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Im Saale spielt inzwischen die Musik zu einem Rundgang auf, die erhitzten Wangen der jungen Paare verströmen ihre Glut in die kühlende Frühlingsnachtluft, die durch die nach der Gartenseite geöffneten Fenster des Saales hereinweht. Ein noch sehr junges, schlankes blondes Mädchen schreitet am Arme Dolls dahin. Es ist Bethy, die jüngste Leodolter, deren reiches Haar wie goldige Rohseide schimmert. All ihre Väter, bis weit zurück, hatten es mit Seide zu tun, von der Mutterseite her fließt adliges Blut in ihren Adern. Aber auch altes Weberblut ist adlig, ehrwürdig und adlig das Weben am Webstuhl, das einst Königinnen nicht zu gering dünkte. Und all ihre Väter, bis weit zurück, hatten kunstreiche Gewebe aus schimmernder Seide gewebt.
»Es duftet nach Flieder,« spricht sie, »es duftet nach Land und nach Freiheit. Wonnig, wie die Luft aus dem Garten streicht!«
»Wenn man diese Frühlingsstille atmet,« sagte Doll, »so kommt einem das fröhliche Treiben unter den vielen Menschen fast zu lärmend vor.«
Sie sind ans offene Fenster getreten und haben sich weit hinausgebeugt.
»Sollten Sie es glauben, daß ich mich immer und immer aus der Stadt heraussehne? Ich weiß nicht, woher das in nur kommt. Wenn ich Natalien ihr Glück nicht gönnte, so könnt' ich sie darum beneiden, daß sie auf dem Lande leben wird.«
»Wär' es Ihnen nicht zu einsam?« fragte Doll. »Womit wollten Sie sich den ganzen Tag beschäftigen?«
»Womit, fragen Sie? Meinen Sie, die Zeit würde mir lang? Ich hätte Blumen in den Stuben und im Garten, ich hätte eine Wirtschaft, die aufmerksam besorgt und überwacht sein will, soll sie mir Freude machen. Ein Dorf wäre wohl in der Nähe. Da sind Frauen, die mir raten können, und denen ich vielleicht auch manchmal zu helfen wüßte. Da sind Kinder, die Fürsorge, und Arme und Kranke, die Hilfe brauchen. Freunden in der Ferne schrieb' ich hie und da einen Brief, und an langen Winterabenden nach des Tages Arbeit – aber das wissen Sie ohnedies, wie man lange Winterabende am schönsten verbringt.«
Entzückt lauscht er ihrem Geplauder.
»Der Tag würde Ihnen also eher zu kurz?«
»Und das muß auch sein,« spricht sie ernst. »Wem der Tag nicht zu kurz wird, der ist nicht glücklich!«
Eine Bewegung ging durch den Saal, daß sie sich unwillkürlich umwendeten. Wie eine Losung flog es von Mund zu Mund, die Paare ordneten sich, eine Gratulationscour für die Haustochter und Braut war im Gange, von irgendeinem jener Betriebsamen ins Werk gesetzt, die immer etwas zu arrangieren wissen. Im roten Salon hatte man Natalie zu einer Art von Thronsessel geleitet, der, mit Teppichen umhängen, etwas erhöht aufgestellt war, und eine feierlich getragene Musik zitterte über dem Gedränge der schwarzen Fräcke und zartfarbigen Seidengazewolken. Tuberosen, Narzissen und Veilchen begannen in den Schoß der verlegen lächelnden Braut niederzuregnen. Dankbar und befangen gleich einer jungen Königin, die sich der ihr erwiesenen Ehren nicht ganz für würdig hält, neigte sie sich lächelnd den vorüberziehenden Herren und Damen. So häufte man Blüten über sie und hüllte sie in Düfte. Niemand, der diesem ratlosen Kinde nicht alles Glück des Himmels gegönnt hätte.
Als Doll mit Bethy vorüberkam, schweifte sein Blick in die Runde, nach dem glücklichen Bräutigam zu suchen. Aber er gewahrte bloß Frau Sidonie, die von Stolz und Mutterfreude leuchtend an der Seite ihres Kindes stand und die Huldigung der Gäste auch ein wenig auf sich selbst zu beziehen schien. Sie führte ein paarmal ihr Battisttuch an die Augen, die Mutter in ihr hatte für eine kurze Spanne Zeit den Sieg über die Weltdame davongetragen. Herr von Pinkenfeld dagegen, den man der Symmetrie wegen auf die andere Seite von Nattis Thron genötigt hatte, fühlte sich offenbar nicht ganz wohl auf seinem Posten. Unablässig wetzte er, während seine kleinen Augen unstet flackerten, von einem Fuß auf den andern, unschlüssig, welches von seinen beiden Beinen er als Standbein, und welches er als Spielbein gebrauchen solle. Es war, als beunruhige es ihn, sich gleichsam auf dem Präsentierbrett den Blicken seiner Gäste ausgesetzt zu wissen. Die starre, beinahe unterwürfige Liebenswürdigkeit, die er gleich einer Maske aufgesetzt hatte, schien ihm Anstrengung und Mühe zu verursachen. Vielleicht hätte ein besonders scharfes Auge sein wahres Antlitz dahinter erblicken können, das sorgenvoll und wie von wahnsinniger Angst verzerrt unter der lächelnden Grimasse hervorlugte.
Den Zug beschlossen und krönten sechs junge Mädchen, Nataliens beste Freundinnen, in weißen wallenden Gewändern, mit Schwanenflügeln an den schlanken Schultern und blühenden Myrthenstöcken in den Händen. Sie brachten ihre Wünsche in wohlgesetzten Versen vor und wußten mit mancher artigen Anspielung Rührung oder Heiterkeit zu wecken. In einen Reigen übergehend, vereinigten sie sich hierauf zu einem hellen, mehrstimmigen Gesang, der wie ein jubelndes Lied von Engeln durch die Räume schwebte. Und schließlich umgaben sie die Freundin wie schützende Genien mit ihren schneeweißen, wehenden Schwingen und mit dem bleichen Sternenhimmel der bräutlichen Blume, die hundertfältig aus dem satten Grün der Myrthensträucher duftete.
Damit endete das gutgemeinte Zwischenspiel, und die Gesellschaft löste sich auf. Während die jungen Mädchen Natti und ihre Engelschar umdrängten und von den älteren Damen eine jede der Hausfrau ein freundliches Wort sagen wollte, zerstreuten die Herren sich plaudernd durch die Gemächer, oder hielten den Zeitpunkt für gekommen, wo es erlaubt ist, das Büfett aufzusuchen, oder sich ins Rauchzimmer zurückzuziehen.
In dem Augenblick, da Doll den jetzt ganz leer gewordenen Tanzsaal betreten wollte, hörte er Schritte hinter sich und wendete sich um. Natalie war ihm nachgeeilt. Sie stellte sich auf die Fußspitzen und befestigte ein Sträußchen Tuberosen an der Klappe seines Fracks. Er ließ es sich gefallen und hielt still, er sah ihr herrlich schwarzes Haar knapp unter seinen Augen.
»Niemand soll etwas haben von den Blumen,« sagte sie zurücktretend, »nur Sie allein!«
Er bedankte sich.
»Wie komme ich zu solcher Gnade?« fragte er lächelnd.
Natalie sah ihm in die Augen, es war, als ob ihr das Weinen näher wäre als das Lachen. Ihre Mundwinkel zuckten, sie wendete sich ab und lief durch die Flucht der Zimmer vor ihm davon.
Verwundert blickte Doll ihr nach. Er glaubte sie zu verstehen. Er war wohl der erste gewesen, der es unumwunden ausgesprochen hatte, daß sie Unrecht tat, sich gegen ihren Willen verheiraten zu lassen. Er hatte ihr die Freiheit geschenkt.
Er freute sich darüber.
»Sie wird den rechten Weg noch finden,« dachte er und wendete sich in den Saal zurück ...
Natalie aber hatte sich ins äußerste Gelaß geflüchtet, wo es ganz dunkel war. Sie warf sich auf einen Diwan, der da stand, und weinte herzbrechend. Nach einiger Zeit fand sie hier ihr Bruder, der sie in der Gesellschaft vermißt hatte. Sie schlug ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich nieder. Er war ganz erschrocken und konnte sich nicht erklären, was dies zu bedeuten hätte.
»Aber was hast du bloß, Natti, was hast du bloß?«
»Ich mag den Freiherrn nicht!« rief sie schluchzend. »Dein Freund gefällt mir viel besser. Ich liebe ihn! Ich liebe deinen Freund!«
»Welchen Freund?« fragte er ganz bestürzt.
»Doll Mairold! Kannst du es ihm, kannst du es den Eltern nicht sagen?«
»Um Gottes willen, was fällt dir ein, Kind! Erstens kennst du ihn noch kaum, und zweitens – hast du denn irgendein Anzeichen dafür, daß er dich wiederliebt?«
»Nein, nein, nein!« rief sie verzweifelt. »Er liebt mich sicher nicht, ich bin ihm ganz gleichgültig, er denkt gar nicht an mich! O was soll ich tun? Muß ich unglücklich werden? Wie soll ich es anstellen, daß er mich wiederliebt? Kannst du ihm nicht sagen, daß er mich lieben soll?«
»Das kann ich nicht,« antwortete Leo traurig. »Du bist noch ein ganz unerfahrenes Kind! Aber ich will, so oft ich mit ihm von dir spreche, Gutes über dich sagen. Das ist das einzige, was ich tun kann, so gern ich dir beistehen würde.«
»O es wird nichts nützen, es wird alles vergeblich sein!« rief sie in neuen Jammer ausbrechend.
Und sie fuhr fort, sich in leidenschaftlichen Worten zu ergehen, wie ein Sturm war es über sie gekommen. Ganz gelassen und unberührt war ihr Herz bis dahin gewesen, nun öffnete es alle seine Pforten zugleich diesem Jüngling, den sie vor einer Stunde zum erstenmal erblickt hatte. Am Fest ihrer Verlobung mit einem andern schüttelten sie die wonnigen Fieberschauer der ersten Liebe.
Leo redete ihr zu, so gut er es vermochte, und bemühte sich, sie zu trösten. Es gelang ihm, sie nach und nach wenigstens so weit zu beruhigen, daß sie, nachdem sie ihr Antlitz mit Wasser benetzt hatte, zur Gesellschaft zurückzukehren imstande war.
Inzwischen hatte Doll im menschenleeren Saale Herrnfeld getroffen, der sich damit beschäftigte, eine Narzisse, die er aus dem Blumenregen gerettet hatte, in sein Knopfloch zu stecken. Es wurde jetzt hier gelüftet, alle Fenster standen weit offen, und Arm in Arm auf und nieder schreitend, atmeten sie den Duft des Flieders, der aus dem Garten emporstieg.
»Ein sonderbares Verlobungsfest,« sagte Doll. »Wo bleibt der Bräutigam?«
»Eine plötzliche Erkrankung soll ihn daran verhindert haben, das Haus Pinkenfeld mit seiner Anwesenheit zu schmücken.«
»Oh –!«
»Du brauchst dich deswegen nicht zu beunruhigen, es wird keine schwere Krankheit sein. Vielleicht ist er bloß schulkrank.«
»Wieso?«
»Man erzählt sich, er sei unbändig stolz darauf, daß er alles, was er im Leben erreicht hat, nicht sich selbst verdankt, sondern einer langen Reihe von Ahnen. Darum soll er es gewissermaßen unter seiner Würde halten, mit der Familie seiner Braut Umgang zu pflegen.«
»Und hältst du so etwas für möglich?«
»Es wird erlogen sein wie alles, was man sich so erzählt. Ich schätze, daß nicht sein Adelsstolz, sondern sein Geschmack ihn davon abhält, diesem Feste durch sein Erscheinen die volle Weihe zu geben. Er denkt sich offenbar: Ich will doch nicht den alten Pinkenfeld oder die dicke Frau Sidonie heiraten, sondern bloß die kleine Natti. Was gehn mich also diese Leute an?«
»Es käme auf dasselbe hinaus,« meinte Doll, »und bliebe immer das gleiche Rätsel. Warum hätte der Baron sich seine Braut gerade aus einem Hause gewählt, dessen Schwelle zu überschreiten er aus irgendeinem Grunde Bedenken trüge?«
»O heilige Unschuld! Was wird denn einen Freiherrn von Gall-Rastenburg-Grahovo dazu bestimmen, sich mit der Familie Pinkenfeld zu verschwägern?«
»Gut, nehmen wir an, das Geld. Aber was soll die Pinkenfelds bestimmt haben, die Hand ihrer Tochter einem Bewerber zuzusagen, der die Familie seiner Braut als Luft behandelt?«
»Vielleicht auch das Geld.«
»Wenn beide Teile reich sind, so würde die Erklärung nur noch schwieriger.«
»Ich meine nicht das Geld, das sie haben, sondern das Geld, das sie haben möchten.«
»So wären sie beide betrogene Betrüger?«
»Im Gegenteil! Vielleicht können sie einander gegenseitig gut brauchen. Die Verbindung mit dem Freiherrn erhöht das Ansehen des Hauses Pinkenfeld, und die Verbindung mit dem Hause Pinkenfeld erhöht den Kredit des Freiherrn. Es ist ein geradezu ideales Verhältnis. Der Blinde stützt den Lahmen und der Lahme weist dem Blinden den Weg. Das Betriebskapital braucht nicht groß zu sein, wo zwei einander so trefflich ergänzen. Es gibt Wasserkünste, die sich durch ein einziges Schaff Wasser in Gang halten lassen. Dadurch, daß das Wasser oben herausspritzt, füllt sich unten immer wieder das Becken. Und dadurch, daß sich unten das Becken füllt, kann das Wasser immer wieder oben herausspritzen. Es kommt nur darauf an, daß die Leute den Zauber nicht merken, so meinen sie wunder, was für eine Menge Wasser da vorhanden sein müsse.«
Sie waren an dasselbe offenstehende Fenster getreten, an dem Doll vorhin mit der schlanken Bethy Leodolter gestanden hatte. Herrnfeld fuhr fort, die Raketen seines Witzes steigen zu lassen. Er war wieder einmal so recht im Zuge, es machte ihm Vergnügen, den Menschen gleichsam ihre Eingeweide aus dem Leibe zu nehmen, sie von allen Seiten zu begucken und mit der Lauge seines Spottes zu übergießen. Eigentlich war es amüsant, ihm zuzuhören, Doll aber konnte nicht lachen, die bittere Weisheit, die der Freund auskramte, tat ihm weh. Sein übervolles Herz sehnte sich hinweg von dieser Stätte des leeren Scheins, wo die Menschen mit Masken vor den Gesichtern umhergingen, wenn man Ludgern glauben durfte. Er befand sich noch in jenem glücklichen Zustand jugendlicher Unerfahrenheit, wo man alle Menschen lieben, ihnen nur Gutes und Edles zutrauen möchte. Und während er in tiefen Atemzügen die wonnige Nachtluft einsog, dachte er an die blonde Bethy, wie sie sich zum Fenster hinausgebeugt hatte, gleichsam wie erlöst von dem hohlen Treiben dieses Abends: »Es duftet nach Land und nach Freiheit!« ...
Es berührte ihn jemand an der Schulter, er hatte die Schritte nicht beachtet, die sich näherten. Als er sich umwendete, stand Mara Nehuda vor ihm, am Arm seines Bruders Moini. Er hatte das jetzt voll erblühte Mädchen seit jener Nacht auf der Festwiese in Nedweditz nicht wiedergesehen und meinte sich getäuscht zu haben, als er vorhin für einen Augenblick unter den im Tanze hinwirbelnden Paaren einer Gestalt ansichtig geworden war, die ihn flüchtig an sie erinnerte.
»Meine Dame beklagt sich über dich,« sagte Moini, »daß du sie absichtlich übersiehst!«
Es war nicht möglich, seine Worte für scherzhaft zu nehmen, ihr Ton klang streng und beinahe herausfordernd.
»Entschuldigen Sie,« sagte Doll, sich an Mara Nehuda wendend; »ich wußte nicht, daß Sie hier wären. Aber auch wenn ich es gewußt hätte – ich glaube, ich hätte dennoch Bedenken getragen, mich Ihnen zu nähern.«
»Wie er unhöflich sein kann!« rief sie mit ehrlichem Staunen. »Weißt du, daß das sehr häßlich von dir ist, Doll? Du hast ein kurzes Gedächtnis, scheint's! Du erinnerst dich wohl gar nicht mehr daran, daß wir einst gute Freunde waren? Hast du vergessen, wie wir Uckeley miteinander angelten, als Kinder? Und wie wir damals auf der Festwiese in Nedweditz einen ganzen Nachmittag und Abend wie Liebesleute Arm in Arm herumspazierten?«
»Ich habe es nicht vergessen. Und ich habe auch nicht vergessen, was du zu mir sagtest, als wir vor eurem Hause voneinander Abschied nahmen.«
»Und was sagte ich?«
»Jetzt brauchst du mich nicht mehr zu begleiten, sagtest du, und ich brauche nicht mehr deutsch zu sprechen.«
»Das kränkt ihn noch heute, den Teutonen!« spottete sie. »Kommen Sie, Moini, es ist überhaupt nichts mit ihm zu reden!«
Bereits im Begriffe, Moini mit sich fortzuziehen, wendete sie sich heftig noch einmal gegen Doll herum. Ihre schwarzen Augen sprühten Zorn.
»So seid ihr alle, ihr Deutschen! Geht zu euren preußischen Brüdern, wenn euch unsere Sprache ein Dorn im Auge ist!«
»Wir bleiben, wo wir zu Hause sind,« sagte Doll. »Es fällt uns nicht ein, den Tschechen Platz zu machen!«
»Du wirst meiner Dame Abbitte leisten!« herrschte Moini den jüngeren Bruder an.
»Das werde ich nicht! Da es ihr ein Opfer kostet, in einer Sprache mit mir zu sprechen, die ich verstehe, so muß ich darauf verzichten, mich mit ihr zu unterhalten.«
»Beruhigen Sie sich, meine Herrschaften,« legte Herrnfeld sich lachend ins Mittel. »Wir sind hier, um uns zu amüsieren, und befinden uns nicht im Schmerlingtheater!«Das provisorische Parlamentsgebäude am Schottenring.
Aber die jungen Leute waren zu sehr erregt, als daß eine Verständigung möglich gewesen wäre. Sie gingen schroff auseinander, während Moini zwischen den Zähnen hervorstieß: »Wir sprechen uns noch!«
Verstimmt durch die unliebsame Begegnung zog Doll sich in einen der entlegenen Räume zurück, wo ältere und jüngere Herren rauchend und plaudernd beisammensaßen. Er traf einen ehemaligen Schulfreund, den er früher in der Menge übersehen hatte. Die beiden jungen Leute unterhielten sich über ihre Zukunft, über ihre Lebenspläne, und Doll erfuhr, daß Karl Schuda, der ein Deutschböhme war, sich mit der Absicht trug, nach Vollendung seiner Studien den Staub der Heimat von den Füßen zu schütteln.
»Ich will es versuchen, mir in Peru eine Existenz zu gründen. Man legt es in Österreich immer mehr darauf an, uns Deutsche hinauszuekeln. Wir sind zu schwach, wir werden erdrückt, wir werden aufgefressen. Ich kann es nicht aufhalten. Soll ich ein Vierteldutzend unmögliche Sprachen lernen, nur um mir notdürftig fortzuhelfen? Ich sage: Ubi bene, ibi patria! Ich will, daß meine Nachkommen, wenn ich einmal welche haben sollte, Deutsche bleiben!«
»Und wird das in Peru der Fall sein?« fragte Doll.
»Ganze Länderstrecken an der amerikanischen Westküste sind deutsch!« sagte Schuda. »Niemand macht ihnen ihre Schulen, ihre Sitten streitig. An der Universität von Santiago de Chile gibt es eine Verbindung deutscher Studenten, niemand bedroht sie, wenn sie ihre Farben tragen. Da drüben ist noch viel Platz für Deutsche. Man braucht fleißige Hände und kluge Köpfe. Die träge spanisch-kreolische Bevölkerung bezwingt diese Gebiete nicht, die eine Ausdehnung haben wie von Lissabon bis zum Nordkap. Sollen wir ohnmächtig hier zusehen, wie die Feinde unseres Volkes uns ein Stück Land nach dem andern entreißen? Sollen wir uns unser Leben lang um ein paar verlauste Weingärten und steinige Kartoffeläcker balgen, wenn wir drüben nur einen Brunnen zu graben brauchen, um jungfräuliche Plantagen zu besitzen?«
Leo Pinkenfeld war herangetreten und hatte sich zu ihnen gesellt. Er hörte zu. Wie er so still dasaß und lauschte, mit seinem blassen, feingeschnittenen Gesicht, glich er einem jener anmutigen Jünglinge, die auf den griechischen Grabstelen traurig ihr Haupt neigen.
»Ich fürchte,« sagte er in seiner etwas müden Art, »daß Ihre Plantagen in der Nähe besehen sich als Phantome erweisen könnten.«
»Und dennoch will er die Heimatscholle darum hingeben!« rief Doll erregt.
Karl Schuda lachte.
»Ich habe eigentlich mehr bildlich gesprochen. Vorderhand besitze ich weder hier noch drüben einen Quadratschuh Erde.«
»Ich habe auch bloß bildlich gesprochen,« sagte Doll. »Mit jeder Art von Arbeit, die du hier leistest, hilfst du die Heimat halten.«
»Besitzen wir überhaupt eine Heimat, wir in den großen Städten?« sagte Leo Pinkenfeld. »Ich muß gestehen, mir ist oft zumute, als fehlte meinem Dasein der Boden, in dem es wurzelt. Als könnte jeder Windhauch mich fortwehen. Warum bin ich da? Warum bin ich dort? Überall bleibt es schließlich das nämliche. Mit jedem Bauer möchte ich tauschen, der nichts kennt als seine Scholle, denn er – hat eine Heimat.«
»Seien wir doch froh, daß wir freizügig sind!« sagte Schuda. »Das ist ja gerade mein Vorzug als intelligenter Mensch, daß ich meine Heimat überall aufschlagen kann. Immer der Bauer und der Bauer auf seiner Scholle! Gibt es nicht unzählige andere Berufe, die ebenso achtenswert und unentbehrlich sind? Sie sind nun einmal der Sohn der Firma Pinkenfeld. Seien Sie es treu, gewissenhaft, mit Hingebung und gutem Erfolg – was neiden Sie dem Bauer seine Scholle? Ihre Heimat ist weiter als die seine, warum sehnen Sie sich nach seiner Enge?«
»Wem es überall gleich gut gefällt, der ist nirgends recht zu Hause,« fagte Leo. »Warum hat das Wort Heimat einen so holden Klang? Weil es über dem Verstande steht. Weil es eine Liebe ausspricht, die nicht aus Gründen liebt, und die man töricht nennen müßte, wäre sie nicht höchste Weisheit. Wir Hinausgestoßenen, wir Freizügigen sind dieser Liebe nicht mehr fähig, die in der Beschränkung wurzelt wie jede Liebe. Ich für meine Person bedaure es. Ich sehe darin den Grund des Unfriedens und der Ruhelosigkeit, die mich nicht froh werden lassen.«
»Sie sind satt, ganz einfach,« sagte Schuda schroff. »Ihr Fall ist nicht der meine. Ich will eine Heimat, aber ich will sie da, wo ich Aussicht habe, meine Arbeit vorteilhaft zu verkaufen. Ich denke dabei nicht nur an einen vollen Säckel, ich denke auch an ein Vaterland für mich und meine Nachkommen. Ein Vaterland, das ich lieben kann, weil es ein Hort alles dessen ist, woran mein Herz hängt. Wo man mir meine Muttersprache nehmen will, da kann mein Vaterland nicht sein!«
»Wo nimmt man Ihnen ihre Muttersprache?« fragte Leo.
»In Böhmen!«
»Er meint es abermals bloß bildlich,« sagte Doll lachend.
»Gewiß, Taubenblut! Soll ich warten, bis ich in meiner Sprache kein Recht mehr finden kann? Ist es nicht genug, wenn ich sehe, wie in Gegenden, die noch vor einem halben Menschenalter deutsches Bundesgebiet waren, deutschen Kindern die deutsche Schule fehlt? Ist es nicht genug, wenn man mit dem Steuerertrag unseres uralten deutschen Fleißes die Feinde des deutschen Volkes großzüchtet? Hat man mir und unzähligen noch Ungeborenen nicht bereits eine ganze Menge Möglichkeiten genommen, als Deutsche in diesem Lande zu bestehen? Und fährt nicht eine Regierung nach der andern, sie mag sich nennen wie sie will, zielbewußt auf dem eingeschlagenen Wege fort? Soll das alles noch nicht genug sein?«
»Es ist mehr als genug, um uns hier festzuhalten!« rief Doll. »Gerade weil unser Volk in Bedrängnis ist, können wir es nicht im Stiche lassen!«
Seine Wangen glühten, er hatte mit Erregung gesprochen, jetzt hielt er inne; ein stiernackiger Mann, ein bekannter Parlamentarier, der in der Nähe saß, hatte sich nach ihm herumgewendet und hob seinen Bierkrug: »Blume!«
»Danke!« sagte Doll.
»Alldeutschland lebe hoch!« sagte der Stiernackige. »Prosit!«
Doll schwieg und sah vor sich hin. Der andere leerte seinen Krug bis auf die Nagelprobe und fuhr fort: »Ihr seid unser Nachwuchs, ihr Jungen, unsere Partei zählt auf die neue Generation! Deutschnational sei die Losung und sonst nichts! Wie ein großer Brand muß der alldeutsche Geist aufflammen in unseren Gauen! Dann wird auch der erzgepanzerte deutsche Michel draußen im Reich Lauheit und Opportunität abschütteln und sich an die Bedrängnis seiner Brüder hinter den schwarzgelben Grenzpfählen erinnern. Wir stehen nicht allein, das ganze deutsche Edelvolk steht hinter uns, und vielleicht ist der Augenblick nicht fern, wo es sein Schwert aus der Scheide reißt, um unsre Feinde zu zerschmettern!«
»Mit unsern Feinden werden wir schon allein fertig werden!« antwortete eine Stimme. Der alte Marr, die kleine Exzellenz, war plötzlich an Dolls Seite aufgetaucht und stand zürnend wie ein ordengeschmückter Erzengel in Frack und weißer Halsbinde neben ihm. Über Dolls Kopf hinweg kreuzten die beiden Männer ihre Klingen. Der eine wuchtig und geradezu, als ob er einen Flamberg führte, der andre gewandt und scharf wie ein lebhafter Rapierfechter. Es war, als kämpften sie um die Seele dieses Jünglings, die ein jeder dem Feinde streitig zu machen suchte, um sie seinen eigenen Idealen zu erobern.
»Wollen Sie um fremde Hilfe betteln?« rief aufgebracht die kleine Exzellenz. »Sollen wir von auswärts Rettung erwarten und uns von den Preußen unser Haus bestellen lassen? Begreifen Sie nicht, daß unsre Geschichte, unsre Fürstentreue, unser Mannesstolz uns daran hindern muß? Blättern Sie in den Annalen der Nationen! Ein Volksstamm, der sich nicht selbst hilft durch die Kraft seiner Arbeit, der ist dem Untergang geweiht und verdient auch nichts besseres!«
»Das ist es ja, was ich sage!« schrie der andere. »Völkische Arbeit müssen wir leisten! Aufrütteln müssen wir unser Volk, es zum politischen Denken, zu rücksichtslosem Nationalbewußtsein erziehen!«
»Zur Tüchtigkeit müssen wir es erziehen, nicht zum politischen Kannegießern!« beharrte der alte Marr. »Sehen Sie sich die Völker der südlichen Halbinseln an, die es weder zu Wohlstand noch zu Macht bringen, weil sie sich in großsprecherischer Untätigkeit aufzehren! Wir sind nun einmal eine Minderheit in unserem Staate, die kein Wunder in eine Mehrheit verwandeln wird. Was wollen Sie mit Gewalt, was wollen Sie mit Lärmschlagen? Was helfen uns Wotan und Tor? Unser Fleiß, unsere Regsamkeit, unsre Tatkraft sind die Waffen, die uns niemand entwinden kann. Die Fruchtbarkeit unserer Gedanken, die Blüte unsres Gemüts, die Geschicklichkeit unserer Hände macht uns stark. Nur wirkliche Leistungen haben Dauer vor der Geschichte, und auch die unsrigen werden unverwelklich sein, wenn sie echt sind. Der Wille zur Macht ist es nicht, der zu ihr verhilft; aber wer das Gute mit Kraft und Beharrlichkeit anstrebt, dem fällt sie wie von selbst in den Schoß!«
Sie gerieten in Hitze und rückten sich hart an den Leib. Gesinnung stand gegen Gesinnung, Temperament gegen Temperament. Niemand hätte dem kleinen alten Herrn ein solches Feuer zugetraut. Der Stiernackige vertauschte den Flamberg mit der Keule, aber die Hiebe gingen daneben, er verschanzte sich hinter parteipolitischen Zeitungsphrasen, aber der alte Marr warf die Brandraketen seines Witzes in den papierenen Wall.
Schließlich ließ die kleine Exzellenz dem wuchtigen Tribünenmanne das letzte Wort, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sagte lächelnd zu den jungen Leuten: »Mir scheint gar, ich habe mich ereifert. Verzeihen Sie, meine jungen Herrn, und nehmen Sie sich aus meinen Worten, was Sie brauchen können. Ich bin alt, Sie aber werden der Gegenwart noch über die Achsel lugen und einen Blick in die Zukunft tun. Wie wird sie sich gestalten? Niemand kann es wissen. Vorderhand können wir nur hoffen, daß unser aller Sorgen und Mühen nicht vergeblich sein möge. Denn soweit unsere Ansichten auseinandergehen, es trägt doch ein jeder von uns denselben heißen Wunsch im Herzen: das Gedeihen des Volkes, dessen Sohn er ist. So hoffen wir wenigstens. Und auch denen, die nicht unsere Sprache sprechen, wollen wir den gleichen Wunsch nicht verübeln. Nur sollten sie freilich nicht mit vergifteten Waffen fechten!«
Er sah nach der Uhr und machte eine scherzhaft übertriebene Gebärde des Schreckens.
»Nun wollte ich doch nicht länger als ein Stündchen ausharren,« sagte er zu Doll. »Sie waren Zeuge meiner guten Vorsätze, und doch ist es reichlich spät geworden. Was läßt sich tun? Schließlich hat es auch einen gewissen Reiz, sich manchmal zu vergessen. Es ist verführerisch zu verweilen, wo so viel Jugend versammelt ist ...«
Er grüßte freundlich nach allen Seiten und entfernte sich. Doll wäre ihm am liebsten nachgeeilt, um ihn zu begleiten, er fühlte eine unbegrenzte Zuneigung und Verehrung für den geistesfrischen, warmherzigen Greis. Aber die Furcht, aufdringlich zu erscheinen, bannte ihn fest. So verweilte er noch eine kleine Weile und kehrte dann in den Tanzsaal zurück.
Der große, prächtige Raum begann eben sich wieder zu füllen, von allen Seiten strömten die Paare herein. Das Stimmen der Musikinstrumente mischte sich mit dem wirren Durcheinander eines hundertfältigen Geplauders, als plötzlich in der Nähe des Eingangs ein roher Lärm entstand, wie wenn Kutscher miteinander in Streit geraten wären. Entsetzt wichen die Gäste auseinander, ein unscheinbar gekleideter fremder Mann war eingedrungen und balgte sich mit ein paar Lakaien, die ihn zurückzuhalten suchten. Er wehrte sich wie ein Löwe und erfüllte die Luft mit seinem Geschrei: »Ich will ihn sprechen, ich muß ihn sprechen, ich lasse mich nicht abweisen!«
Ein Tobsüchtiger, hieß es, ein Wahnsinniger, der zu Pinkenfeld vordringen wolle. Man rief nach dem Hausherrn, man suchte ihn. Bleich und verstört kam endlich Herr von Pinkenfeld herbeigestürzt, durch die Gasse, die sich vor ihm öffnete, sah man die von panischem Schrecken ergriffenen Schöße seines Frackes wehen.
Den Dienern war es inzwischen gelungen, den unliebsamen Eindringling zu überwältigen. In dem Augenblicke, wo sie ihn zur Tür hinausdrehten, erblickte Doll flüchtig die Umrisse seiner Gestalt und erschrak heftig. Täuschte er sich, oder war es wirklich Herr Fanedl, der Buchhalter des Hauses Mairold, der diese peinliche Szene verursacht hatte? Herr Fanedl, der sonst gutmütig und schüchtern war wie ein Kalb, Herr Fanedl sollte solcher Ausschreitungen fähig sein? Dann mußte er in der Tat einen Tobsuchtsanfall erlitten haben!
»Musik!« rief Frau Sidonie, nervös in die Hände klatschend.
Da brauste die entfesselte Sturmflut der Töne durch den Saal und jagte die Geister des Schreckens zum Tempel hinaus. Doll aber schob sich durch das Gedränge gegen den Eingang, trat hinaus und beugte sich über das Geländer der Vorhalle. Unter sich, auf dem Treppenabsatz des Halbstocks, konnte er gerade noch Herrn von Pinkenfeld erblicken, wie er den fremden Mann mit ausgesuchter Höflichkeit in sein Piivatkontor hineinkomplimentierte und die Tür hinter sich ins Schloß zog. Der fremde Mann aber, obgleich er wild und verlottert aussah wie ein Stromer, war wirklich niemand anderer als Herr Fanedl.
Was ging hier vor? Welche Geheimnisse verbargen sich hinter jener geschlossenen Tür?
Beunruhigt und verstimmt kehrte Doll in den Saal zurück, aber nur, um sich von den Damen des Hauses zu beurlauben und ihnen für den Abend zu danken. Es duldete ihn nicht länger in diesen Räumen, er konnte das Gefühl, als ob etwas Unheimliches hier vorginge, nicht los werden.
Es wurde eben der Kotillon getanzt. Bethy Leodolter, die nicht ahnte, daß er im Begriffe stand, sich zu verabschieden, eilte auf ihn zu und heftete ihm einen Orden an die Brust. Als er darauf niederblickte, bemerkte er, daß er das Sträußchen Tuberosen verloren hatte, das früher an dieser Stelle befestigt war. Aber es war ihm gleichgültig. Er legte den Arm um Bethys Mitte und wirbelte mit ihr durch den Saal. Da überkam ihn alle Seligkeit der Jugend und berauschte ihn. Dieses vornehme, schlanke Geschöpf in den Armen zu halten! Ihren Atem an seiner Wange zu fühlen! Den Duft ihres Haares zu atmen, das goldig strahlte wie zarte Rohseide, und dessen widerspenstiges Gekräusel einen ganzen Heiligenschein um das liebliche Rund des Hauptes zauberte! Mit diesem Eindruck wollte er den Abend beschließen ...
Als er die teppichbelegte Treppe hinunterstieg, trug er nur einen einzigen Orden auf der Brust, aber der war ihm teurer, als wenn es der Medidje in Brillanten gewesen wäre.
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