Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Eine freudige Spannung, eine erhöhte Geschäftigkeit hatte sich seit Wochen im Mairoldschen Hause in der Luftschützgasse fühlbar gemacht. Herr Baudrillard war aus Nedweditz eingetroffen, die ungeheuren Kisten, die er vorausgesandt hatte, wurden in Gegenwart Frau Theresens, ihrer Kinder und des alten Herrn Bornschbögel geöffnet und ausgepackt. Es kamen wahre Wunderwerke der Webekunst zum Vorschein, Prachtstücke an Glanz, Farbe und Griffigkeit. Herr Baudrillard nahm ein jedes Stück behutsam, wie man ein neugeborenes Kind anfaßt, aus dem Behältnis, schlug das Steckkissen aus braunem Kartenpapier, in das es eingehüllt war, auseinander und ließ einen ganzen Wasserfall brausender Seide aus dem rasch um und um gedrehten Zeugwickel stürzen.

»Sehen Sie diesen Grosgrains an, Herr Bornschbögel, greifen Sie nur einmal, bitte, das fühlt sich – was? Da liegt etwas drin! Und erst der weiche Surah hier, wie das schmeichelt! Ein Hermelin ist eine Kratzbürste dagegen!«

»Der Faille, der Faille,« sagte der Großvater, – »das ist mein Liebling und immer mein Stolz gewesen. So einen Faille wie ich hat keiner gemacht. No, jetzt können's schon viele – aber in dem da, Herr Baudrillard, steckt noch was von der Familie, der Faille ist ein – sagen wir ein Großneffe von meinem Faille, er kann sich sehen lassen, ich mache Ihnen mein Kompliment!«

»Lyoner Technik,« bockte Baudrillard.

»Ah, was nicht gar! Lyoner Technik! Seit hundert Jahren machen wir in Wien einen solchen Faille!«

»Die Farben sind entzückend,« lenkte Frau Therese ab; »sie wetteifern mit deinen Hyazinthen, Vater. Es ist staunenswert, was für Fortschritte die Färberei macht. Wenn einer von den Buben Lust hätte, Färber zu werden – das fänd' ich gar nicht ohne.«

»Geh', hör mir auf! Sein Lebtag mit blauen Händen herumlaufen!«

»Ich nicht!« sagte Doll.

»Ich auch nicht!« riefen Wolfi und Franzi wie aus einem Munde.

Christl und Moini, als Kronprinzen der Firma, die unter Herrn Fanedls Leitung bereits in die Geheimnisse der Buchhaltung eingeführt wurden, hielten es für überflüssig, ein so unwürdiges Ansinnen auf sich zu beziehen.

Ludger Herrnfeld hatte sich eingefunden und half bewundern. Bei dieser Vorschau für die Weltausstellung ließen die Glanzleistungen der Firma Mairold sich bequemer betrachten, als wenn sie sich bereits im Südtransept der Rotunde hinter den Schaufenstern befunden hätten.

»Schwarzer Faille!« kündigte Baudrillard an und ließ ein ganzes Meer von Nacht über den ausgebreiteten Farbenfrühling fluten.

Der Großvater war hingerissen.

»Kruzichineser, noch einmal, vor dem Färber muß man freilich den Hut abnehmen! Wer ist es denn?«

Baudrillard nannte eine französische Firma.

»Wird denn Schwarz noch alleweil in Lyon gefärbt?«

»Was soll man machen, wenn sie's bei uns nicht herausbringen?«

»Ich sag's ja, Patzer sind sie, unsere Färber!«

»Gerade deswegen,« meinte Frau Therese: »wenn einer von den Buben ...«

»Damit er auch so ein Patzer wird!« brauste der Großvater auf. »Überhaupt – ist das eine Tätigkeit: den ganzen Tag in der Sauce herumpritscheln?«

»Es muß halt doch einer sein, der's macht,« sagte Frau Therese lachend.

»Ich nicht! Ich nicht!« riefen Doll, Wolfi und Franzi.

»Recht haben sie!« entschied der Großvater, der nun einmal den Färbern nicht hold war. »Rauchfangkehrer muß es auch geben, deswegen werde ich doch keinen von den Buben Rauchfangkehrer werden lassen!«

»Es gibt eine Menge solcher notwendiger Übel,« sagte Herrnfeld belustigt: »den Webstuhlmechaniker, den Seidenhändler, den Garnhändler, den Färber, den Appreteur...«

»Und der Färber,« sagte der Großvater eifrig, ohne den Spott zu merken, »der ist das schlimmste von allen notwendigen Übeln. Einem Färber trau' ich nicht über den Weg, da kann man nachwägen so genau, als man mag, dem Färber seine Gewichte haben doch alleweil ein anderes G'wicht.«

Baudrillard lachte. Er kannte die Geringschätzung der Fabriksherrn für die Hilfsgewerbe, ohne die sie doch nicht hätten bestehen können, und sagte: »Wer ein solches Schwarz färben kann, der ist kein Patzer, Herr Bornschbögel. Aber in dem Punkt sind sie in Frankreich halt wirklich voraus.«

»Ist ihnen vergunnt. In vielen andern Punkten humpeln sie eh' hinten nach.«

»Ich bitte, eine Nation, die spielend fünf Milliarden zahlt.«

»No ja, die Milliarden, die Milliarden! So viel haaren die Nichtstuer, die sich unterhalten wollen, in einem Jahr allein in Paris. Aber wie schaut es zum Beispiel mit den Schulen aus? Da hab' ich erst neulich im ›Allerlei‹ vom Fremdenblattl« – er sprach das ›Allerlei› mit einem sehr hellen und reinen A, weil er Respekt vor allem Gedruckten hatte – »da hab' ich erst neulich wahre Schaudergeschichten über das Schulwesen in Frankreich gelesen, daß mir die Grausbirnen aufgestiegen sind.«

»Das ist noch ein Andenken, Herr Bornschbögel. Ein Andenken an den Napoleon, diesen ... diesen ... geschminkten Charlatan!« ...

Er war puterrot geworden. Der nationale Gram stieg ihm in die Kehle.

»Das ist ein Andenken an die elende Pfaffenwirtschaft, an das Unterrockregime der Spanierin. Aber haben Sie nur Geduld, der Jules Simon ist an der Arbeit, und wir Franzosen, wissen Sie, wir Franzosen ...«

»No, no, no!« machte der Großvater gutmütig. »Ich sag' nichts gegen die Franzosen.«

»Sind Sie überhaupt noch einer?« fragte Herrnfeld. »Ich wette, wenn's drauf ankäme, so könnten Sie nicht einmal mehr ohne Germanismen französisch parlieren.«

»Was man einmal gewesen ist, das bleibt man auch. Und wenn die Nation ins Unglück kommt, das geht einem jeden nahe.«

»Nehmt euch ein Beispiel!« sagte Herrnfeld zu den jungen Leuten. »Stellt euch einen Deutschen vor, der von Kindheit auf in Frankreich gelebt hätte – was wäre dem Hekuba, daß er um sie sollt' weinen?«

»Oder gar ein Österreicher!« rief Christi.

»Weil der Österreicher keine Nation hat,« sagte Moini.

»Sind wir vielleicht nicht Deutsche?« flammte Doll auf.

»Wenigstens keine Prussiens, hoffentlich,« sagte Baudrillard. »Eine Ehre wäre das gerade nicht – wie die in Frankreich gehaust haben. Übrigens war es gut so. Die Nation hat ihre Freiheit zurückgewonnen, und die Revanche bleibt nicht aus. Erledigt!«

Er fuhr fort, seine Stoffe zu zeigen.

»Das ist unser neuer Satin merveilleux. Der kommt zum erstenmal in den Handel und soll durch die Ausstellung lanciert werden.«

»Lanciert werden!« sagte der alte Bornschbögel ungehalten. »Sie reden bald wie der Wegrad. Was braucht denn ein Stoff lanciert werden, wenn er gut ist?«

»So gemütlich, Vater, wie zu deiner Zeit,« lachte Frau Therese, »geht es nicht mehr zu. Heutzutage muß man fast mehr Kaufmann sein als Fabrikant.«

»Werrmiliöh, werrmiliöh – was soll denn das heißen? Ein Satin ist es halt. Deswegen kauft doch keiner eine Elle mehr, weil er Werrmiliöh heißt?«

Alle lachten herzlich über den guten Großvater, Doll aber sagte: »Es ist auch wirklich wahr, warum müssen wir immer die Affen der Grande nation sein? Gerade als ob wir uns unserer Sprache zu schämen hätten!«

»Im Handel,« verteidigte sich Baudrillard, »sind Bezeichnungen, die einen internationalen Klang haben, unentbehrlich. Und nun gar für eine Weltausstellung!«

Und er fuhr fort, seine Schätze auszukramen, und zeigte die Damaste und die Brokate und dann die Samte und die Atlasse. Da schlich der Großvater sich sachte von dannen und kam nicht mehr zum Vorschein. Als es Frau Theresen zur Gewißheit wurde, daß er wirklich nicht zurückkehren würde, erschrak sie heftig und dachte nicht anders, als daß das Lachen über den Satin merveilleux ihn verstimmt und gekränkt hätte.

Sie nahm Vefi beiseite, die des alten Herrn Liebling war, und trug ihr auf, ins Stockwerk hinaufzugehen, um Nachschau zu halten, was mit dem Großvater wäre, und ihn womöglich wieder zu versöhnen. Das Sonnenkind lief, was es laufen konnte, stand mit pochendem Herzen vor der Tür von Großvaters Arbeitszimmer und lauschte. Als sich aber nichts rührte, öffnete sie behutsam und lugte hinein, da saß der alte Herr vor seinem Pulte und strichelte gemächlich an einer Federzeichnung.

»Großvater?«

»Je, die Veferl? Komm einer, Kind, komm einer!«

»Was machst du denn Schönes, Großvater?«

Er legte die Feder hin, schob die Hornbrille in die Stirn und lehnte sich recht weit zurück, um das Bild ordentlich zu betrachten.

»Das ist die Stadt Salzburg,« sagte er aufgeräumt. »Wie ich noch jung war, bin ich einmal durchgewandert. Mit einem Ranzen auf dem Rücken und einem Stock in der Hand. Und dann über den Paß Luegg die Salzach aufwärts und in die Hohen Tauern hinein. Denn das Herumkraxeln in den Bergen hat mir immer eine Mordsfreude gemacht.«

»Jetzt steigst du aber nie mehr in die Berge, Großvater?«

»Weil ich ein altes Kramperl bin – no, brauchst dich nicht zu wehren, ein altes Kramperl ist dein Großvater. Aber wer weiß, probier' ich's noch einmal? Ja, wenn mich einmal recht der Hafer sticht, dann probier' ich's und geh noch einmal auf die Wander ... Siehst, da oben,« sagte er, seine Federzeichnung erläuternd, »wo die große Burg steht, da haben früher die Erzbischöfe gehaust. Das waren aber mehr Ritter als geistliche Herrn, und viele von ihnen haben einen Knebelbart getragen.«

»Geh, einen Knebelbart?« wunderte sich Vefi.

»Jawohl, einen wirklichen Knebelbart,« sagte der Großvater. »Aber wie schaust du denn eigentlich aus, Veferl? Sonst hast du da« – er tippte ihr mit dem Zeigefinger zuerst auf die eine Wange, dann auf die andere – »sonst hast du da ein Paar Lachgrüberln, so groß wie ein Regenbogenschüsserl – wo sind denn die hingekommen? Und die Äugerln sind auch nicht so blankgeputzt wie gewöhnlich. Sag' – ist dir was über das Leberl geloffen, Kind?«

Verlegen schlug das Mädchen den Blick zu Boden, nahm einen von den dicken dunklen Zöpfen nach vorne, in die der frühere Schüttelkopf sich verwandelt hatte, und nestelte an dem Flechtenband.

»Ich hab' nur – eine solche Angst, Großvater«...

»Und warum denn, Veferl?«

»Daß du am Ende böse bist.«

»Geh, hör mir auf, warum soll ich denn böse sein?«

»Weil wir doch alle so gelacht haben.«

»Ach, wegen dem Satin Werrmilliöh, oder wie er heißt? Und da habt ihr euren alten Großvater ordentlich ausgelacht, weil ihm das französische Kauderwelsch ein spanisches Dorf ist?«

»Es war nicht ausgelacht,« beteuerte Vefi, »das mußt du nicht glauben, Großvater! Es war nur gelacht überhaupt.«

»No ja, da könnt ihr lachen, so viel ihr wollt, deswegen genier' ich mich noch lange nicht. Ich hab's halt nicht gelernt, weißt du, in meiner Jugend war das noch nicht so mit dem Lernen, da hat es brav geheißen im Stuhl sitzen und die Weberschütze schmeißen.«

Vefi legte den Arm um seinen Hals und sah ihm beglückt in die Augen.

»So bist du nur deswegen fortgegangen, Großvater, damit die Stadt Salzburg bald fertig wird?«

»Ja freilich! Und dann noch aus einem andern Grunde. Weil der Baudrillard mit seinem Atlas gekommen ist. Und siehst du, das ist so. Zu meiner Zeit, da hat man den Atlas aus schwerer Seide gewebt, und es war eine gediegene und ehrbare Webe. Heute nehmen sie statt Trama englischen Baumwollenzwirn in die Kette, und wenn ich einen Halbseidenatlas seh', das dreht mir halt den Magen um. Deswegen bin ich fortgegangen.«

»Aber Großvater,« sagte Vefi eifrig, »da mußt du mit der Mutter reden, und die wird es Herrn Baudrillard sagen, daß er keinen Zwirn mehr in den Atlas verweben lassen darf. Denn wenn es dir nicht recht ist, so muß es auch abgestellt werden.«

»Taschen, du! Taschen!« sagte er zärtlich und faßte sie lachend mit beiden Händen am Kopf. »Oh du Taschen, du Taschen!«

Sein Lachen ging in einen heftigen Husten über, er wurde ganz rot vor Lachen und Husten. Da zog er sein großes blaues Leinentuch aus dem Rocksack, wischte sich die Augen und schneuzte sich.

»Jetzt, das ist wieder so,« sagte er ernst: »Der gasierte Baumwollenzwirn kostet nur ein Zehntel von dem, was Kettseide kostet, verstehst du? Und wer kein Fachmann ist, der kennt einen gutgedeckten Halbseidenatlas von einem ganzseidenen gar nicht auseinander – äh konträr, der halbseidene hat sogar noch einen stattlicheren Griff. Was willst du also machen? Die Konkurrenz zwingt einen dazu, mit dem Fortschritt zu gehn, auch wenn der Fortschritt bei Licht besehn eigentlich ein Rückschritt ist. Darum red' ich auch nichts drein. Vernünftig ist es ja, was sie machen, und sein muß es auch. Die Jungen, die sollen sich an den Zwirn gewöhnen, unsere ganze Zeit ist Zwirn. Ich aber, ich brauch' vor dem Zwirn kein Buckerl zu machen, ich spiel' nicht mehr mit. Das ist das einzige Schöne am Alter, daß man nicht mehr mitspielen braucht, wenn man nicht mag. Und wenn einen der sogenannte Fortschritt anfangt weh zu tun, weil man von der Vernunft allein nicht satt wird, und weil man da auf der linken Brustseiten so ein komisches Ding drin hat, das an allerhand schönen Erinnerungen hängt – so ist es am gescheitesten, man schleicht sich schön stat davon. Siehst, Veferl, deswegen bin ich fort'gangen, wie der Baudrillard mit seinem Atlas gekommen ist; aber bös wegen dem Lachen war ich nicht, was dir nicht einfallt, werd' doch auf mein Veferl nicht bös sein, wegen dem dummen Satin da, dem Werrmiliöh!«

Vefi fiel ihm um den Hals und küßte ihn und drückte ihn, war unsäglich dankbar, und die Augen glänzten wieder, und die beiden Grübchen in den Wangen waren auf einmal wieder da.

Die Tür ging auf, Frau Therese trat ein, mit etwas befangener Miene, weil sie auch noch immer fürchtete, die Heiterkeit, der sich alle hingegeben hatten, könnte ihn verstimmt haben. Aber auf den ersten Blick gewahrte sie, daß das Wetterglas auf Sonnenschein stand und ihre Sorge überflüssig gewesen war.

»Gut, daß du kommst,« rief der Großvater ihr entgegen; »ich möchte dir schon lange etwas zeigen – jetzt wollen wir einmal sehen, ob du gut raten kannst.«

Er hatte sich erhoben und trippelte eifrig gegen das Fenster, machte aber plötzlich Halt und meinte: »Eigentlich wüßt' ich gern, wer es zuerst errät. Sie sollen alle heraufkommen! Geh, Veferl, sag's ihnen: es gäbe was Merkwürdiges zu sehen, beim Großvater.«

Flink wie eine Schwalbe flog Vefi davon, und es dauerte nicht lang, so wurde die Treppe gestürmt und hallte von vielen Schritten wider. Die ganze Enkelschar brauste herauf, von Christl angefangen, dem schon ein stattliches Gekrause von Bartflaum um Kinn und Wangen dunkelte, bis herunter zum Franzl, der damals, Anno sechsundsechzig, keinen Geringeren als den Kronprinzen von Preußen auf die Mahlzeit hatte warten lassen, weil es ihm gerade beliebte, die seinige einzunehmen, und aus dem inzwischen ein siebenjähriger, schlanker, braunschwarzer Käfer von echt Mairoldschem Gepräge geworden war. Um die Wette mit den Kindern eilte auch Ludger die Stiege hinan, mit seinen langen Beinen immer gleich drei oder vier Stufen auf einmal nehmend, bis Käthi, die Goldgelockte, Einspruch erhob und behauptete, mehr als zwei Stufen zu nehmen, gelte nicht. Da faßte er sie an der Hand und schwang sie mit sich aufwärts, daß sie jauchzte und die Stufen nicht mehr zählte. Und wirklich langten sie unter den ersten oben an, wo sie auf die Vordermänner stießen, während sie von den Nachfolgenden gestoßen wurden, denn die Abstände waren gering; und so gingen sie, soweit die Breite von Großvaters Tür es zuließ, alle miteinander fast gleichzeitig durchs Ziel, was den alten Herrn nicht wenig belustigte. Es freute ihn, daß der Einladung, den Schauplatz seines Fleißes zu betreten, mit so offensichtiger Begeisterung Folge geleistet wurde. Und als schließlich, sehr verspätet aber doch, noch Baudrillard erschien, der sein wackeres Bäuchlein bedächtig den anderen nachgetragen hatte, empfing ihn ein allgemeines Hallo, und die Heiterkeit wollte kein Ende nehmen.

Was gab es nun Merkwürdiges beim Großvater zu schauen? Er führte seine Gäste ans Fenster und zeigte hinaus, über das Gewoge der braunen Dächer und grünen Kuppeln: »Was ist es, das man dort sieht?«

In weiter Ferne ragte etwas aus dem bläulichen Dunst, das früher nicht dagewesen war, und glitzerte in der Sonne wie lauteres Gold.

»Das ist ein Leuchtturm!« rief Franzl.

»Es brennt doch kein Licht darin,« sagte Vefi; »was so blitzt, ist bloß Widerschein der Sonne.«

»Und es wäre auch überflüssig, bei hellem Tage ein Licht anzuzünden,« meinte die kluge Niki.

»Es ist ein Kirchturm,« entschied Käthi.

»Für einen Kirchturm ist es nicht spitz genug,« gab Wolfi sein Gutachten ab.

Und Käthi wieder: »Es ist halt ein breiter Kirchturm!«

Christl hatte nur einen raschen Blick auf den sonderbaren Gegenstand in der Ferne geworfen und sich dann nachdenkend in sich selbst zurückgezogen: »Ich habe gelesen,« sagte er jetzt, »daß unten in der Weltausstellung ein ganzer ägyptischer Palast aufgeführt wird; vielleicht ist es die Spitze eines Minaretts?«

Doll, der im Herbst ans Polytechnikum übergetreten war und im Vermessungswesen sich einen Blick für Abschätzung und Bestimmung von Lagen angeeignet hatte, meinte: »Der Richtung und Entfernung nach ist es ganz bestimmt im Prater. Aber die Spitze eines Minaretts sieht anders aus. Das Goldene, das so funkelt, hat fast die Form einer Krone.«

»Es ist die Rotunde im Prater!« rief Moini.

»Es ist die Rotunde!« bestätigte der Großvater. »Der Moini hat's erraten.«

Schon seit längerer Zeit hatte er wahrgenommen, wie da drüben, wo die Praterauen liegen mußten, ein seltsames Gerüstwerk über dem Häusermeer emporzutauchen begann. Erst wußte er selbst nicht recht, was daraus werden sollte, und beobachtete es Tag für Tag durch den Feldstecher. Er sah es wachsen, und je mehr es wuchs, um so größer wurden seine Ahnungen. Aber er hatte niemand davon erzählt und wartete nur voll Spannung auf den Augenblick, wo das Baugerüste fallen würde. Und wirklich leuchtete eines Tages eine riesige goldene Kaiserkrone in der Frühlingssonne. Nun wußte er, daß er sich nicht getäuscht hatte, und daß es wirklich die Laterne und oberste Bekrönung der Rotunde war, des himmelragenden Industriepalastes, der den Mittelpunkt der Weltausstellung bilden sollte. Und es beglückte ihn, daß er dieses bedeutsame Wahrzeichen von seinen Fenstern aus sehen konnte. Es war ihm ein Symbol der Größe Österreichs. Ein Symbol des verjüngten und gleichsam neugeborenen Vaterlandes. Sieben Jahre nach den fürchterlichen Niederlagen auf den böhmischen Kriegsschauplätzen lud dieses aus dem tausendjährigen Verband mit Deutschland losgelöste Reich, das zum ersten Male in der Weltgeschichte den Versuch unternahm, acht oder neun verschiedensprachige Nationen zu einem modernen und fortschrittlichen Gemeinwesen gleichberechtigter Bürger zusammenzuschließen, die Völker des Erdballs zu friedlichem Wettstreit ...

Schweigend und überrascht von dem unerwarteten Anblick sahen die Enkelkinder auf das großartige Wahrzeichen hinüber. Und den guten alten Großvater, der mitten unter ihnen stand, überkam es fast wie Ergriffenheit. Aber er sagte nichts davon, bloß seine Stimme wackelte ein wenig, als er jetzt wiederholte: »Ja, seht ihr, das ist die Rotunde ...«

»Wenn ich denke,« sagte Frau Therese ernst und unwillkürlich hineingezogen in den Bannkreis der unausgesprochenen Gefühle des Großvaters – »wenn ich denke, was sich in der kurzen Zeit seit dem Kriege alles verändert hat ... Der Napoleon in der Verbannung gestorben, die Soldaten des Königs in Rom einmarschiert, ein stolzes Deutsches Reich wiedererstanden, und Österreich –«

»Ein Dorado der Börsenjuden geworden!« ergänzte Herrnfeld.

»Und Österreich,« sagte sie streng, »ein aufblühender Verfassungsstaat, ein Hort segensreicher Kulturarbeit!«

»Die Börsenjuden,« stand der alte Bornschbögel ihr bei, »die machen noch lange kein österreichisches Volk, wiewohl daß mehr als die Halbscheid davon Christen sind.«

»Aber auch die Kaiserkrone da oben,« meinte Baudrillard, »macht aus den einander feindselig gesinnten österreichischen Nationen noch lange kein österreichisches Volk.«

Die Kinder hatten sich an die Fenster verteilt, und die den Feldstecher nicht hatten, warteten ungeduldig, bis der, der so glücklich war, ihn gerade in den Händen zu halten, den sonderbaren Fund am Horizont genugsam betrachtet hatte.

»Ich seh' es ganz deutlich, es ist eine richtige Krone!« jubelte Käthi.

»Und wenn man es recht versteht, so hat sie auch ihren guten Sinn,« wendete der Großvater sich an Baudrillard. »Unsere Königreiche und Länder streiten ja gern ein bissel miteinander, wenn es um die hohe Politik geht; aber mit ihrem Gewerbe und ihrer Industrie, mit ihrem Fleiß und ihrer Arbeit, mit dem Besten, was sie sind und leisten, bringt man sie doch leicht unter einen Hut, unter den Hut des Kaisers nämlich. Das ist ein Segen für jeden einzelnen wie für das Ganze.«

»Ist es wirklich ein Segen für uns Deutsche?« fragte Doll.

»Denke nur,« rief Frau Therese – »wenn man all die Kräfte, die die österreichischen Nationen in müßigem Zank verbrauchen, zusammenfassen und in die Bahnen fruchtbarer Arbeit leiten könnte!«

»Die junge Kaiserkrone zu oberst auf der Rotunde,« fuhr der Großvater fort, »kommt mir vor wie eine Mahnung an das neue Österreich, das ganz etwas anderes ist als das alte Österreich; denn früher war es eine Handvoll Provinzen, denen man von Wien aus diktiert hat, jetzt soll es ein einiges Reich werden, das sich selbst regiert. Jetzt heißt es zeigen, daß die Menschen, die da um die Donau und die Moldau, die Drau und die Etsch herumwohnen, in den fast zweitausend Jahren seit Christi noch etwas anderes gelernt haben als miteinander raufen. Sie gehören halt einmal zueinander, und daran muß man sie erinnern, so oft als möglich. Darum steht auch über dem Eingangstor der Rotunde in goldenen Buchstaben der Wahlspruch unseres Kaisers geschrieben: Viribus unitis. Und das bedeutet, hab' ich mir sagen lassen, zu deutsch so viel wie: Halt's z'samm!«

»Wie lang ist es her,« sagte Ludger, der seinen skeptischen Tag hatte, »daß der Rattenkönig nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebte? Sahen wir nicht erst kürzlich die Böcke zu Gärtnern, die Länder zu Hütern des Staates machen? Haben Sie die Fundamentalartikel des Grafen Hohenwart vergessen, die die Böhmische Autonomie begründen sollten? Es fehlte nicht viel, daß man ein Schußgeld aussetzte, für jeden Deutschen, der sich im Bannkreis der Wenzelskrone blicken ließe! Und jetzt sollen wir an die Kaiserkrone da oben glauben? Noch weigern sich die Tschechen, Österreicher zu sein, die große Wahlreform, die das Zentralparlament von den Landtagen emanzipiert, ist ihnen ein Dorn im Auge, und weder der Staatsanwalt noch die Bajonette unserer sogenannten liberalen Regierung haben sie kirre gemacht. Sie pochen darauf, daß die Gräber aller österreichischen Ministerien in Böhmen liegen, und appellieren genau wie die Parteien von achtundvierzig vom schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden Kaiser. Mit einem Worte, sie befinden sich auf dem Wege, ihren Kopf durchzusetzen; denn den ungebärdigen Kindern reicht man bei uns von je Zuckerbrot, während die gutwilligen leer ausgehn.«

»Das ist aber auch eine Spottgeburt von Liberalismus,« sagte Baudrillaid, »der mit Zeitungskonfiskationen und Bajonetten arbeitet!«

»Um eine Omelette zu kochen, muß man Eier zerbrechen!« rief Doll.

Herrnfeld legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen.

»Bist du so einer, Doll?«

Er sagte es mit einem tiefen, ernsthaften Staunen, daß Doll unwillkürlich seinem Blicke auswich. Auf der Hochschule, in der Lesehalle, hatte er ein Kunterbunt von politischen Ideen in sich gesogen, die gährend in ihm durcheinanderschäumten. Die studentische Überlieferung von achtundvierzig war noch wach, der neue bürgerliche Liberalismus sah halb und halb wie eine Erfüllung aus, die starke Faust, die Deutschland zusammenhielt, erregte Begeisterung in den jugendlichen Gemütern.

»Im Kampf der Völker,« verteidigte er sich, »gelten andere Gesetze als im Leben des einzelnen.«

Indem er ihm einen leichten Backenstreich verabreichte, wendete Herrnfeld sich ab, steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte: »Blut und Eisen, nicht wahr? Hm, hm! Ja, ja!« ...

»Blut und Eisen, das ist eine preußische Melange!« eiferte der alte Bornschbögel. »Damit zwingt man die Menschen nicht zur Liebe! In Österreich brauchen wir etwas anderes: Geduld und gegenseitiges Verstehen!«

»Ein bissel schwierig ist es halt im Anfang,« meinte Herrnfeld lachend.

»Aller Anfang ist schwer, und wenn mehrere Parteien auf ein und demselben Herd kochen sollen, so kommen sie einander gern in die Haare, das ist schon einmal nicht anders. Mit der Zeit aber lernen sie sich vertragen, weil es sein muß, und weil es allen von Nutzen ist. So weiden auch die Herrn Böhmaken, die sich jetzt in Prag ein Extrawürstel braten möchten, nach und nach Räson annehmen und an der gemeinsamen Suppe mitkochen. Und wenn es erst zum Essen kommt, dann wird schon gar niemand fehlen wollen. Dann werden sie sich's wacker schmecken lassen, alle miteinander, und einsehen lernen, daß an der Kaiserkrone doch etwas dran ist. Das Grünzeug zu der Suppen kommt aus dem Marchfeld, der gebackene Karpfen stammt aus Böhmen und das saftige Rindfleisch aus Ungarn. Über einen steirischen Kapaun geht schon einmal nichts, als Mehlspeise ist das polnische Topfen-Haluschka nicht zu verachten; die Tiroler liefern Käs und Butter, die Furlaner Früchte und Trauben. Dazu ein Glas feurigen Weins von den Hängen des Wienerwaldes – wer möchte da nicht mit anstoßen?«

Alle mußten lachen, wie der Großvater die schwierigen politischen Fragen auf gut Wienerisch löste. Und er lachte selbst mit und meinte zum Schluß: »Jetzt werdet ihr glauben, ich denk' nur alleweil ans Essen, wie es schon einmal geht, wenn man alt wird. No, ich kann's nicht leugnen, ich halt' etwas auf ein gutes Papperl. Aber das mit dem österreichisch Kochen und österreichisch Essen, das hab' ich doch mehr vergleichsweise gemeint. Es ist auch nicht bloß das leibliche Sattwerden, an das ich denke. Wenn sich die verschiedenen Völker unseres Vaterlandes einmal vertragen und friedlich nebeneinander an der reich gedeckten österreichischen Tafel Platz nehmen wollten, so wär' es auch sonst nicht zu ihrem Schaden. Denn ein jedes von ihnen hat seine Fehler und seine guten Eigenschaften, und so ein Ausbund an Gescheitheit und Vollkommenheit ist keines, als daß es nicht von den andern noch eine Menge zu lernen hätte.«

So ungefähr gingen die Gespräche, zu denen das goldene Wahrzeichen jenseits des Häusermeeres den Anlaß gegeben hatte. Die Frühlingssonne war untergegangen, die riesige Kaiserkrone in der Ferne funkelte nicht mehr und verschwamm allmählich in dem bräunlichen Dunst und Nebel, der über der Stadt lag; wenn man sie nicht früher gesehen hatte, in ihrem Glänze, so konnte das Auge sie jetzt kaum mehr unterscheiden.

Schließlich empfahlen sich die Gäste und ließen den alten Herrn allein, der es sich nicht nehmen ließ, sie bis an seine Wohnungstür zu geleiten. Denn er vernachlässigte auch den nächsten Verwandten gegenüber nicht die Formen, die er aus der guten alten Zeit mit herübergenommen hatte.

Die Worte des Großvaters, die sich auf die Versöhnung der Völker bezogen, gingen Doll nach, während er an der Seite Frau Theresens die Treppe hinunterstieg. Er begriff nicht recht, wie sie zu verstehen wären. Die Völker Österreichs hätten manches von einander zu lernen? Und das sollte auch von den Deutschen gelten? Was konnten Deutsche von Polen und Ruthenen, von Tschechen und Perwaken lernen? Waren die Deutschen in Österreich nicht das Kulturvolk unter minderwertigen Nationen? Er glühte für sein Volk und hatte die Worte des Großvaters nur deshalb unwidersprochen gelassen, weil er den alten Herrn über alles liebte und nicht störrisch und unehrerbietig erscheinen wollte.

»Weißt du, Mutter,« sagte er jetzt, »was wir Deutsch-Österreicher von den andern Völkern lernen können? Rücksichtslosigkeit in nationalen Dingen!«

»Sagen wir: Anhänglichkeit ans eigene Volk,« versetzte sie. »Liebe zur nationalen Art! So sind wir einig.«

Ludger Herrnfeld, der mit Käthi vor ihnen ging, wendete sich um: »Und noch etwas könnten sie lernen. Mehr Kinder kriegen als die Slawen, sonst werden wir doch aufgefressen!«

»Ich denke, ich hätte gerade genug,« lachte Frau Therese.

»Sie sind aber auch eine rühmliche Ausnahme!«

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