund, warum ich mit meinem Leben unzufrieden sein sollte – hätte ich mich nicht in Mara getäuscht. Sie ist eine oberflächliche, vielleicht sogar eine leichtfertige Frau. Sie bringt mich ins Gerede und untergräbt meine Ehre. Sie raubt meinen Nächten den Schlaf und meinen Tagen die Freudigkeit. Und das ist der wahre und einzige Grund, wenn du es schon wissen willst, Mutter, warum du mich elend und verbittert findest: Ich bin durch Argwohn und Mißtrauen vergiftet!«

»Und auch dieses Elend der Verbitterung,« sagte Frau Therese, »wächst aus derselben Wurzel, von der ich spreche. Wärst du deiner Frau der Freund und Führer, der du ihr sein solltest, so läge deine Ehre nicht in den Händen der Leute, denen stets jeder Anlaß zum Klatsch erwünscht ist. Mara ist nicht schlecht, sie ist auch nicht leichtfertig, sie ist nur jung, einsam und unberaten. Ich habe viele Menschen kennen gelernt in meinem Leben und täusche mich nicht leicht. In den Tagen, seit ich hier bin, gab ich mir Mühe, Mara zu verstehen, und ich glaube, ich habe sie verstanden. Sie sprüht von Leben und Bewegung, sie braucht Wärme, sie braucht Freude. Ihr Gemüt darbt, weil es keine Nahrung findet, und droht zu verkümmern. Was bist du ihr? Ein Geschäftsmann, der keine Zeit für sie übrig hat. Was ist ihr deine Arbeit? Ein Rechenexempel, wie man seinen Vorteil am besten wahrnimmt. Hast du ihr je Ziele gezeigt, die ihr Herz erwärmen könnten? Hast du je versucht, in die Tiefe zu schürfen, ob ihr nicht nach Freundschaft bangt, wie sie zwischen Ehegatten bestehen soll, nach Teilnahme an deinem Denken und Tun, nach wahrer Lebensgemeinschaft? Wo sie auch anklopfte, überall hat sie Kälte gefunden, überall Kalkulation, nirgends die Möglichkeit, dir und den vielen Menschen, die sich um deine Fabriksschlote sammeln, etwas anderes zu sein, als eine Fremde.«

»Ich zweifle, ob sie sich etwas anderes wünscht,« sagte Moini.

»Sie ist eine leidenschaftliche, warmherzige und hilfsbereite Natur, das weiß ich; sonst wäre sie nicht mit solchem Eifer für ihre Landsleute eingetreten. Hat sie es nicht zuwege gebracht, allmählich die ganze Fabrik mit Tschechen zu bevölkern?«

»Und hab' ich sie etwa daran gehindert?«

»Nein! Und gerade dies zeugt von der Lauheit deines Herzens!« rief Frau Therese. »Gerade hierin muß sie bei ihrer ganzen Art zu denken, den bündigsten Beweis dafür erblicken, daß sie einen Mann zum Gatten erwählt hat, dem das Rasseln der Maschinen sein natürliches Empfinden verkümmert. Der Tscheche, der so handeln würde, wäre ihr verächtlich – meinst du, daß sie sich nicht manchmal daran erinnert, daß du ein Deutscher bist? Und weißt du nicht, daß eine Frau zu lieben aufhört, wo sie nicht achten kann? Weißt du nicht, daß ihr Glück zu Ende ist, wo sie aufhört zu lieben? Und nun wunderst du dich darüber, daß sie wenigstens lustig sein will, wenn sie schon darauf verzichten mußte, glücklich zu sein?«

»Verzeih, Mutter,« sagte Moini; »aber dies alles ist bloß – Frauenlogik.«

Sie fuhren nun schon an den ersten, noch einzeln stehenden Häusern der Stadt vorüber. Immer mehr gerieten sie in eine lästige Staubwolke, bis sie endlich eine dunkle Menschenmasse einholten, die in der Dämmerung vor ihnen herzog. Von Zeit zu Zeit schlug wildes Gejohle daraus hervor, und gelle Pfiffe schnitten durch die Luft. Der Lärm galt den deutschen Turnern, die sich nach manchen Balgereien aus jenem Gastgarten gegen Nedweditz durchgeschlagen hatten und nun, umdrängt und gefolgt von der aufgebrachten Menschenmenge, ihren Einzug in das Städtchen hielten, das sie passieren mußten, um über den Hals die Eisenbahnstation zu erreichen.

»Fahren Sie drauf los!« befahl Moini dem Kutscher.

»Es sind zu viel Leute.«

Nur im Schritt kam der Wagen vorwärts. So rollte er durch die ersten Gassen und gelangte bis auf den Marktplatz.

»Hauen Sie auf die Pferde ein, die Leute werden schon ausweichen!«

»Es geht nicht, Herr, die Pferde werden mir scheu.«

Ein vielhundertstimmiges Geschrei stieg zum Himmel. Es dunkelte bereits, nur wenige Gaslaternen brannten auf dem weiten Platze. Alles war schwarz von Menschen, und der Wagen stand jetzt eingekeilt in der Menge, wie angenagelt.

Plötzlich klirrte es von zerbrochenen Scheiben. Die Turner hatten sich ins »Deutsche Heim« geflüchtet, gegen dessen Fenster sich ein Hagel von Steinen richtete.

»Gibt es denn in Nedweditz keine Polizei oder Gendarmerie?« fragte Frau Therese entrüstet.

»Eine echt österreichische Wirtschaft!« sagte Moini, der nun selbst ärgerlich wurde.

»Echt österreichisch?« antwortete sie; »sagen wir lieber: eine böhmische Wirtschaft.«

»Das bringt alles die Luft mit sich, die jetzt von Wien her weht.«

»Und die Lauheit der Einflußreichen unter den Deutschen, die sich nicht einmütig dagegen erheben, daß man ihren Landsleuten dergleichen zu bieten wagt!«

Ein Kerl, der wie ein Hunne aussah, schwang sich auf den Tritt des Wagens.

»Das ist auch so ein deutscher Hund!« schrie er in tschechischer Sprache, während er die Hand gegen Moini ausstreckte.

»Schlagt sie nieder die deutschen Hunde!« scholl es aus der Menge.

Die Kinder, die erwacht waren, verbargen wimmernd ihr Gesicht in Frau Theresens Schoß.

»Ich bin kein Deutscher, ich bin Österreicher!« sagte Moini, in tschechischer Sprache antwortend. »Macht meinem Wagen Platz, ihr wißt doch, daß ich ein Freund der Böhmen bin? Ihr alle wißt es, daß ich Hunderten von böhmischen Arbeitern Brot zu verdienen gebe!«

Gelächter antwortete ihm.

»Ein Leuteschinder ist er! Ein deutscher Blutsauger!«

»Die Haut zieht er den böhmischen Arbeitern über die Ohren!«

»Ein Feigling ist er, der seine Nation verleugnet!«

»Prügeln wir ihn, den Ausbeuter, den Menschenwucherer, den deutschen Heuchler, der sich mit dem Schweiß des böhmischen Volkes mästet!«

Ein Dutzend Hände faßte ihn am Rock und versuchte ihn aus dem Wagen zu zerren.

»Zurück, tschechisches Gesindel!« rief Frau Therese empört. »Wie könnt ihr es wagen, friedliche Leute, die euch nichts angetan haben, auf offener Straße anzufallen wie Wegelagerer? Zurück sag' ich, oder ich vergreife mich an euch!«

Sie stieß einige von den Händen, die sich nach Moini ausgestreckt hatten, zur Seite und maß die hussitische Meute mit drohenden Blicken.

»Sprechen Sie böhmisch mit uns!« rief eine Stimme.

»Ich bin eine Deutsche,« sagte sie fest, »und rede in meiner Sprache zu euch, die ihr besser versteht, als ich die eurige. Und so sage ich euch auf gut deutsch, daß wir in Österreich leben und nicht in einer Wildnis, und daß ich mir und jenen deutschen Turnern, die ihr verfolgt, Recht verschaffen werde gegen eure rohen Übergriffe, so wahr mir Gott helfe!«

Murrend, aber betreten wichen die aufgehetzten Gesellen vor der erzürnten Frau zurück, die dem Kutscher den Befehl gab, sie nach dem Hause des Bürgermeisters zu fahren. Unbehelligt ließen sie den Wagen umwenden und machten schweigend und fast ehrerbietig Platz, als er dieselbe Straße davonrollte, die er gekommen war.

»Wer ist gegenwärtig Bürgermeister von Nedweditz?« wendete Frau Therese sich an Moini.

»Noch immer Herr Kilian.«

»Ist das noch der Kilian von einst, der dicke Bäckermeister, der mir im Jahre sechsundsechzig so viel zu schaffen machte?«

»Es ist derselbe. Er schreibt sich jetzt Frantisek Killjan und hat ein tschechisches Aushängeschild über seinem Bäckerladen angebracht. Bei dem wirst du nicht viel richten.«

»Wir wollen es abwarten.«

Als sie den Schwimmschulkai erreicht hatten und an der Gartenpforte der Villa »Amalienruhe« hielten, sahen sie in der Dunkelheit einen großen, starken Mann, der eben aus der Stadt zu kommen schien, in die Gittertür treten und sich eilfertig über den Kiesweg entfernen. Er tat, als hätte er gar nicht bemerkt, daß ein Wagen vorgefahren war, und beabsichtigte offenbar, so rasch als möglich im Hause zu verschwinden.

Aber Frau Therese rief ihn an: »Herr Bürgermeister?«

Da blieb ihm nichts übrig, als umzukehren und sich zu nähern. Im Schein der Wagenlaternen erkannte sie, daß es wirklich Herr Kilian war.

»Ich wundere mich,« sagte sie, ruhig im Wagen sitzen bleibend, »daß Sie in diesem Augenblicke Zeit finden, nach Hause zu gehn?«

Er gab eine Antwort in tschechischer Sprache, die sie nicht verstand.

»Ich muß alt geworden sein, Sie kennen mich nicht mehr,« fuhr Frau Therese lachend fort. »Aber da Sie gewiß den Mairoldschen Wagen sofort erkannt haben, so werden Sie sich nicht lange den Kopf darüber zerbrechen müssen, wohin Sie mich tun sollen.«

»Um Gottes willen, Frau Mairold, bitte tausendmal um Verzeihung!« sagte er, eine übertriebene Überraschung heuchelnd. »In der Finsternis kennt man sich halt nicht gleich aus. Es ist mir wirklich eine große Ehre. Darf ich untertänigst bitten, in mein bescheidenes Haus zu treten?«

»Danke! Ich komme zu Ihnen, nur weil Sie Bürgermeister sind. Ich wollte Sie fragen, warum Sie nichts vorkehren, die Krawalle zu unterdrücken, die sich in der Stadt abspielen?«

»Oh –! Krawalle?« rief er in scheinheiliger Bestürzung. »Ja, ich sag' es immer: nur eine Stunde darf man fortbleiben, so ist schon wieder der Teuxel los.«

Er gab sich den Anschein, als wüßte er von nichts. Nicht einmal, daß deutsche Turner einen Ausflug nach Nedweditz unternommen hatten, wollte er wissen. Und daß sie jetzt in der Stadt vom tschechischen Pöbel bedroht und förmlich belagert wurden, davon hatte er, wenn man ihm glauben durfte, erst recht keine Ahnung.

»Nein, so etwas!« rief er ein übers anderemal. »Ich bin wie aus den Wolken gefallen! Nicht träumen hätte ich mir's lassen!«

»Gut, nun wissen Sie es aber,« sagte Frau Therese scharf. »Und daß wir selbst vor kaum einer halben Stunde mitten auf dem Marktplatz von Nedweditz beschimpft und bedroht wurden, will ich Ihnen auch nicht verheimlichen. Nun antworten Sie mir: Ist der Deutsche rechtlos geworden in dieser Stadt? Gibt es keine Behörde, die sich verpflichtet fühlt, derartigen Ausschreitungen entgegenzutreten?«

»Freilich, freilich, tät' es sich gehören!« jammerte Herr Kilian, ganz kleinlaut geworden. »Aber denken Sie nur! Was fang' ich mit meinen drei Manndeln Polizei an?«

»Drei Männer mit Säbeln an der Seite zählen schon etwas,« sagte Frau Therese. »Nur dürfen sie sich freilich nicht über höheren Befehl im Gemeindehause versteckt halten, wie sie es heute getan zu haben scheinen.«

Er wollte Einspruch erheben, sie ließ ihn aber nicht zu Worte kommen.

»Mir wenigstens,« fuhr sie unbeirrt fort, »ist es mit dem besten Willen nicht gelungen, von Ihrer famosen Stadtgarde auch nur ein Rattenschwänzchen zu erblicken. Übrigens wäre das Postenkommando auch nicht aus der Welt. Ein paar Gendarmen mit aufgepflanztem Bajonett ließen sich leicht requirieren, wenn die Stadtwache allein nicht ausreichte und es der städtischen Behörde ernstlich darum zu tun wäre, die Ordnung aufrecht zu erhalten.«

»Ein famoser Gedanke!« rief Herr Kilian. »Ich will sofort zum Gendarmerieposten schicken. Es ist ein wahres Glück, daß Sie mich noch rechtzeitig verständigt haben.«

Er machte Miene, sich zu verabschieden, Eilfertigkeit und gerechten Eifer vorspiegelnd. Aber Frau Therese tat nichts gerne halb, sie wollte ihrer Sache sicher sein.

»Sie können mit uns fahren,« sagte sie, »damit es schneller geht. Denn daß Sie rechtzeitig verständigt worden wären, möchte ich nicht behaupten, da der tschechische Mob tatsächlich den Deutschen bereits die Fenster eingeworfen und sie an Leib und Gut bedroht hat. Im Gegenteil, es ist die höchste Zeit, und Sie haben keine Minute mehr zu verlieren, sonst könnten Sie noch in den Ruf kommen, ein pflichtvergessener und parteiischer Bürgermeister zu sein. Darum wollen wir Sie lieber gleich selbst zur Gendarmerie und aufs Gemeindehaus bringen. Es ist Ihnen doch sicher daran gelegen, Ihre Reputation wiederherzustellen und den Aufrührern so rasch als möglich zu zeigen, daß Nedweditz eine geordnete Verwaltung besitzt und die städtische Behörde sich nicht auf der Nase herumtanzen läßt?«

Herr Kilian versicherte, daß ihm in hohem Maße hieran gelegen sei, wollte aber unter allerhand Ausflüchten sich drücken und lieber zu Fuß die nötigen Gänge besorgen. Es würde sofort alles Wünschenswerte und Mögliche vorgekehrt, versicherte er; die Herrschaften könnten sich auf ihn verlassen. Aber im Wagen mitfahren, das dürfe er unmöglich annehmen, nein, das wäre des Guten zu viel, er stehe ohnedies schon tief in der Dankesschuld, weil die Herrschaften eigens herausgefahren, ihn zu verständigen. Jetzt wolle er nicht noch tiefer hineinkommen, darum bedanke er sich untertänigst und empfehle sich fernerem gnädigen Wohlwollen und geneigter Erinnerung, insbesondere, falls der unliebsame Zwischenfall vor der Bezirkshauptmannschaft zur Verhandlung käme.

Aber er mochte reden, so viel er wollte, Frau Therese ließ nicht locker, und die Offenheit, mit der sie sprach, machte Herrn Kilian starr vor Schreck.

»Nun hab' ich Sie einmal gefangen,« sagte sie lachend, »und ein alter Fuchs ändert vielleicht das Haar, aber nicht den Sinn; darum sollen Sie mir nicht mehr auskommen. Geben Sie sich also gutwillig in Ihr Schicksal, wertester Herr Bürgermeister, und kommen Sie mit. Also vorwärts, wenn ich bitten darf! Tun Sie mir den Gefallen und steigen Sie auf!«

»Der Platz wäre zu knapp,« wehrte er sich mit dem letzten Rest von Widerstandskraft, »ich würde die Herrschaften nur stören und belästigen.«

»Durchaus nicht! Auf dem Bock neben dem Kutscher ist Platz genug! Nur rasch, bitte, und keine Zeit mehr verloren!«

Da bewegte er sich gegen seine eigene Absicht wie ein Automat um den Wagen herum, kletterte völlig haltlos unter dem Einfluß von Frau Theresens starkem Willen auf den Kutschbock und ließ sich gleich einem stummen Kalbe, dem die Füße zusammengebunden sind, erst auf die Gendarmerie, dann aufs Gemeindeamt fahren, wo er sogleich wie ein Gewitter einschlug. Denn es war, als ob ein Schicksal ihn am Kragen erwischt und zu seinem willenlosen Werkzeug erkoren hätte. Unter Donnern und Poltern, als gält' es eine ganze Armee zu mobilisieren, rief er alle verfügbare, Mannschaft unter die Waffen und setzte sich selbst an deren Spitze. Was blieb ihm anderes übrig? Noch länger beide Augen zuzudrücken, war zur Unmöglichkeit geworden, so wollte er wenigstens versuchen, bei Frau Theresen den Anschein zu erwecken, als sei er ein Hort des Gesetzes und eine durch und durch pflichtbewußte Amtsperson.

In weniger als eine halben Stunde war der Marktplatz vom johlenden Gesindel gesäubert, und die Turner konnten unter dem Schütze des Kilianschen Heeres abziehen, ohne daß ihnen ein Haar gekrümmt wurde. Nun rollte auch der Wagen, in dem Frau Therese mit Sohn und Enkelkindern saß, auf der andern Seite zum Städtchen wieder hinaus. Als er sich der Mairoldschen Fabrik näherte, lag bereits undurchdringliche Nacht über dem weiten Lande und dem bewölkten Himmel, der es rings umgrenzte.

»Die tschechische Bagage,« sagte Moini, gleichsam einen Schlußpunkt hinter das Erlebnis setzend, »könnte einen fast ins deutsch-nationale Lager treiben, wüßte man nicht, daß die Deutschen, wo sie in der Mehrheit sind, es genau so machen.«

»Wollte Gott,« sagte Frau Therese ernst, »daß dann die Böhmen ihnen ebensowenig ihr Unrecht hingehen lassen, wie wir es heute taten. Denn die Völker wie die Menschen sind dazu verpflichtet, einander gegenseitig zum Recht und zur Ordnung zu erziehen, damit die Willkür nicht zur Herrschaft gelange auf der Erde!«

Zu Hause angekommen, fiel es Moini auf, daß die Dienerschaft, als er sich nach der Frau erkundigte, scheu und ausweichend antwortete. Ahnungsvoll begab er sich in Maras Gemächer, fand aber nichts von ihr als einen Brief, der in einer Weise auf den Tisch gelegt war, daß er in die Augen fallen mußte. Der Brief war an Frau Therese gerichtet und enthielt Abschiedsworte.

»Ich kehre ins Haus meiner Eltern zurück,« hieß es darin; »du wirst mich vielleicht verurteilen, Mutter, aber ich kann nicht anders. Ich fühle, daß Moini mich nicht mehr liebt. Tat er es je? Ich weiß es nicht. Wen liebt er überhaupt? Nicht einmal sein eigenes Volk, das doch der Niedrigste und Dürftigste liebt. Nicht einmal sein eigenes Volk!« ...

Der Herbst stand vor der Tür, Frau Therese war abgereist. Die mutterlos gewordenen Kinder, den Knaben und das Mädchen, hatte sie in die Stadt mitgenommen. Es verlautete, daß Mara einen Prozeß anstrengen würde um die Kinder.

Als einsamer Mann blieb Moini in Nedweditz zurück. Er war noch härter geworden als ehedem. Bei jeder Gelegenheit zeigte er den Arbeitern die Herrnfaust. »Wen liebt er überhaupt?« hatte Mara gefragt. Er wußte eine Antwort darauf. Die Kraftstühle liebte er und die Kettenschermaschinen. Die waren ebenso klug wie Menschen, und außerdem so gewissenhaft als jene leichtfertig, so gehorsam, gutwillig und anspruchslos als jene unbotmäßig, störrisch und unersättlich.

Es war eine harte Zeit für die Menschen in Nedweditz, und nur die Maschinen hatten es gut.

»Merkwürdig!« sagte der muntere Mundel; »immer einmal nützt auch der beste Schußwächter nichts. Und wenn er noch so gut obacht gibt und noch so laut schreit: Einhalten, einhalten! – immer einmal nutzt es halt nix. Und je größer der Stiefel ist, der gemacht wird, je tauberen Ohren predigt die Vernunft. Denn wenn einmal alle Fäden verrüttet sind, dann webt der Stuhl halt weiter wie ein Roß, das den Koller hat, und hört auf keine Mahnung und auf keinen Zuruf mehr, gerade als hätt' er eine Freud' an dem verrückten Bofel, der dabei herauskommt. No, und bei den Menschen ist es halt auch nicht viel anders. Je tiefer einer ins Schlamassel hineinkommt, je weniger will er einhalten, und je schwerer wird ihm das Umkehren.«

*


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