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Wieder einmal im Herbst war Frau Therese nach einem arbeitsreichen Nedweditzer Sommer in die alte Wienerstadt zurückgekehrt.
Das Mairoldsche Geschäfts- und Wohnhaus lag in der Luftschützgasse, knapp an der Höhe des Spittelberges, wo das Straßengewirr der alten gewerbfleißigen Vorstädte St. Ulrich in Zaismannsbrunn und Schottenfeld anfing, die vor der Aufhebung der Grundobrigkeit beide unter dem Dominium der Benediktinerabtei zu den Schotten gestanden hatten. Die ganze Fabrik war früher in dem Hause selbst und in dem dazugehörigen Hinterhause untergebracht gewesen, das den Hof vom Garten trennte. Schwierige Verhältnisse, das fortwährende Steigen der Arbeitslöhne in der Residenz und die Notwendigkeit, wohlfeile Artikel einzuführen, die nur in Masse trugen, hatten Herrn Mairold ebenso wie manchen andern Schottenfelder Fabriksherrn veranlaßt, den alteingewurzelten Baum der Seidenweberei aus dem Boden, auf dem er gewachsen war, zu verpflanzen und den Hauptbetrieb in die Provinz hinaus zu verlegen.
Der Sitz der Oberleitung war nach wie vor im Wiener Stammhaus in der Luftschützgasse geblieben. Außer in Frau Mairold, die indessen, wie ihr Mann es getan hatte, die Sommermonate in Nedweditz zubrachte, bestand diese Oberleitung hauptsächlich aus dem Prokuristen Herrn Fanedl, dessen mit Milde gepaarte Strenge zwei Schreibstuben voll emsig knisternder Federn im Zaume hielt. An diese zu ebener Erde gelegenen Schreibstuben schlossen sich, gleichfalls im Vorderhaus, einige kleinere Kontors, der Versandtraum und die Warenlager. Das leer gewordene Hinterhaus war an verschiedene Mieter abgegeben worden, den Oberstock des Hauptgebäudes aber hatte Herr Bornschbögel, nachdem er sein eigenes Geschäft seinem Sohne Thom überlassen, für sich eingerichtet. Denn selbst den Hausherrn zu spielen, dazu fand er keine Zeit; solang es ihm vergönnt war, das Licht des Tages zu schauen, wollte er der Natur noch ein reiches Farbenspiel von Blumen ablisten und, wenn er einmal gezwungen sein würde, das Zeitliche zu segnen, seinen Kindern, Enkeln und vielleicht auch Urenkeln eine möglichst stattliche Sammlung von Federzeichnungen hinterlassen.
Frau Therese teilte während der Wintermonate in Wien ihre Zeit zwischen der Sorge um die Kinder und der Sorge ums Geschäft wie im Sommer in Nedweditz. So gingen die Jahre hin, sie entglitten ihr förmlich unter den Händen, immer bewegte ihr Leben sich im nämlichen Geleise, ein Leben der Tätigkeit, das seine Freuden und seine Kümmernisse hatte. Im regelmäßigen Wechsel von Stadt und Land vergaß sie schier, ihre sonnigen und ihre trüben Tage zu zählen, aber das Heranwachsen der Kinder war der Zeiger an der Uhr ihres Lebens, der sichtbarlich vorrückte.
Es ging gegen Ende der sechziger Jahre, sie saß in ihrem kleinen Kontor in der Luftschützgasse, das gegen den Hof sah, und lauschte dem Klappern der Webstühle. In dem niedrigen Trakte, der Vorder- und Hinterhaus miteinander verband, hatte ein kleiner Überrest von Fabrik sich erhalten, der für allerhand nahe Versuche verwendet wurde, oder der Ausführung von Bestellungen diente, welche heikleren Sonderwünschen entsprechen sollten. Es mochten darin für gewöhnlich kaum viel mehr als anderthalb Dutzend Stühle sich in Gang befinden, aber sie klapperten doch ganz ansehnlich, und Frau Therese freute sich der trauten Musik, die von Jugend auf ihre Begleiterin gewesen war.
Schon im Hause ihres Vaters hatte sie in ihre Kinderträume geklungen, über ihrer Liebe, ihrem jungen Eheglück, über ihrer Mutterschaft schwebte das uralte, ewig gleiche Lied der klappernden Webstühle. Seit dem Tode ihres Mannes war es fast zu einer schwermütigen Melodie geworden; und doch hätte sie diesen ehrlichen, anheimelnden Singsang der Arbeit nicht missen mögen. In Nedweditz rauschte er hundertstimmig, auch über dieser ganzen weiten Vorstadtgegend hatte er einst vielhundertstimmig gerauscht. Jetzt erstarb der Ton mehr und mehr, in den Jahren, die dem Kriege folgten, hatte eine Fabrik nach der andern zu klappern aufgehört, und in vielen Häusern war es still geworden. Es trug nicht nur die Verlegung der größeren Betriebe in ländliche Gegenden die Schuld daran, es waren auch andere und betrübende Ursachen, die in manchem Hause die Webstühle verstummen machten, wo sie hundert Jahre und länger geklungen hatten ...
In der Luftschützgasse sollten sie klingen, so lange Frau Therese lebte, so hatte sie es bei sich beschlossen. Es heimelte sie an, daß sie den eintönigen und doch so lieben Gesang, der ihr in allen Sorgen und Schwierigkeiten Trost und Mut zuzusprechen schien, auch in der Stadt nicht ganz entbehrte. Es war ja freilich bloß ein ganz kleiner Chor, der sich noch hielt, aber der eingeengte Raum zwischen Hinterhäusern und Feuermauern verstärkte das Lied, das von einer der ältesten und ehrwürdigsten Hantierungen sang, die je von kunstfertigen Menschenhänden geübt worden waren.
Herr Fanedl trat ein, um Geschäftliches mit ihr zu besprechen. Er war ein gewissenhafter und fleißiger Mann, sah ein wenig wie ein Kalb aus und besaß eine große Briefmarkensammlung. Sie gingen miteinander die eingelaufenen Aufträge durch, bestimmten die Weisungen, die nach Nedweditz weitergegeben werden sollten, lasen die neuesten Berichte, die Baudrillard gesendet hatte, und berieten die dadurch notwendig gewordenen Verhandlungen mit Seidenmaklern, Garnhändlern, Färbern, Appreteuren oder sonstigen Geschäftsfreunden.
»Wissen Sie schon das Neueste?« sagte Herr Fanedl schließlich. »Die Firma Hirnschal will sich auflösen, heißt es.«
Frau Therese blickte auf.
»Nicht möglich! Und warum denn?«
»Die Geschäftslage kann nicht schuld sein, die war seit langem nicht so glänzend und Wendelin Hirnschal und Sohn stehen ausgezeichnet.«
»Was fällt denen ein?« sagte Frau Therese. »So viel ich weiß, ist es ein uraltes Geschäft?«
»Es ist eine der ältesten Seidenfirmen am Platz. Schon der Urgroßvater des jetzigen Herrn hat in dem nämlichen Hause, im ›Erzengel Michael‹ in der Neustiftgasse zu fabrizieren angefangen ... Übrigens kann es uns nur recht sein. In Dünntuchen waren sie noch immer obenauf.«
»Mir ist so was gar nicht recht,« sagte Frau Therese. »Jeder Mensch muß Mitwerber haben, wenn er nicht einschlafen soll. Ich will nicht, daß meine Buben, wenn sie einmal das Geschäft übernehmen, es gar zu bequem haben. Und was soll aus dem Bürgerstand werden, wenn jeder, der es zu Vermögen gebracht hat, sein Handwerkszeug von sich wirft wie ein unlustiger Maurer, dem die Kelle aus der Hand fällt, sobald es Mittag schlägt? Das wär' ein Zeichen, daß die Leute bloß das Geld gern haben, nicht die Arbeit. Das wär' ein trauriges Zeichen, ein Zeichen, daß es bergab geht mit dem deutschen Bürgertum, das wir jetzt notwendiger brauchen als je.«
»Es sollte, mit Respekt,« sagte Herr Fanedl, »mancher Mensch sich ein Beispiel an manchem vernünftigen Tiere nehmen. Eine Ameise tät' sich sicher genieren, wenn sie sich, so lang sie noch jung ist, vom Geschäft zurückziehen wollt'.«
Frau Therese lachte.
»No ja,« sagte er eifrig, »der Herr Wendelin Hirnschal ist doch noch in den besten Jahren. Aber es fehlt ihm der Blick ins Weite. Ich denk' mir's öfters, wenn ich so meine Briefmarken anschaue, wie gut es für manchen wär', wenn er auch Briefmarken sammeln tät'. Da wundert man sich, wenn man auf einmal von Ländern hört, die es gar nicht gibt, oder von denen wenigstens kein Mensch etwas weiß, und bekommt erst einen Begriff davon, wie groß daß die Welt ist, und was für ein Gewurl darin herrscht, was für ein Verkehr, was für eine Betriebsamkeit. Ein Ameishaufen ist noch ein Pfründnerhaus dagegen! ... Aber der Herr Wendelin Hirnschal ist sich natürlich zu gut fürs Briefmarkensammeln, er hat mich immer bloß ausgelacht, wenn ich ihn ersuchte, an mich zu denken, falls ihm etwas Besonderes unterkäme.«
Frau Theresen war der Zusammenhang zwischen der Auflösung der Firma Hirnschal und Herrn Fanedls Briefmarkensammlung zwar nicht ganz so deutlich wie Herrn Fanedl selbst, aber sie meinte: »Privatisieren wird doch wohl der junge Hirnschal nicht jetzt schon wollen?«
Herr Fanedl zuckte die Achsel.
»Das Geschäft g'freut ihn halt nicht mehr, heißt es.«
Und Herr Wendelin Hirnschal war nicht der einzige, der seines Handwerks überdrüssig geworden war. In jenen Zeiten der großen inneren Umwälzungen und des flotten Aufschwungs von Leben und Treiben, die dem blutigen Bruderkriege folgten, gab es manchen unter den Schottenfelder Fabriksherrn, der dem langsamen und mühsamen Verdienen und der bürgerlichen Gebundenheit, die die Arbeit mit sich bringt, keinen Geschmack mehr abzugewinnen wußte.
O, was für ein Kraftgefühl gibt ein freies Leben, das sich nicht täglich aufs neue durchzusetzen braucht! Die Fanfaren des Sieges blasen, und die Mauern von sorgenden Gedanken, die sich rings um die Seele türmten, stürzen bereitwillig ein. Jetzt liegt die Welt offen, überall lacht die Freude, winkt der Genuß. Die Väter haben Macht aufgehäuft, in langjährigem Ringen, der Sohn und Enkel bedient sich der bequem ererbten Gewalt, erprobt die unerschöpflich scheinende nach allen Richtungen und verzichtet darauf, ein Mehrer des Reiches zu sein. Nichts widersteht seinem Willen. Die Zeit füllt sich mit buntem Spiel und eilt mit Siebenmeilenstiefeln, die Entfernungen legen sich bezwungen zu seinen Füßen, seine Gastmähler prunken mit seltenen Blumen und Gerichten und seine Wohnräume mit Schätzen für Aug' und Ohr. Alles ist käuflich, die Kunst, die Freundschaft, und die Liebe. Ihr blitzenden schwarzen Augen wollt widerstehen? Edle Steine, die noch feuriger blitzen und funkeln, werden Euch bezwingen! ... Jugendlust, Übermut und Leichtsinn – euch lohnt die Gegenwart so reichlich, daß ihr lachend die wucherischen Schuldscheine der Zukunft unterfertigt. Musik rauscht durch die Säle, tausendfältig glänzen die Lichter, von den Brettern der Bühnen klingen leichtfertige Melodien und süße Anzüglichkeiten. Ein Freudenrausch braust durch die ganze Stadt, ein Taumel der Lustbarkeit, es ist als ob man beständig Pfropfen knallen hört, jubelnde Böller, die die Erlösung aus der Enge festlich ankündigen. Die Bastionen und Wälle sind gefallen, auch die winkeligen Gassen sehnen sich nach Luft und Licht. Eine großartige, glänzende Stadt wird dieses verzopfte alte Wien sein, eine würdige Rivalin der verführerischen Metze Paris, jeder Kleinbürger wird in einem Palaste wohnen. Die Baukünstler schütteln die Stile nur so aus dem Ärmel, alle Länder, alle Jahrhunderte – und zwischen dem angelernten Kunterbunt der prunkenden Fassaden stolzieren die reizenden Wienerinnen wie trächtige Osterglocken in der ungeheuerlichen Krinoline, jede ein sehnsüchtiges Abbild des unerreichbaren Idols, der in Schönheit strahlenden Kaiserin Eugenie.
Die Verbissenen in Österreich, die Maulwürfe, die nicht weiter sehen als ihre an allen gesunden Wurzeln nagende Schnauze reicht, haben nichts gelernt und nichts vergessen. Daß die schwere Niederlage längst verwunden ist, die Geschäfte in ungeahnter Weise gedeihen und der Wohlstand von Jahr zu Jahr zunimmt, läßt sie auf Vergeltung hoffen, statt daß sie an Einkehr denken. Denn zu vollem Glänze hat erst unter dem Eindruck der preußischen Siege der wirbelnde Cancan des napoleonischen Kaisertums sich entfaltet, an dessen Spitze, die Geige in der einen, den Fiedelbogen in der andern Hand, bald den Takt schlagend, bald die Saiten streichend. Arm in Arm mit einem Jesuiten die hochgeschürzte Muse Jacques Offenbachs tänzelt ...
Bei Thom Bornschbögel ist Silvesterempfang. In den neuen prachtvoll ausgestatteten und mit kostbaren Bildern geschmückten Salons drängen sich die Gäste. Xaver Wegrad, den die Wogen des Glücks gewaltig emporgetragen haben, verkündet die neue Zeit.
»Hinweg mit den überlebten Vorurteilen! Wir haben an Ammenmärchen geglaubt, an einen Himmel voll zitherspielender Engel. Die moderne Wissenschaft sticht uns den Star, und es fällt wie Schuppen von unseren Augen. Genuß ist alles, denn wenn wir sterben, sind wir tot!«
Der gewaltige Xaver Wegrad hat sich über den von Frau Therese erhaltenen Korb längst getröstet und eine Dame von nicht ganz aufgeklärter Vergangenheit heimgeführt, deren eidottergelber Chignon mit der Geistinger und deren »Feschheit« mit der Gallmeyer wetteifert. Er ist vornehm geworden und fährt nur mehr im Unnummerierten, die klappernden Webstühle, denen seine Väter ihren Wohlstand dankten, hat er als Brennholz verkauft. Das Kapital arbeitet – überflüssig, auch noch mit der Weberschütze zu arbeiten! Die Kurse steigen und fallen, ein prickelndes Gefühl der Angst, das mancher Stunde romanhafte Spannung verleiht, erhöht nur das Lebensgefühl, wenn es sich schließlich in Triumph auflöst. Das Geld strömt zu, jeder hat seine schwachen Seiten, Xaver Wegrad will groß, stark und gewaltig sein – das ist seine schwache Seite. Er ist eigentlich zum Grand Seigneur geboren, nur durch Zufall in eine kleinliche Zeit hineingeraten, der noch die Biederkeit wie eine hemmende Eischale am Pürzel klebt. Er baut sich einen Palazzo auf der Ringstraße, die Empfangsräume täuschen die Einrichtungen jener venezianischen Nobili vor, denen der Große Rat und die Dogenwürde zugänglich war. Er baut eine Villa in Baden, am Eingang zum Helenental, Griechentum und Orient reichen einander die Hände am lieblichen Hang des Wiener Waldes, schwervergoldete Greifen, die auf dem Dache treue Wacht halten, flößen den Hypothekargläubigern ein Gefühl von Sicherheit ein.
»Wieviel zahlt Maklerbank Dividende? Fünfundzwanzig Prozent? Bagatelle! Im Bankverein müssen wir es bis auf siebzig oder achtzig bringen!«
»Red' mir nicht von Geschäften, Wegrad! Herrgott, die schöne Helena, hat die ein Bein! Prall und schlank, rund und fest – zum Küssen!«
Ein Aufkirren aus der Schar der jungen Leute.
Im Übermut beginnt eine Stimme zu deklamieren: »Sonst wird man nur vom Wein berauscht, er ist von einem Bein berauscht! Ein Mucker, wen der Schein berauscht! Greifbar muß sein, was uns berauscht! Von einem Bein, so prall und fein, wird selbst der Bruder Hein berauscht! Ach, wen ein solches Bein berauscht, ist trunkner als vom Wein berauscht!«
»Seit wann bist du unter die Dichter gegangen, Beywald?«
»Seine Alten haben dafür gesorgt, daß er sich ein brotloses Gewerbe leisten kann.«
Der elegante Felix Schönhof setzt sich ans Klavier und beginnt zu trällern: »Laus, Laus, Laus, der Gute, Laus, der Gute, Laus der Gute« ...
Der herzige Fredl Beywald mit dem rosigen Jungmädchengesicht neigt sich über ihn: »Du, schau, was die blonde Hirnschal für Augen macht. Die heißt auch Helene, wenn du vielleicht den Menelaus spielen willst.«
»Die anständigen Weiber gehören schon dir!«
»Anständig? Noch sehr die Frage!«
»Ich meine natürlich nicht anständig sein, sondern dafür gelten wollen.«
»Er hat recht, mit denen hat man nichts als Scherereien!«
»Einen Posten Anglo hätt' ich in Aussicht,« sagt Xaver Wegrad. »Magst du dich beteiligen, Bornschbögel?«
»Was brauch' ich zu spekulieren? Lächerlich!«
Der Geist der handwerklichen Überlieferung, der noch in ihm lebt, bäumt sich gegen ein solches Ansinnen. Er mißtraut allem bedruckten Papier, und wenn es mit den schönsten Wasserzeichen versehen wäre. Was er erwirbt, das will er greifen können, und nur was er erarbeitet, hat er erworben. Samt und Seide will er schauen, aber nicht an üppigen Frauenleibern – das ist Sache der Schneiderinnen oder der Courschneider. Samt und Seide will er schauen, wie es seinem Metier entspricht, hervorquillend unter den Weberrieten, oder fertig im Stück, aufgestapelt in den großen ahornen Schränken seines Magazins. Und in diesem Punkte befindet er sich in voller Übereinstimmung mit Therese Mairold, seiner Schwester, mit der er sich sonst nicht immer am besten steht.
»Zum Kuckuck, was brauch' ich spekulieren?« wiederholt er stolz. »Einen glänzenderen Geschäftsgang hat es nie gegeben als in diesen Jahren nach dem Preußenkrieg. Bis jetzt fühl' ich mich ganz wohl in meiner Haut!«
»Der Dualismus wird uns mit der Zeit das ganze ungarische Geschäft abknöpfen,« meint Herr Franz Beywald, einer von den älteren Herren, der Chef der altangesehenen Samt- und Plüschfirma Beywald in der Rittergasse.
»Keine Sorge! Zwei Köpfe hat der österreichische Adler immer gehabt!«
»Jetzt werden sie anfangen, ihre Schnäbel und Fänge gegeneinander zu gebrauchen. Und der ungarische Kopf ist im Vorteil, der weiß wenigstens, was für eine Sprache er redet. Der andere –«
»Der redet vorderhand zentralistisch,« warf Ludger Herrnfeld dazwischen.
»Wenn es nur aufgeklärte und liberale Köpfe sind,« sagte Thom. »Das bleibt für uns Geschäftsleute die Hauptsache!«
»Sind aufgeklärt! Sind liberal!« ließ Herr von Pinkenfeld, der behaglich ausruhend in einem Lehnstuhl lag, seine Orakelstimme vernehmen.
»Denken Sie an das Konkordat, dieses gedruckte Kanossa!« sagte Xaver Wegrad.
»Ein Loch haben sie schon hineingebeckt mit ihren Schnäbeln.«
»Wenigstens gewisse Fortschritte und Neuerungen sind Tatsache geworden, das läßt sich nicht leugnen,« bestätigte Thom Bornschbögel und schnappte mit dem Unterkiefer in die Luft wie ein Bullenbeißer, der eine Fliege hascht.
»Zum Beispiel die Abschaffung der Wuchergesetze,« sagte Herrnfeld.
»Wie meinen Sie?«
»Ich meine, daß eine liberale Regierung, wie das Bürgerministerium, auch wahrhaft freiheitliche Institutionen schaffen muß. Und wenn es einem nicht einmal freisteht, sich die Haut über die Ohren ziehn zu lassen – das wäre die reinste Reaktion!«
»Der große wirtschaftliche Aufschwung ist nicht aus der Welt zu schaffen,« orakelte die Pythia aus dem Lehnstuhl.
Ein ernster Mann in mittleren Jahren, der daneben stand und sich bisher schweigsam verhalten hatte, sagte langsam, jedes Wort gleichsam auf die Wagschale legend: »Das Gemeinwesen will sich verjüngen. Sache der Bürgerschaft ist es, dafür zu sorgen, daß sich die Fehler von achtundvierzig nicht wiederholen.«
»So ist es, auf uns Bürger kommt es jetzt an!« ereiferte sich Thom Bornschbögel. »Aber da sind viele, und auch du, Wegrad, gehörst dazu, die kommen mir vor wie die Langenkellei-Männer,Pfleglinge im Versorgungshaus. die die Hände in den Schoß legen und nichts mehr tun als in die Lotterie setzen, wenn ihnen gerade von einem Terno geträumt hat« ...
Frau Minka Bornschbögel, seine Gattin, die im Kreise der Damen auf dem Kanapee saß, hörte, daß er sich erhitzte, und rief herüber: »Du solltest nicht so viel sprechen, Thom, es strengt dich an! Den ganzen Tag hast du dich mit der Inventur geplagt, jetzt gönne dir Erholung und amüsiere dich!«
Gehorsam brach er das Gespräch ab, lachte und sagte nur noch: »Genieren tät' ich mich, unter die Spekulanten zu gehn!«
»No, no, no!« machte Herr Franz Beywald vom Kartentisch herüber, an den er sich mit einigen Freunden niedergelassen hatte.
Er war auch einer von jenen, die angefangen hatten, ihr Geschäft zu vernachlässigen, um Börsengewinne einzuheimsen. Man wußte es, obgleich er es zu verheimlichen trachtete. Er schämte sich ein wenig, daß er mit grauen Haaren den Grundsätzen seiner Väter untreu geworden war. Die Not hatte ihn verführt, jene hinter Glanz verborgene Not der Wohlhabenden, die über ihre Verhältnisse leben. Die Familie hatte ihn verführt. Seine Gattin Cajetana, eine geborene Leodolter, hatte ihm eine schier unübersehbare Schar von Kindern geschenkt, die alle im Wohlleben aufgewachsen waren. Sie sogen an ihm wie Blutegel. Er war ein schwacher Vater. Er liebte seine Kinder mit einer Art Affenliebe. Es waren eigentlich lauter nette, durchaus nicht mißratene Menschen, aber keine Verdiener, keine Arbeiter, bloß Zehrende, geschmackvolle Geldausgeber, und der Älteste, eben jener Fredl Beywald, der vom eleganten Felix Schönhof zum Leichtsinn verführt wird, sogar ein unverbesserlicher Schuldenmacher.
»Da meldet sich einer!« spottete Thom Bornschbögel zum Kartentisch hinüber.
»Mich geht's nichts an, ich habe mein Geschäft,« sagte Herr Franz Beywald, die geheimen Quellen verleugnend, aus denen er den übermäßigen Aufwand seiner Söhne bestritt. »Aber eine Schande ist es gerade auch nicht, wenn einer einmal das Glück beim Schopf erwischt.«
Er mischte die Karten und sah sich nicht mehr um. Thom Bornschbögel aber sagte schroff: »In meinen Augen ist Börsenspielen eine Schande.«
O gewaltiger Xaver Wegrad, wie wirst du die glänzenden Hiebe, Finten und Paraden verteidigen, mit denen du auf dem heißen Fechtboden der Börse deinen klingenden Ruhm erwirbst?
»Du scheinst zu glauben, lieber Freund,« sagte er, während er den Kopf hob und mit zugedrückten Augen die Flügel seines langen Bartes durch die Hände gleiten ließ; »du scheinst zu glauben, daß es sich bei den großen Geschäften um eine Tarockpartie handelt.«
Pinkenfeld, dessen Fabrik sich wie die Mairoldsche in Nedweditz befand, verzog den Mund zu einem mitleidigen Lächeln und sagte trocken und ohne sich zu rühren: »Es ist ein Unterschied zwischen Spekulieren und Spekulieren.«
Er gehörte zu den großen Aktienbesitzern und geschickten Machern des Zeitalters, aber sein Geschäft in der Dreilaufergasse löste er deswegen nicht auf. Es war ihm Herzenssache, er besaß etwas wie Pietät dafür, es hatte ihn groß gemacht. Und die Zeit lag nicht gar so ferne, da er die Verwirklichung seiner kühnsten Träume noch darin erblickt hatte, es zum Fabriksherrn auf dem Schottenfeld gebracht zu haben; auf demselben Schottenfeld, wo sein Urgroßvater als mühseliger und gedrückter Handelsmann mit dem Bünkel auf dem Rücken von Tür zu Tür gewandert war. Übrigens stellte das von ihm begründete Textilunternehmen, das ihn emporgetragen hatte, und dem er seinen Namen gab, keine nennenswerten Anforderungen mehr an seine Zeit und Arbeitskraft; ein Stab tüchtiger Mitarbeiter ermöglichte es, daß sein Rat und seine Erfahrung bei zahlreichen Bankgründungen und den verschiedensten Industrieunternehmungen nicht vergeblich gesucht und in Anspruch genommen wurde.
»Wenn wir Spieler wären und nicht Geschäftsleute,« sagte der gewaltige Xaver Wegrad, »so hättest du freilich recht, Thom, die Börse eine Institution für Lotterieschwestern zu nennen. Aber du redest wie der Blinde von der Farb' und hast keine Ahnung davon, um wieviel einfacher es ist, seine alten Webstühle ruhig weiterorgeln zu lassen, als die großen Entwicklungen des Wirtschaftslebens vorauszusehen und richtig zu kombinieren. Richtig zu kombinieren, sage ich; denn daß man es gut macht, darauf kommt natürlich alles an, schlecht machen kann's freilich ein jeder.«
»Verlieren ist keine Kunst,« bestätigte Pinkenfeld; »aber zum Gewinnen braucht man ein Talent. Was sag' ich ein Talent? Ein Genie braucht man!«
Der alte Herr Bornschbögel, der auch anwesend war und sich ehrbar steif hielt, weil er den großen Brillanten in der etwas altvaterischen schwarzen Atlasbinde trug, wollte es nicht gelten lassen, daß mehr dazu gehöre, Börsengewinn zu machen, als eine Fabrik zu leiten.
»Zum Arbeiten gehört auch Talent,« sagte er; »und außerdem muß man es noch verstehen. Gulden und Kreuzer zusammenrechnen kann ein jeder; mit dem Fadenzähler muß man erst umgehn lernen.«
Pinkenfeld nickte und war bereit, ihn recht behalten zu lassen. Er schätzte den alten Herrn als einen Meister in seinem Fache, er hatte Achtung vor jeder Art Meisterschaft; und dann, ob angeboren oder anerzogen, saß ihm tief im Blute jene schöne Ehrfurcht vor dem Alter, die seine Rasse auszeichnet.
Xaver Wegrad indessen, wie ein Abtrünniger seine Gründe gern verallgemeinert und das, wozu Neigung oder Zufall ihn geführt hat, als große Erkenntnisse darstellt, behauptete, die kleinbürgerliche Bastelei habe sich überlebt, gerade weil alles sich verjünge, müsse auch der Geschäftsmann modern denken und einsehen lernen, daß die Zukunft der Zusammenfassung des Kapitals gehöre.
»Der Liberalismus dringt durch,« sagte er, »der Ausgleich mit Ungarn hat uns ein Verfassungsleben und der Monarchie das langersehnte politische Gleichgewicht gebracht« ...
»Es ist mehr ein Ungleichgewicht,« spottete Herrnfeld.
»Das große Wirtschaftsleben,« fuhr Wegrad unbeirrt fort, »kennt keine Reichshälften, keine Reichsgrenzen, das Kapital keine Volkszugehörigkeit, es ist der Geist der Befruchtung, der über der Erde schwebt und freizügig wie die Wolke seinen Segen niedergehen läßt, wo die Vorbedingungen zu einer reichen Ernte gegeben sind. Wer Bauer bleiben will, mag es bleiben, ich fühle mich in meinem Element als Herr der Lüfte, ich lasse die Sonne scheinen, ich lasse es regnen, ich bin die Vorsehung für Hunderte und Tausende, für ganze Gegenden und Länder, weil ich den Geldmarkt beherrsche und nach meinem Ermessen beeinflusse. Das ist die geheimnisvolle Macht, die dem Kapital innewohnt. Wer die Größe eines solchen Wirkungskreises kennt, der findet sich nicht mehr darein, ein Rädchen im Uhrwerk zu sein, das mechanisch seinen Alltagsdienst abschnurrt.«
Derselbe ernste Mann, der vorhin vor den Fehlern von achtundvierzig gewarnt hatte, sagte jetzt: »Nur hübsch bei der Wirklichkeit geblieben, werter Freund! Ideologen sollen wir in unserm Herzen sein, im Wirtschaftsleben tut kaltes Blut not. Das Kapital arbeite, hört und liest man jetzt allenthalben. Aber aus Aktien und Verwaltungsräten allein entstehen noch keine Industrieerzeugnisse. Schließlich muß doch auch wer da sein, der es macht!«
»Den nenne ich eben den Bauer. Gefällt es Ihnen besser, so können wir ihn auch den Pflüger nennen, oder den Säemann, oder den Schnitter.«
»Nehmen Sie sich bloß in acht, daß Sie Ihren fruchtspendenden Segen nicht auf Sandsteppen niederträufen!«
»Halten Sie mich für schwachsichtig?« fragte Wegrad überlegen.
»Wenn Sie doch wolkenhoch wie eine Vorsehung über der eigentlichen Arbeit schweben!« sagte der andere lachend, wendete sich ab und trat zu einer anderen Gruppe.
Es war Leopold Leodolter, einer der angesehensten Fabriksherrn, der Chef der alten Seidenfirma am Platzel hinter St. Ulrich. Durch und durch tüchtig und ein Führender in seinem Beruf, suchte er den Fortschritt mehr in Verbesserungen des Maschinenwesens und in besonnener Ausgestaltung der Betriebsführung als in Kunststücken der Geldgebahrung.
»Ich hindere Sie nicht, nach Ihrer Fasson selig zu werden!« rief Wegrad ihm nach. Und wieder die Augen zudrückend wie der Hahn, der kräht, ließ er die Flügel seines Bartes durch die Finger gleiten und sagte zu denen, die zurückgeblieben waren: »Wer weben mag, soll weben – für meine Zeit und mein Kapital weiß ich mir bessere Verzinsung.«
Thom Bornschbögel war aufgebracht. Es kam rein so heraus, als ob ein Fabriksherr die Weberschemel noch selber träte, und als ob sein Gewerbe ein halb und halb brotloses wäre. Das wurmte ihn. Aber auch, daß über die ehrwürdige Hantierung, der er und fast alle, die anwesend waren, ihren Wohlstand oder Reichtum verdankten, so von oben herab gesprochen wurde, ging ihm wider den Strich.
»Also, dir kommt es schließlich bloß darauf an,« sagte er in die Luft schnappend, »wieviel die Kuh Milch gibt?«
»Aber ich bitt' Sie, Herr von Bornschbögel,« lachte Wendelin Hirnschal, der Jüngere, der wie Wegrad die veralteten Vorurteile über Bord geworfen und modern denken gelernt hatte; »wozu tut man denn überhaupt eine Kuh melken, als damit sie Milch gibt?«
Da fuhr aber der alte Großvater Bornschbögel gegen ihn los: »Ein solides Geschäft ist keine Melkkuh, Kreuz Laudon noch einmal. Man betreibt es, weil es einen g'freut, und weil ein tadelloses Stück Samt oder Faille oder Brokatell etwas Schönes ist, das die Menschen brauchen können. Wenn's Ihnen nur auf den Ertrag ankommt, da stellen Sie sich vielleicht auch auf den Kopf, wenn Ihnen jemand fünf Gulden für die Minute zahlt.«
»Um fünf Gulden die Minute stell' ich mich noch lang nicht auf den Kopf, aber das gesteh' ich ganz offen: aus Freud' am fabrizieren schind' ich mir nicht mühsam sechs oder acht Prozent heraus, wenn ich auf andere Art spielend zwanzig und dreißig machen kann. Mir ist das Geschäft das liebste, das am meisten abwirft.«
»Schauen Sie nur, daß es nicht Sie abwirft!« sagte der alte Bornschbögel.
Herr von Pinkenfeld schnellte mit einer Bewegung des kleinen Fingers den Zwicker von der Nase und sagte ein wenig verächtlich: »Es gibt auch auf der Börse Sonntagsreiter.«
Da lachten einige über den jungen Wendelin, der ohnedies ein bißchen komisch war mit seinen fast weißen Wimpern und Augenbrauen. Und er dauerte Frau Therese Mairold, die, während sie sich mit den Damen unterhielt, ein wenig hinübergehorcht hatte; in ihrer liebenswürdigen Art fühlte sie das Bedürfnis, dem Gespräch eine mildere Wendung zu geben. Darum drehte sie sich halb zurück und sagte lächelnd: »Stellen Sie sich nicht schlimmer als Sie sind, Herr Wendelin! Auf den Gewinn allein wird es Ihnen auch nicht ankommen, Sie wollen halt mehr ins Große arbeiten.«
»O, Sie ahnungsloser Engel!« seufzte Herrnfeld.
Sie wurde rot, verteidigte aber ihre Meinung.
»Gewinn ist doch schließlich nur Mittel zum Zweck. Es hat eben ein jeder in der Stille seine Ziele.«
»Ach bitte, liebe Therese,« rief Frau Minka Bornschbögel herüber, »sag' doch den Herrn, sie sollen sich nicht so ereifern und sich lieber ein wenig um uns Damen kümmern!«
Frau Mairold nickte ihr freundlich zu und wendete sich wieder nach den Herren um.
»Übrigens seien wir froh,« sagte sie, »daß wir überhaupt gedeihen – so oder so. Ich erinnere mich noch gut, wie damals, Anno sechsundsechzig, gar mancher davon überzeugt war, daß es jetzt aus sei mit Wien und mit Österreich überhaupt, und daß alles gesunde Leben und Treiben nach und nach versickern und ersticken würde.«
Bereitwillig und dankbar ergriff Wendelin die hingeworfene Rettungsleine.
»In allen Zeitungen stand es damals zu lesen, Österreich müsse aufhören, eine Großmacht zu sein, Wien würde zu einer Provinzstadt herabsinken und das österreichische Deutschtum von den Slawen aufgefressen werden.«
Alle lachten, und Pinkenfeld meinte, während er behaglich seine rabenschwarzen Bartkoteletten streichelte: »Was kauf' ich mir für den Deutschen Bund? Wozu brauch' ich einen Deutschen Bund? Gestohlen kann er mir werden! Bin ich nicht ein Deutscher a so und a so? No also!«
»Ansehn tut man's Ihnen nicht,« sagte Herrnfeld; »aber der Herr, der in die Herzen schaut, wird es wissen.«
»Die Hauptsache bleibt, daß einer ein überzeugter Liberaler ist!« entschied Thom Bornschbögel. Und sich an Leopold Leodolter wendend, der wieder herzugetreten war, fragte er: »Meinen Sie nicht auch?«
Der zuckte die Achsel und näherte sich Frau Theresen. Offenbar hatte er keine Lust, sich mit Thom in ein politisches Gespräch einzulassen.
»Wie leben Sie, gnädige Frau?« fragte er. »Ich sehe Sie leider so selten.«
»O – ziemlich zurückgezogen; wie es eben geht, wenn man zu tun hat. Im Sommer in Nedweditz, im Winter in Wien. Die Kinder geben auch manches zu denken und zu sorgen.«
»Es hat eben ein jeder in der Stille seine Ziele, sagten Sie vorhin.«
»Ja, so ist es.«
»Und das Ziel, das Ihnen vorschwebt, ist die Erziehung Ihrer Kinder?«
»Je mehr sie heranwachsen, um so mehr geben sie einem zu raten. Ich fange schon an, es zu begreifen: kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen.«
Sie hatte sich erhoben und war mit dem ernsten, Vertrauen einflößenden Manne in eine Nische des Fensters getreten. Eine Straßenlaterne blinkte durch die gefrorenen Scheiben und ließ die Nadeln und Kristalle der Eisblumen wie Demanten glitzern.
»Ich höre immer nur Gutes von Ihrer munteren Schar,« sagte Leopold Leodolter lächelnd.
»Mißraten sind sie nicht, gottlob. Ich meine bloß die verschiedenen schwierigen Fragen, die an einen herantreten ... Wer kann wissen,« sagte sie, ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe lehnend, »ob es ein verklärtes Wiedersehen gibt? Aber ich denke immer daran, als ob ich dem Verstorbenen einmal würde Rechenschaft geben dürfen.«
Sie seufzte, und dann, von einem großen Zutrauen zu dem trefflichen Manne bestimmt, den sie eigentlich nur wenig kannte, sagte sie noch: »Ich bange mich oft um meine Kinder; sie wachsen in eine Zukunft hinein, in der die Menschen es nicht leicht haben werden.«
»Sie meinen in bezug auf ihr Fortkommen?«
»Nein! In bezug auf ihr inneres Leben, meine ich. Es ist eine so wilde Zeit, rein als ob alles feinere Empfinden aus der Welt verschwunden wäre. Ein Götzendienst des Geldes. Ein wahres Dürsten nach Genuß« ...
»O, wie recht haben Sie!« sagte er lebhaft. »Der Scheinliberalismus von heute, der in Wahrheit nichts anderes ist als die Parteiherrschaft weniger über viele, schießt hundertfältig übers Ziel. In seiner dogmatischen Vernunftanbetung hält er schließlich alles für Humbug, was der kahle Verstand nicht ausrechnen kann.«
»Ich verstehe die Zusammenhänge nicht,« sagte Frau Therese, »aber es kommt mir oft vor, als ob die Menschen auf einmal ganz entsetzlich gescheit geworden wären. Es gibt keine Rätsel mehr, das Gehirn denkt und das Herz fühlt, so wie der Magen verdaut. Eine Seele hat noch kein Anatom gefunden, folglich ist keine da. Jeder Volksschullehrer lächelt heute über die größten Denker aller Zeiten. Durch die niederen wie durch die höheren Schulen klingt ein Ton der Überlegenheit und des Spottes, den man den Kindern als moderne Errungenschaft einimpfen will. Muß das nicht alles zu einer gewissen Verarmung führen?«
»Ich habe mir, aufrichtig gesagt, ähnliche Gedanken gemacht. Ich denke oft nach über meine Kinder und frage mich, was Eltern tun können, sie gegen den verflachenden Zeitgeist zu feien, der heute für höchste Weisheit gilt. Die kirchliche Autorität stärken? Ich gebe nicht viel auf Erlösung durch Autoritäten. Die wahre Kraft muß von innen kommen.«
»Ich bin nicht gelehrt genug, es zu entscheiden,« sagte Frau Therese, »ich muß mich ganz auf mein Gefühl verlassen. Und so bemühe ich mich halt, auf meine Kinder einzuwirken, daß sie die Welt nicht bloß mit dem Verstande sehen, sondern auch mit dem Herzen. Einen anderen Rat weiß ich mir nicht.«
Herr Leodolter dachte nach.
»Was Sie da sagen, enthält vielleicht den Urgrund alles religiösen Empfindens. Jedenfalls halte ich es für wichtig, wenn der Mensch früh begreifen lernt, daß das Leben nicht bloß Genuß verheißt, sondern auch Liebe von uns fordert. Denn das ist die erste Vorbedingung des Glücks: daß wir mehr ans Geben denken als ans Nehmen. Meinen Sie nicht auch?«
»Gewiß! Das ist die erste Vorbedingung des Glücks! Und wem es gelingt, wahrhaft glückliche Menschen zu erziehen, der hat wohl auch gute und tüchtige Menschen erzogen.«
Er reichte ihr die Hand.
»Wir verstehen einander, gnädige Frau. Denn was ist Gott anderes, wenn er in uns wirksam wird, als Glück im höchsten Sinne: Freudigkeit des Herzens, Zuversicht, innere Kraft und das Gefühl der Gnade!«
»Ähnliches habe ich schon oft empfunden,« sagte Frau Therese; »aber es nicht mit Worten aussprechen können.«
Die Hausfrau lud zum Mahle. Das neue Jahr wurde mit knallenden Pfropfen und ausgelassenen Tischreden begrüßt. Es war das Jahr, in dem der Kanonendonner der französischen Schlachtfelder die ganze Welt erzittern machen sollte. Aber die fröhliche Tafelrunde ahnte nichts von den umwälzenden Ereignissen, die noch im Schoß der Zeit schlummerten. Die fesche Frau Wegrad trank sich ein Schwipschen und sang Couplets, die jugendliche Frau Hirnschal, die auch ein kleines, niedliches Spitzchen hatte, tanzte dazu, daß ihre Krinoline wippte wie ein Schiff auf hoher See, und die stattliche Frau von Pinkenfeld, die stets dafür zu sorgen wußte, daß der Geist nicht zu kurz kam, ergriff voll des süßen Weines das Wort und brachte ein dreifaches Hoch aus auf das verjüngte, befreite, aufgeklärte Österreich, das bald keine konfessionellen und sozialen Schranken mehr kennen und wie ein Erzengel Michael mit dem Flammenschwert des wirtschaftlichen Aufschwungs die Mächte der Finsternis in den Abgrund stürzen werde.
»Hoch! Hoch! Hoch!«
»Das Flammenschwert des wirtschaftlichen Aufschwunges ist gut!« sagte Ludger Herrnfeld. »Schenken Sie mir die brillante Metapher, gnädige Frau, einer meiner Freunde, ein Leitartikler, der seine Lenden erschöpft hat, wird Ihnen ewig dankbar dafür sein!«
»Ich schenke Ihnen den Geistesblitz!« sagte Frau von Pinkenfeld geschmeichelt. »Es wird mich freuen, wenn sie mir Ihren Freund einmal zuführen.«
Sie hatte den Ehrgeiz, der Mittelpunkt eines Kreises von Männern der Wissenschaft, Literatur und Kunst zu werden und einen »Salon« zu begründen, von dem man sprechen sollte wie von den berühmten Pariser Salons im achtzehnten Jahrhundert.
»Warum soll in Wien ein Salon nicht möglich sein?« pflegte sie zu sagen. »Fehlt es an Geist? Fehlt es an schönen Frauen? Man muß es nur in die Hand nehmen!«
Aber die Sache ging flau und spießig, die Zeit, die geselligen Gewohnheiten oder andere Umstände waren dem Unternehmen nicht günstig, und der »Salon« der Frau von Pinkenfeld blieb eine der wenigen Gründungen, die nicht recht gedeihen wollten.
Im Wagen, beim Nachhausefahren, ergriff Frau Else Leodolter, die Goldhaargekrönte, die Hand ihres Gatten: »Auf ein gesegnetes neues Jahr!«
»Wir wollen es hoffen. Übrigens ist Mitternacht längst vorüber!«
»Mir wird es erst jetzt bewußt, wo ich mit dir allein bin, daß wir an einer Zeitwende stehen.«
»In Zukunft,« sagte er, »wollen wir das neue Jahr, wenn es dir recht ist, lieber zu Hause, im Kreise der Unseren erwarten.«
Sie schwieg und drückte ihm nur dankbar die Hand.
Als der Wagen um die alte Kirche St. Ulrich gegen das Leodoltersche Familienhaus einbog, sagte sie noch: »Die neue Zeit legt Bresche ins vornehme Patriziertum von einst – findest du nicht?«
»Es ist eine gefährliche Zeit,« sagte er. »Aber was sich bewährt und die Feuerprobe besteht, ist vielleicht um so sicherer – Gold.«
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