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Denselben Tag sollte Frau Therese noch eine Freude erleben und Nüsse zu knacken bekommen. Es erschien nämlich ganz unerwartet der Lois Birenz, der beides in seiner Tasche hatte, die Freude und die Nüsse.
Er war ein stämmiger junger Mann geworden, fast mehr breit als hoch.
»Sieht man dich wieder?« sagte Frau Therese ernst.
»Ich will mich bloß erkundigen, ob Sie auch Verluste erlitten haben?«
Sie brauste auf.
»Was geht dich das an?«
Da griff er in seinen Busen und reichte ihr die Freude.
»Ich hab' so eine Angst um Sie! Seien Sie nicht hart zu mir! Es ist nicht wahr, daß ich undankbar bin. Der Haarhammer hat mir verraten, daß Sie es glauben, und es muß ja vielleicht so aussehen. Aber wahr ist es doch nicht, das schwör' ich Ihnen! O, Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin! Ich hätte mich auch gern erkenntlich gezeigt. Ich habe Ersparnisse. Zweihundertfünfundzwanzig Gulden. Nicht viel, aber doch etwas. Wenn Sie es brauchen könnten? Es heißt, daß fast niemand ist, der nicht sein ganzes Gerstel verloren hat. Am Ende stecken auch Sie in der Schlamastik?«
»Woher hast du denn ein so großes Vermögen?« fragte sie schon wieder begütigt und mußte lächeln.
Lektioniert hatte er halt fleißig. Neuestens war er im Reichsrat als Stenograph angestellt. Das trug schön. Und seine Rechtsstudien konnte er ganz leicht nebenher erledigen, wenn es auch ein bißchen länger damit hergehen sollte als bei anderen, die nichts weiter zu tun hatten als zu studieren.
»Ich bin jetzt gut daran,« sagte er überzeugt. »Es geht mir nichts ab. Das Geld ist für die Rigorosen zurückgelegt. Aber eigentlich gehört es gar nicht mir, ich bin es Ihnen schuldig. Nehmen Sie es! Da ist es.«
Er legte es auf den Tisch, in Zeitungspapier gewickelt.
»Steck' es nur wieder ein,« sagte Frau Therese freundlich. »Merk' dir, daß man das nicht tut, so wie aus der Kanone geschossen jemandem Geld anbieten. Aber deine Absicht ist gut, ich weiß es, und ich danke dir. Du hast mir jetzt mehr geschenkt als zweihundertfünfundzwanzig Gulden. Du hast mir gezeigt, daß du kein Undankbarer bist, denn sein sauer Erspartes legt ein Undankbarer nicht mir nichts, dir nichts auf den Tisch. Schön war es aber deswegen doch nicht, daß du damals davongeloffen bist. Und warum du es eigentlich getan hast, könntest du mir wenigstens jetzt nachträglich erklären.«
Da griff der Lois Birenz abermals in den Busen und zog eine Nuß hervor.
»Es hat nicht anders sein können, glauben Sie mir's! Wenn ich länger geblieben wäre, hätt' ich mir Vorwürfe machen müssen.«
Frau Therese dachte nach.
»Du willst wohl sagen, daß es unpassend gewesen wäre, von unserer Gastfreundschaft länger Gebrauch zu machen? Daß du schon zu tief in unserer Schuld standst, weil wir dir Kleidung, Kost und Wohnung gegeben hatten? Und daß dein Stolz dich deshalb zwang, uns das Almosen gewissermaßen vor die Füße zu werfen?«
Der Lois machte eine erschrocken abwehrende Bewegung.
»Es zeigt eine kleine Auffassung,« fuhr Frau Therese fort, »wenn du hauptsächlich an die materielle Unterstützung denkst, die ich dir gewähren konnte. Ist es nicht unendlich viel mehr als Geld und Geldeswert gewesen, was wir dir anboten? Hattest du nicht ein Heim und eine Familie? Versuchte ich es nicht, dir eine Mutter zu sein? Und bildest du dir ein, die Liebe, die wir dir entgegenbrachten, jemals abzahlen zu können, wenn nicht wieder durch Liebe und Anhänglichkeit an unser Haus?«
»Sie peitschen mich ja!« rief Lois Birenz außer sich. »Sie foltern mich! Wo soll ich anfangen, Ihnen zu erklären? Ich gehe! Ich ertrag' es nicht länger! Leben Sie wohl!«
Er war aufgesprungen und rannte nach der Tür.
»Also wieder davonlaufen?« sagte Frau Therese streng.
Da blieb er noch einmal stehen, griff ein drittesmal in seinen Busen und zog abermals eine Nuß hervor.
»Gerade das war mein Dank, das Davonlaufen! Wenn ich wiederkomme, so werden Sie es einsehen und mir abbitten!«
Damit war er hinaus.
Frau Therese, die zurückblieb, versuchte die Nüsse, die ihr in den Schoß gefallen waren, aufzuknacken, fand aber keinen Nußknacker. Da legte sie sie schließlich uneröffnet beiseite und begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln.
*
In diesen Tagen unternahm Ludger mit den Mairold-Kindern einen Ausflug in die Buchenwälder, deren Laub noch lind wie grüngoldene Seide war, daß sie gar nicht rauschen konnten, bloß erst lispeln.
Vielleicht wollten sie auch nicht rauschen, vielleicht waren sie zu traurig dazu und viel zu bange. Vielleicht fühlten sie sich entweiht wie die Hallen einer Kirche, in die das Grauen sich eingeschlichen hat. Und das hundertfältige Schlagen der Finken und Tirilieren der Meisen und all die goldne Sonnenflut, die das junge Laub der Buchenwälder durchtränkte, konnte sie nicht fröhlicher machen. Vielleicht war es darum, daß sie nur ängstlich flüsterten und sich schaudervolle Mären zuraunten von Baum zu Baum. Denn die Wälder in der Nähe einer großen Stadt haben ein hartes Los. Wohl sehen sie an Sonn- und Feiertagen die sehnsüchtigen Menschenkinder aus dem Glutkessel von Staub und Ruß da unten in ihre erquickenden Schatten fliehen und heimsen entzückten Dank ein für jeden Duft, für jedes Grün, für jeden reinen Lufthauch, den sie spenden. Aber sind sie dafür nicht auch wie ein Strand, dessen keusche Reinheit das brausende Meer da unten mißachtet, befleckt und entweiht, so oft es ihm beliebt? Spült nicht eine jede Woge, die daran emporleckt, welken Tang und faulenden Auswurf darüber hin? Und wenn Sturm die Fluten aufwühlt und das Werk der Menschen zertrümmert, dann wirft die donnernde See die Planken geborstener Schiffe aus und die Leichen der Schiffbrüchigen, mit denen sie selbst sich nicht besudeln will. Solch ein Strand, auf dem Gebeine modern, eine Schadelstätte der Verunglückten und Ausgeworfenen sind die Wälder in der Nähe einer großen Stadt ...
Christl und Moini waren nicht mitgekommen, für sie gab es keinen Frühling, die Abwicklungen, die ihnen anvertraut waren, nahmen ihre ganze Zeit in Anspruch. Auch Riki ist daheim geblieben, sie entlastet ihre Mutter im Häuslichen, damit diese mit Herrn Fanedl ungestört an einer genauen Zusammenstellung aller Forderungen und Verpflichtungen arbeiten kann. Denn in dieser Zeit, wo es wie ein Belagerungszustand über dem Geschäftsleben liegt, ist vollkommene Klarheit und Durchsichtigkeit der eigenen Verhältnisse jedem gewissenhaften Wirtschafter Bedürfnis.
Während die jüngeren Geschwister singend, lachend und scherzend durch den grünen Wald ziehen, folgt ihnen Doll an der Seite Herrnfelds, in ernste Gespräche mit dem Freunde vertieft.
»O wieviel hab' ich gesehen und erlebt in diesen letzten Tagen, Ludger! Mir ist, als wär' ich um Jahre älter und einsichtsvoller geworden. Ich glaube, es schwebte eine Gefahr über mir. Kann es nicht leicht geschehen, daß das Gefühl für Wahrhaftigkeit durch eine Umgebung voll falschen Scheines getrübt und abgestumpft wird? Der Erfolg hat verführerische Kraft, vielleicht war ich auf dem besten Wege, mich zu seinen Anbetern zu gesellen. Nun seh' ich plötzlich tiefer, wie Schuppen fällt es mir von den Augen. Und so groß das Unglück ist, das über diese Stadt kam, ich möchte jubeln, wenn ich jetzt erkenne, wie nicht etwa in einer idealen Welt, nein, hier, in dieser unerbittlichen Welt der Wirklichkeiten, das Vornehme sich stärker erweist als das Windige, das Stille stärker als das Laute, der Innenwert stärker als alles Gleißen! Ich kann nicht sagen, wie diese traurige Krise, so sehr ich sie für andere bedauere, meine eigene Zuversicht gehoben, meinen Lebensmut gestählt hat.«
Vor solch heißen Worten verschmäht Herrnfeld die Maskerade, hinter der er sonst gerne sein Herz versteckt.
»Laß dich umarmen, Doll! Du bist auf dem rechten Wege! Die falschen Götzen stürzen, und aus ihren Trümmern steigt die Kraft einer jungen Generation! Laß uns an die Zukunft glauben! Es gibt Leute, die nur immer von der guten alten Zeit reden, als ob die unsrige unheilbar versumpft und verrottet wäre. Und wenn sie krank ist, woran krankt sie am meisten? Gerade am Pessimismus derer, die mit rückwärts gewendetem Antlitz durchs Leben gehen. Es sind die Idealisten, denen es an Zuversicht und Glauben mangelt. Wir brauchen aber ein Gegengewicht gegen den Unglauben, und der Gescheiteste, der Beste, der Edelste hilft uns nichts, wenn er nicht den freudigen Willen und die Hoffnung auf Erfüllung in sich hat. Glaub' an den Sieg des Guten, Doll, glaub' an dich selbst! Glaub' an deine und deines Volkes Zukunft! Finde den Mut zu dir und deinem Willen! Sei wahr, sei ganz und fürchte dich nicht!«
Die goldlockige Käthi, die Blumen suchend vorausgeeilt ist, bleibt plötzlich stehen, der Strauß Maiglöckchen, den sie gepflückt hat, entfällt ihren Händen, sie wendet um und lauft wie von Entsetzen gejagt zurück. Weinend wirft sie sich an die Brust Vefis, die ihr folgt, es ist ihr, als ob sie das Schreckliche, das sie geschaut, nie wieder vergessen könnte. Sie flüstert, sie klagt, da fängt auch Vefi zu zittern und zu weinen an. Was sind das für fürchterliche Geheimnisse, die dieser Wald birgt? Neugierig stürmt Wolfi vor und Franzi, der Jüngste, abenteuerlustig hinter ihm drein. Aber auch die Knaben prallen zurück, bleich und verstört wenden sie sich ab und halten die Hände vor die Augen.
Da nähern sich endlich Ludger und Doll. Ein Blick in die grüne Wildnis, und auch sie erstarren vor Entsetzen ...
Mit ausgebreiteten Armen drängt Herrnfeld die Kinder zurück, in kurzen, dumpfen Worten weist er sie an, sich abzuwenden und in einiger Entfernung zu warten.
An allen Gliedern bebend, mit zusammengekrampftem Herzen hat Doll sich inzwischen dem leblosen Körper genähert, der mitten in diesem stillen Walde am starken Aste einer Buche hängt.
»Es ist zu spät,« sagt er, da Ludger zu ihm tritt.
»Es ist zu spät,« sagt auch Ludger, nachdem er sich eine Zeitlang um den Toten bemüht ...
Die Finken schlagen und die Meisen tirilieren, sonst ist es ganz still geworden, die Kinder singen und jubeln nicht mehr. Wartend aneinandergedrängt lauschen sie bange dem weiten Schweigen. Das grüngoldne seidenweiche Frühlingslaub des Waldes flüstert leise im Winde und raunt sich schaudervolle Märe zu, von Baum zu Baum. Die Wälder in der Nähe einer großen Stadt haben ein hartes Los. Die Freude und Erquickung, die sie Tausenden spenden, wird ihnen schlecht gelohnt. Sie sind wie ein Strand, dessen Reinheit die aufgewühlten Wogen mißachten, beflecken und entweihen, so oft es ihnen beliebt, ein Strand, auf den das brausende Meer da unten, wenn der Sturm darüber hinrast, die Leichen der Schiffbrüchigen ausspeit, die es seinem Zorne opfert...
Seit jenem Tage war Herr Franz Beywald nicht länger verschollen. Der Chef des alten Samt- und Plüschhauses in der Rittergasse, der der Überlieferung seiner Väter untreu geworden und unter die Spekulanten gegangen war, hatte wieder heimgefunden. Der Vater einer zahlreichen Familie herangewachsener Söhne und Töchter, die er zu geschmackvollen Genießern erzogen hatte, war in die Mitte der Seinen zurückgekehrt. Dort lag er jetzt im schwarzausgeschlagenen Salon seiner Wohnung zwischen hohen silbernen Leuchtern im verschlossenen Sarge, der unter Blumenkränzen fast verschwand. Es gab viele, die den Hingeschiedenen gerne noch einmal gesehen hätten, um von ihm Abschied zu nehmen; denn Herr Franz Beywald war ein milder, gutmütiger und redlicher Mann gewesen. Es gab viele, die ihm gerne noch einmal die Hand gedrückt hätten, um ihm für das Gute zu danken, das er ihnen erwiesen. Viele, die ihm gerne noch ein letztes Mal ins Auge geschaut hätten, das freundlich und wohlwollend auf den Mitmenschen zu ruhen pflegte. Und wie gerne hätten seine Kinder noch ein letztes Mal die Lippen geküßt, über die nie ein strenges oder hartes Wort gekommen war! Aber niemand durfte das Antlitz des Toten schauen. Der Sargdeckel blieb verschlossen. Weshalb? Barg er ein Geheimnis? Und was war es, das der Welt verborgen bleiben sollte?
O wie mancher brave Mann, dem niemand feind sein konnte, und auf dessen Lippen stets ein behagliches Lächeln schwebte, ist in jenen Tagen mit einer Grimasse aus dem Leben geschieden, die man der Welt zu verbergen allen Grund hatte!
Das Leben selbst aber braust weiter wie ein Gießbach, der polterndes Gerölle führt, schäumt, überschlägt sich, donnert ungestüm zu Tal, um in ein ruhigeres Bett zu münden. Gesegnet, wen seine Schicksale vertieft und gereinigt haben, daß er das Glück des Alltags wie lieblich lächelnde grüne Ufer an sich vorübergleiten fühlt, den leuchtenden Blick nach der fernen Unendlichkeit des Meeres gerichtet, aus der Wolke und Regen, alle Befruchtung und Erntehoffnung aufsteigt.
In jenen Tagen war es, daß sich in Christl Mairold die große Wandlung vollzog. Und er trat vor seine Mutter und bat sie, ihn von den Geschäften zu entlasten, sobald die ärgsten Schwierigkeiten beseitigt wären.
»Meine Ziele liegen nicht im praktischen Leben,« sagte er. »Alle meine Brüder sind hierin tüchtiger und werden mehr leisten als ich. Bald wirst du Moini die selbständige Führung der Geschäfte beruhigt überlassen können, und auch Wolfi, der heranwächst, ist ein echter Bornschbögel und wird ihm mit angeborenem Geschick dabei zur Seite stehen. Ich aber fühle, daß ich hier nicht recht auf meinem Platze bin.«
Frau Therese strich ihm zärtlich übers Haar und küßte ihn auf die Stirn.
»Du sagst mir nichts Neues, Christi. Zwar hast du alles, was dir aufgetragen war, redlich und sogar mit gutem Gelingen geführt; doch hatte ich stets den Eindruck, daß du nur mit deinem Pflichtgefühl, nicht mit dem Herzen bei der Sache warst. Das ist nicht das Wahre, und es soll dir gewiß kein Zwang angetan werden. Aber ein Arbeitsfeld muß der Mann haben, soll er nicht überzählig sein auf der Welt und sich selbst zur Last werden. Wie denkst du dir deine Zukunft? Und was willst du eigentlich leisten?«
Er wußte nicht gleich zu antworten. Seine Gedanken waren mehr auf das innere Leben gerichtet als auf das äußere. Es war ein religiöses Bedürfnis in ihm, das er nicht aussprechen konnte. In seinen Knabenjahren war er kirchlich gewesen, dann zog die Philosophie der Zeit ihn in ihren Bann. Aber sie enttäuschte ihn und ließ ihn unbefriedigt. Er war ein Suchender nach Erkenntnissen des Herzens, nach einer neuen Offenbarung.
»Du hast uns immer anzuleiten versucht, Mutter, die Welt nicht nur mit dem Verstande zu sehen, sondern auch mit dem Gemüt. Das gab mir viel Glück – der Natur gegenüber und viel Leid – den Menschen gegenüber. Denn diese gefallen sich darin, die Seele unter das Joch mechanischer Gesetze zu beugen und den Geist aus dieser Welt der Körper auszutreiben. Die beharrenden Elemente, wie der Adel oder der Bauernstand, werden hiedurch kaum berührt. Den Fortschreitenden aber, die hungrig nach Aufklärung sind und mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit schauen, wird die plötzliche Umwälzung gefährlich. So befindet der arbeitende Bürgerstand, dem wir angehören, sich in einer trostlosen Zerfahrenheit – das tut mir weh. Seine Ideale sind kalt und leblos, wenn man sie überhaupt noch Ideale nennen kann. Sein Weltbild, das vor achtundvierzig wenigstens noch Hoffnungen barg, ist in dieser Zeit der Erfüllung zu einem leeren Nichts zusammengesunken. Es fehlt ihm aller innerer Halt, und wenn nicht eine Verjüngung und Erfrischung eintritt, so muß er zugrunde gehn. Ich erinnere mich, wie du einmal sagtest, man müsse erkennen lernen, daß das Leben nicht bloß Genuß verheiße, sondern auch Liebe von uns fordere. Diese Liebe will ich den Menschen, will ich meinen Mitbürgern schenken, die mit verbundenen Augen im finstern tasten. Und ich erinnere mich auch, wie du einmal sagtest, die erste Vorbedingung des Glücks sei die, daß wir mehr ans Geben denken als ans Nehmen. Was kann ich meinen Mitmenschen Besseres geben als mein heißes Sehnen und Suchen nach Werten, die ihnen Stab und Stütze sein könnten?«
Frau Theresen waren solche Worte nicht klar und schlicht genug. Aber sie fühlte, daß der warmherzige junge Mensch Großes und Reines erstrebte, und das genügte ihr. Sie fühlte auch, daß er in sich selbst und für sich allein zu Klarheit und Sicherheit gelangen müsse, und daß sie ihm dabei wenig zu helfen vermöchte. Wie sie vor vielen Jahren in Nedweditz, als der kleine Wolfi beim Kriegsspielen sich verwundet glaubte, ihm sorglich ein Schnupftuch um die Stirn geschlungen und seinen Kummer dadurch gestillt hatte, so schlang sie jetzt ihre Arme um ihren erwachsenen Sohn und stärkte ihn, indem sie ihn mit ihrer Liebe umgab. Und wie das Geheimnis ihrer Erziehung, solange die Kinder klein waren, darin bestand, sie nicht fortwährend meistern zu wollen und auch der Zeit etwas zu überlassen, daß sie nach und nach von selbst gescheiter würden und ihre kleinen Irrtümer und Torheiten überwänden, so hielt sie es auch jetzt für angezeigt, schonend abzuwarten und behutsam reifen zu lassen, was reifen sollte. Denn das Mutterherz ist groß und frei von Ungeduld. Glaubend, liebend, hoffend weiß es die Zuversicht zu hegen und zu pflegen, die schon die Hälfte des künftigen Gelingens ist, und die der Mann mit seiner kritischen Schärfe so leicht verätzt, ohne doch Gleichwertiges an ihre Stelle setzen zu können.
»Wenn ich dich recht verstehe,« sagte sie ernst, »so willst du ein Tröster der Menschen werden und ein Führer auf die Höhen des Daseins. Ich will dich nicht daran hindern, mein Kind, und wenn du dich wahrhaft berufen fühlst, so tue, wozu der Geist dich treibt.«
Daß die Zuversicht der Mutter sie nicht getäuscht hatte, sollten die kommenden Jahre dartun. Es zeigte sich, daß Christl schon weit in die Studien eingedrungen war, er fand an mehreren Hochschulen fördernde Lehrer, und wenn auch sein faustischer Drang sich mäßigte und sich mehr und mehr zu beschränken gezwungen war, so blieb er doch im ganzen seiner Aufgabe treu, die Wege zu erforschen, die durch das Waldgestrüpp des Lebens zur lichten Höhe führen.
So hatte der Tanz um das goldene Kalb einen Propheten geboren, der seinen Blick zu den Sternen hob. Und daß seine Füße dennoch auf der Erde standen, bewies die erfreuliche Tatfache, daß er schließlich als junger Gelehrter an eine Hochschule berufen wurde, um der Jugend neue Ziele zu weisen. Aber das geschah freilich erst spät, als schon die ersten Silberfäden sich an Frau Therese Mairolds Schläfen zeigten und von Christls jüngeren Brüdern mehrere bereits im tätigen Leben standen. Denn die Früchte der Erkenntnis reifen langsamer als die nährenden Gemüse für den Magen, und wer es auf sich nimmt, in der Welt der Gedanken zu leben, der findet so reichen Lohn in sich selbst, daß die lieben Menschen meinen, es käme kaum darauf an, ob sie mit dem dürftigen, den sie ihm bieten können, ein bißchen länger zögern oder nicht.
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