Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Das Klosterschlößchen.

Das alte Schlößchen hinter St. Jodok in der Lüsen, von dem ich euch jetzt erzähle, hat seine Geschichte, aber niemand kennt sie. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß vor zweihundert Jahren oder länger die Pröpste eines wohlhabenden Stiftes im österreichischen Friaul die Tafelfreuden liebten und darum nach einer Wald- und Berggegend Ausschau hielten, deren Wildreichtum die Fülle von Wein und Früchten, welche das sonnige Unterland ihnen lieferte, würdig ergänzen sollte. Es lag ihnen aber außer dem Wildbret für ihren Tisch auch ganz besonders das Jagdvergnügen am Herzen, und sie wollten nicht nur auf Damhirsche und Rehe, sondern gelegentlich auch auf Hochgebirgswild wie Gemsen, Steinböcke oder Auerhähne birschen. Darum verfielen die geistlichen Herren auf die Gegend hinter St. Jodok in der Lüsen, die knapp an der Grenze zwischen dem deutschen und wendisch-italienischen Sprachgebiet inmitten hoher Berge eingebettet liegt und damals noch wenig gerodet war. Dort erwarben sie ein Gut mit Waldbesitz und allerhand Jagd- und Weiderechten und bauten im Geschmack ihrer Zeit ein schmuckes Jagdschlößchen hin, mit vorspringenden Türmen an den vier Ecken und gipsenen Fruchtgewinden, die von wohlgenährten Putten gehalten werden, an den Saaldecken.

So erstand jenes reizende, unter hohen Lindenbäumen versteckte Herrenhaus, das den Alpenwanderer noch heute entzückt und anheimelt, wenn er daran vorüberkommt, um durch die innere Lüsen einen der gewaltigen Berggipfel zu ersteigen, die rings heruntergrüßen und bald einen deutschen, bald einen slawischen, bald einen welschen Namen tragen. Falls er aber stehen bliebe, um sich zu erkundigen, wer der glückliche Eigentümer sei, so wüßte ihm niemand von jagdlustigen Klosterbrüdern und Prälaten zu berichten. Er erführe bloß, daß jetzt eine stille, vornehme Frau von bürgerlicher Herkunft darin wohne, die jeden Sommer eine ganze Schar fröhlicher junger Leute um sich zu versammeln wisse, obgleich sie selbst kinderlos, unvermählt und kränklich sei. Seine Neugierde, sie kennen zu lernen, würde wach, denn man spräche von ihr wie von einer gütigen Fee. Und früge er noch weiter, so beschriebe man sie ihm als eine edle, hochherzige Dame mit schneeweißem Haar, die weit im Umkreis als Wohltäterin verehrt und nicht anders als Gioja genannt werde, weil sie ein Kleinod sei unter den Menschen, weil Freude sprieße allenthalben, wohin sie ihren Schritt setze, wie Blumen aus den Fußstapfen des heiligen Franziskus.

Niemand erinnert sich mehr, daß das Herrenhaus unter den uralten Linden einst mitten im Walde gestanden, niemand weiß etwas davon, daß es einst geistlichen Herren als Jagdschlößchen gedient hat. Denn soweit die ältesten Leute zurückdenken können, war es stets Eigentum der Freiherrn von Gall-Rastenburg-Grahovo gewesen, die sich schließlich, nachdem größere und einträglichere Güter ihnen nach und nach abhanden gekommen, grollend in die Lüsen zurückgezogen und dauernd in dem alten Schlößchen eingenistet hatten. Heute freilich befindet dieses sich so wenig mehr in ihrem Besitz wie in dem der toten Hand. Dem einst reich begüterten Geschlechte ist auch dieser letzte Schmollwinkel in Verlust geraten, denn es hat endgültig abgewirtschaftet. Den letzten Freiherrn von Gall-Rastenburg-Grahovo, einen stolzen, schönen, unnahbaren jungen Mann, kannten noch alle. Er war jähzornig und ungerecht, niemand liebte ihn, obgleich er manchmal, wenn er gerade in der Laune war, dem nächstbesten Knecht, der ihm das Pferd gehalten hatte, eine Fünfguldennote hinwarf. Niemand vermißte ihn, als er ausblieb und sich nicht mehr in der Lüsen sehen ließ, niemand bedauert es, daß er von der Bildfläche verschwunden ist, als wäre er gestorben.

Im Jahre dreiundsiebzig, heißt es, als in Wien draußen der große Börsenkrach war, sei er an den Bettelstab gekommen.

Das Gut samt dem Herrenhaus war damals an den Meistbietenden losgeschlagen worden und hatte seitdem mehrmals hintereinander den Besitzer gewechselt, bis gegen Ende der siebziger Jahre jene kränkliche alte Dame es erwarb und zu ihrem Sommersitz erwählte. Seither haben die Leute in der Lüsen das Gefühl, als sei endlich wieder eine »Herrschaft« da, zu der sie emporblicken können.

Was mag sich in dem alten Schlößchen nicht alles abgespielt haben, im Wechsel der Jahrhunderte? O daß die Steine reden könnten und die Saalwände Zauberspiegel wären, die vorüberziehenden Bilder zu bannen und dauernd festzuhalten! O wer die Sprache der uralten Linden verstünde, die das hochgeschwungene Ziegeldach beschatten und im Winde flüsternd von alten Begebenheiten erzählen, die keine Chronik aufzeichnet! Denn das anheimelnde Schlößchen in der Lüsen hat seine Geschichte wie alle alten Schlösser, aber niemand kennt sie. Nicht einmal, daß es ursprünglich ein Jagdhaus war, und daß die Jäger, die mit der Flinte über der Schulter ein und ausgingen, geistliche Stiftsherren waren, ist in Erinnerung geblieben. Und wenn die Leute in der Gegend es noch heute das Klosterschlüssel nennen, so wissen die wenigsten von ihnen, warum.

Es ist die Zeit, da die Linden blühen, und der herbe Bergwind, der durch die Lüsen streicht, weht den beiden Fußwanderern, die sich auf der Straße von St. Jodok dem Hause nähern, ganze Wolken süßen Duftes in die Nasen. Es sind zwei recht ungleiche Gesellen, der eine jung, der andre alt, Großvater und Enkel vielleicht, der eine hochgewachsen, der andere eher klein, aber rasch beweglich. Der Junge, Hochgewachsene, braucht nur halb so viel Schritte zu machen wie der alte Herr, der kaum mittelgroß geraten ist, darum wallen sie in ziemlich ungleichartigem Gange nebeneinander hin. Zwar läßt der wettergebräunte Jüngling, der die Tracht des Bergsteigers trägt, sich absichtlich Zeit und geht so gemächlich, als es ihm nur möglich ist, an der Seite des Großvaters her, damit dieser sich ja nicht übereile; es nützt ihm aber wenig. Denn der alte Herr in grauem städtischen Anzug, ein graues weiches Filzhütlein jugendfroh auf dem linken Ohr, ein Opernglas im Lederfutteral an einem Riemchen um die Schulter geschnallt, kommt sich beinahe wie ein zwanzigjähriger Springinsfeld vor, seit er der Stadt den Rücken gewendet und sich auf die Wander begeben hat. Und während er die stählerne Zwinge seines Wandelstockes emsig gegen den Straßenschotter klirren läßt, hastet er mit seinen kurzen, raschen Schritten wie ein fröhliches Wiesel dem jüngeren Gefährten, und mag der sich so viel Zeit lassen als er will, doch immer um eine halbe Nasenlänge voraus.

»Die Linden duften, die Beschreibung stimmt,« sagt er jetzt zu seinem Wandergenossen; »hier muß es sein! Hättest du es dir träumen lassen, Doll, daß wir in der Lüsen eine gute alte Bekannte wiederfinden?«

»Und was für eine liebe, einzige Frau!« versetzt der Jüngling warm. »Ich kann nicht sagen, wie ich mich freue, sie wiederzusehen, fast muß ich sagen: sie kennen zu lernen! Denn ich erinnere mich ihrer eigentlich bloß aus früher Jugend, als wir Kinder noch manchmal im Leodolterschen Hause verkehrten. Ich sah sie immer nur auf ihrem Diwan ausgestreckt, und wir hatten etwas wie eine heilige Scheu vor ihr, weil sie krank und dabei so klar, heiter und gütig war. Ja, sie erschien mir selbst fast wie eine Heilige auf ihrem Schmerzenslager. Aber nicht wie eine Heilige der düsteren Dogmen, mehr wie eine solche aus den alten Legenden, die von Freudigkeit und innerem Sonnenglanz leuchten.«

Die beiden Wanderer haben auf einem hölzernen Stege die Lüsen überquert, das rauschende, hüpfende, sich mutwillig überschlagende Wasser, das noch viel älter ist als der alte Herr Bornschbögel und doch ebenso jugendlustig sich tummelt und weiterhastet wie er. Jetzt treten sie in den Abendschatten der Linden, um die das Summen der honigsammelnden Bienen webt. Die Pforte des Klosterschlößchen steht offen, eine kühle Halle mit doppelt geschwungener steinerner Freitreppe nimmt sie auf. Wenige Augenblicke später führt ein flinkes Dienstmädchen sie in den schneeweißen Saal, an dessen Decke die gipsenen Putten gipsene Fruchtgirlanden halten, und durch diesen hindurch auf eine breite, freie, gegen den Garten hin sich öffnende Plattform.

Eine weißhaarige Dame, schmal und zart wie ein Hauch, die in Pelzwerk gehüllt auf einem Ruhebett hingestreckt lag, richtete sich lebhaft empor und streckte dem Großvater mit einer Bewegung von merkwürdiger Anmut und Entschiedenheit die Hand entgegen.

»Wie freue ich mich, bester Herr Bornschbögel, Sie hier zu begrüßen! Und dies ist Ihr Enkel, Doll Mairold? Ich hätte ihn nicht wiedererkannt! Nein, ich glaube kaum, daß ich Sie wiedererkannt hätte, Doll. Und doch gleichen Sie Ihrem seligen Vater, ja, es sind eigentlich dieselben Züge ... Lassen Sie sehen – ja, hier im Kinn und um den Mund, da sitzt die Ähnlichkeit. Es ist ein Zug von Kraft und Energie, oder doch eine Vorahnung davon, wenngleich noch nicht so voll entfaltet wie bei meinem verewigten Freunde« ...

Ihr Blick ruhte sinnend, forschend auf dem jungen Manne, während sie auch ihm die schmale, mit keinem Ring geschmückte und doch so schöne und feine Hand entgegenstreckte.

»Sie waren ein Knabe damals, als ich Sie zum letztenmal sah. Nun sind Sie ein Jüngling, fast ein Mann, und wie ich aus Ihrer Karte ersehe, schon in Beruf und Stellung. Wie doch die Zeit hingeht! Und wenn man so wie ich nur aus der Ferne dem Leben zusieht, so vergißt man immer wieder, daß es sich in steter Bewegung befindet. Manchmal, wenn ich durch bestimmte Anlässe daran erinnert werde, kann ich mich nicht genug darüber wundern, wie in den Jahren her sich alles verändert hat, während ich selbst nach wie vor unbeweglich auf meinem Krankenlager träume. Junge Mädchen, die ich mir noch in ihrer Blüte vorstelle, sind inzwischen Mütter geworden, Altersgenossinnen Matronen, und bei fernerstehenden Bekannten muß ich mich manchmal besinnen, ob sie noch unter den Lebenden weilen, oder längst gestorben sind. Und gar die Kinder, ich meine, die ich als Kinder kannte! Immer denke ich sie noch als Kinder, und doch sind sie längst herangewachsen und groß geworden – wollte Gott, daß sie alle so gesund und heiter wären, wie ich Sie vor mir stehen sehe!«

Sie war errötet, in einer gewissen Erregung, unter dem Schmuck ihres reichen Silberhaars. Doll, dem das noch jugendlichere Bild dieser Frau in ferner, halb verblaßter Erinnerung schwebte, fand sich jetzt, da der Zufall ihn wieder in ihre Nähe geführt hatte, vom ersten Augenblick zu ihr hingezogen. Etwas unendlich Vornehmes sprach aus ihrem ganzen Wesen, das sich trotz eines deutlichen Leidenshauches, der über das Antlitz ausgegossen war, schon in der sanften, doch entschlossenen Haltung des Kopfes ankündigte. Das ausdrucksvollste in ihrem Gesichte war neben den großen, klaren Augen, die einst sehr schön gewesen sein mußten, der Mund, dessen feingezogene Linien ein Sitz stillen Duldens und Verzeihens, aber auch versteckt ruhender Heiterkeit, gelegentlich wohl gar einer leisen Ironie zu sein schienen.

»Und nun erzählen Sie mir etwas aus der Welt, aus dem Leben, vor allem von Frau Theresen, Ihrer wackeren Mutter, von Ihnen selbst und allen Ihren Geschwistern. Wo kommen Sie her? Wo streben Sie hin? Und wie haben Sie all die Zeit her gelebt, seit wir einander nicht sahen?«

Es waren genug Fragen auf einmal, man gab bereitwillig Auskunft, beantwortete vorerst das Notwendige und fragte wieder dagegen. Doll fühlte, daß Förmlichkeit und leere Worte in ihrer Nähe nicht gedeihen konnten. Mit Lebhaftigkeit wußte sie das Gespräch zu leiten. Vom Allgemeinen und scheinbar Beiläufigen ausgehend, brachte sie jeden, mit dem sie sprach, bald auf den Punkt, wo er sich gezwungen sah, Rechenschaft von sich abzulegen, und in Kürze zu offenbaren, was er eigentlich trieb, und was im Grunde an ihm war.

»Wir sind, wie Sie uns da sehen, auf einer Entdeckungsreise begriffen,« sagte der alte Herr Bornschbögel. »Freilich ist es im Grunde genommen bloß mein Enkel Doll, der auf Entdeckungen ausgeschickt ist. Nun bin ich aber in meiner Jugend immer gern in den Bergen gewandert, einen Stock in der Hand und ein Ränzel auf dem Rücken. Das hätt' ich gern noch einmal probiert, nur ein einziges Mal, eh' daß ich sterbe. Also sag' ich zum Doll: nimmst du deinen alten Großvater mit? Und er tut es, freut sich sogar darüber, sagt es wenigstens – no, und da sind wir!«

»Du weißt ganz gut, Großvater,« unterbrach Doll ihn eifrig, »daß ich es nicht bloß sage, daß ich mich auch wirklich darüber freue. Und Sie sollten sehen, gnädigste Frau, wie der Großvater laufen kann! Manchmal komm' ich ihm kaum nach, und wenn ich mich noch so sehr bemühe, mit ihm Schritt zu halten, er läuft mir einfach davon, er gewinnt mir immer wieder einen Vorsprung ab.«

Dem alten Herrn sah man es an, wie wohl das Zeugnis ihm tat, das sein Enkel ihm ausstellte. Zwar wollte er sich nichts davon merken lassen, aber das geschmeichelte Lächeln, das er gewaltsam unterdrückte, streute seine Reflexe über das gute alte Gesicht, daß es bei aller beabsichtigten Sachlichkeit doch von verhaltener innerer Glorie leuchtete.

»No ja, halbwegs geht es schon noch. Man kommt wieder in Schwung. So ganz zum alten Eisen gehör' ich halt doch noch nicht« ...

Er fuhr fort zu erzählen, wie sie ihre Wanderung angetreten, und was sie dabei erlebt hätten.

»Und das schönste von allem, was wir bisher gesehen haben,« sagte er, »ist doch die Lüsen. Im Gasthof zu St. Jodok« ...

»Daß Sie im Gasthof absteigen konnten!« unterbrach ihn die alte Dame mit freundlichem Vorwurf.

»Wir hörten erst dort vom Klosterschlössel,« sagte Doll. »Wir ahnten nicht, daß Sie Ihren Sommersitz hier aufgeschlagen hätten. Wir hofften auf alles, nur nicht darauf, Sie in der Lüsen zu treffen. Man erzählte uns von Frau Gioja, der sonnige Name gefiel mir, und ich erkundigte mich, wer sich würdig erwiesen hätte, damit benannt zu werden. Stellen Sie sich unsere freudige Überraschung vor, als es die Würdigste war, die wir selbst dafür ausfindig zu machen gewußt hatten!«

»Ich liebe ihn selbst, diesen Namen,« sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln in die Ferne. »Er hebt mich über mich selbst und meinen leidenden Zustand hinaus und hilft mir, meiner Pflichten eingedenk zu bleiben ... Aber nun, da Sie wissen, wer Gioja ist, hoff' ich, daß Sie die Gastfreundschaft des Klosterschlössels nicht verschmähen. Ich will sogleich Befehl geben, Ihr Gepäck hieherzuschaffen.«

»Wir bleiben nur die eine Nacht,« entschuldigte sich der Großvater. »Morgen mit dem frühesten wandern wir weiter.«

»In welcher Richtung?«

»Auf die Wegwacht.«

»Dann will ich nicht in Sie dringen. Sie müßten, wollen Sie von hier auf die Wegwacht gelangen, doch wieder über St. Jodok.«

»Sie kennen die Wegwacht, Frau Gioja?« fragte Doll.

Sie bejahte und gab ihm bereitwillig alle wünschenswerten Auskünfte darüber, nach denen er begierig schien. Er wollte immer noch mehr wissen, und manchmal mußte sie die Antwort schuldig bleiben. Die Sachlichkeit seiner Fragen nahm sie wunder; sie hatte nicht gedacht, daß andere als touristische Absichten ihn in die Gegend geführt haben könnten, und sagte schließlich: »Sie scheinen sich für die Steinbrüche zu interessieren, die vor Jahren auf der Wegwacht in Betrieb gestanden haben? Es war dies noch in der Zeit, bevor ich mich hier ankaufte. Ich weiß darüber nur so viel, daß man über Ansätze nicht weit hinausgekommen ist. Heute herrscht da oben völlige Zerfahrenheit, niemand weiß, wer der Herr ist. Das meiste liegt brach, an einzelnen Stellen soll von drüben, von der andern Seite her, wüster Raubbau getrieben werden, von fachmännischer Ausbeutung ist nirgends die Spur. Die ganze Lüsen leidet darunter. Denn viele Bewohner könnten in den Marmorwerken, wenn diese in die richtige Hand kämen, Arbeit und Verdienst finden.«

»Aus unserm Doll,« sagte der Großvater nicht ohne Stolz, »ist nämlich, seit Sie ihn nicht gesehen haben, ein tüchtiger Ingenieur geworden. Den Haarhammer, den Baudirektor, den kennen Sie ja? Und Sie wissen auch, daß der seine Sache versteht, nicht wahr? Bei ihm hat Doll ein paar Jahre lang gearbeitet und viel gelernt! Wenn der Haarhammer einen lobt, so weiß er, warum. Also, und der Haarhammer, der hält große Stücke auf den Doll« ...

»Aber Großvater!« rief Doll dazwischen.

»Faktum! Er hat es mir selbst gesagt!« beharrte Herr Bornschbögel vergnügt. »Warum soll man es nicht verraten dürfen, wenn es wahr ist? Ich hab' es aus seinem eigenen Mund, daß er den Doll für einen seiner tüchtigsten jungen Leute hält. No, und deswegen schickt er ihn auch auf Entdeckungsreisen. Jetzt sollen wir halt die Wegwacht miteinander entdecken, wir zwei: sollen ein bisserl herumspekulieren, da oben, und nachschauen, ob überhaupt Steine da sind, oder ob die am Ende auch bloßer Schwindel waren wie die große Aktiengesellschaft, die damals im Jahr dreiundsiebzig abgekracht ist.«

Frau Gioja lachte.

»Die Steine sind schon noch da, die hab' ich selbst gesehen. Ganze Bergkoppen rings um die Wegwacht bestehen aus reinem Kalkstein. Und es ist guter weißer oder grauer Marmor, sehr dauerhaftes, außerordentlich wetterbeständiges Gestein, ein vorzügliches Material! Woher ich das weiß? Wie kann ich Erfahrungen darüber gesammelt haben? Was meinen Sie wohl, Herr Ingenieur?«

Sie sah gespannt nach Doll hinüber, und er bewunderte im stillen ihre Klugheit, denn er verstand sofort, daß sie ihn auf die Probe stellen wollte, ob er Sinn und offenen Blick für seinen Beruf hätte. Aber ihre Frage setzte ihn nicht in Verlegenheit.

»Das können Sie leicht wissen, Frau Gioja! Die Freitreppe, über die wir heraufgekommen sind, steht, wie ihre Formensprache verrät, wohl an die dreihundert Jahre in Gebrauch und zeigt doch nur geringe Spuren von Abnützung. Der Türstock an der Eingangspforte Ihres Hauses widersteht ebensolange den Einflüssen der Witterung, ohne schadhaft geworden zu sein. Dasselbe gilt von den Tür- und Fensterstöcken aus Marmor, die man in St. Jodok an vielen älteren Bauernhäusern noch bemerken kann. Woher sollte dieses Material stammen, wenn nicht von der Wegwacht?«

»Sie glauben also, daß die Steinbrüche da oben schon seit Jahrhunderten ausgebeutet werden?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es bestimmt. Und wenn sich das Alter der Häuser von St. Jodok ermitteln läßt, so läßt sich auch ziemlich genau feststellen, um welche Zeit der Betrieb blühte, und wann er wieder in Verfall geriet. Übrigens war ich mir über die große Wetterbeständigkeit des Gesteins bereits im klaren, bevor ich die Lüsen betrat. Es wird Sie vielleicht interessieren, gnädigste Frau, daß eine ganze Reihe jener Kolossalfiguren, die das große Parterre des kaiserlichen Parkes von Schönbrunn schmücken, aus Wegwachtmarmor gemeißelt sind.«

»Woher wissen Sie das?« fragte jetzt die alte Dame erstaunt.

»Ganz einfach aus einem genauen Vergleich des Materials jener Statuen mit Gesteinsproben von der Wegwacht, die mir Haarhammer zur Verfügung stellte. Ich sagte mir, wenn der Marmor so vorzüglich und das Lager so reich ist, so ist es unwahrscheinlich, daß die Brüche in den Zeiten der fürstlichen Baulust und Gartenkunst nicht längst entdeckt gewesen sein sollten. Wir sehen ja auf vielen Gebieten eine Lücke klaffen zwischen dem feudalen Reichtum von damals und dem bürgerlichen Wohlstand von heute. In dieser Pause der Dürftigkeit können Marmorbrüche leicht in Vergessenheit geraten sein, die in der Epoche der Dianen und Faune zwischen beschnittenen Buchenhecken wohl bekannt waren und reichen Ertrag lieferten. Von diesem Gedanken ausgehend, untersuchte ich Bauten und Steinbilder in und um Wien auf die Herkunft ihres Materials. Und daß im Park von Schönbrunn meine Fährte mich ans Ziel führte, hat nicht bloß geschichtliches Interesse; es ist vor allem von größter Bedeutung für unser Unternehmen, weil dadurch ein unbestreitbarer und jedermann zugänglicher Beweis für die Qualität des Gesteins gewonnen ist.«

»Sie haben recht, Herr Bornschbögel,« sagte Frau Gioja ernst: »Wenn der Haarhammer einen lobt, so weiß er warum.«

Es schien ihr Befriedigung zu gewähren, daß der junge Mann sich aufgeweckt und wohl unterrichtet zeigte. Doll fühlte von diesem Augenblick, daß sie ihm warme Schätzung entgegenbrachte um seiner selbst willen, nicht bloß, weil sie mit seinem Vater befreundet gewesen. Und als sie erfuhr, daß er im Auftrage jener Baugesellschaft reise, an deren Spitze Haarhammer stand, daß diese Gesellschaft die Rechtsnachfolgerin der ehemaligen Pentelikonaktiengesellschaft geworden sei und sich mit der Absicht trage, die Marmorbrüche auf der Wegwacht neuerdings in Betrieb zu setzen, da richtete sie sich lebhaft empor wie eine plötzlich Genesene, und ihre Wangen überzogen sich mit jugendlicher Röte.

»Wie freue ich mich, sie auf solchem Wege zu finden Doll! Wie freue ich mich, daß Sie nicht wie die meisten jungen Leute sich der Legion derer anschließen wollen, die dem Staate regieren und verwalten helfen! Wir brauchen Schaffende, die neue Quellen erschließen, zu regieren und zu verwalten gibt es ohnedies bald nichts mehr in unseren Bergen. Mit der Bauernwirtschaft steht es schlimm, es sind viele, die ihre Höfe nicht mehr halten können. Es fehlt an Menschen, die etwas unternehmen, an Bestimmenden, an Lenkenden, an solchen, die neue Werte, die Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Jetzt, da ich weiß, warum Sie hier sind, jetzt heiße ich Sie doppelt willkommen!«

Erfreut dankte Doll und sprach die Hoffnung aus, daß es ihm vergönnt sein möge, etwas zu wirken und zu leisten, das der ganzen Gegend zugute käme.

»Vielleicht wäre es nirgends erwünschter,« sagte er, »nirgends notwendiger als gerade an den Sprachgrenzen. Die Aufgaben, die ich da oben zu lösen haben werde, sind schwierige, ich weiß es. Aber Ihr Willkomm soll mir gute Vorbedeutung sein. Sie in der Nähe zu wissen, Trost und Stärkung in jeder Not! Und immer, solange mir Ihr freundliches Bild vor Augen schwebt, werd' ich es fühlen: ich stehe nicht allein – auf der Wegwacht!«

»Sie stehen nicht allein!« sagte sie, seine Hand ergreifend und lange festhaltend. »Meine guten Wünsche werden bei Ihnen sein. Und da verschiedene Berg- und Weiderechte auf der Wegwacht zu meinem Besitz gehören, so werden Sie sich vielleicht in manchen Fällen noch an das Klosterschlössel zu erinnern haben. Es soll mir lieb sein, Sie öfters bei mir zu sehen, und eine wahre Freude, Ihnen hilfreich beistehen zu können, wenn Schwierigkeiten bezüglich gewisser Rechtsfragen auftauchen sollten, was ich keineswegs für ausgeschlossen halte.«

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