Emil Ertl
Auf der Wegwacht
Emil Ertl

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Doll stand im letzten Semester seiner Hochschulstudien, als er sich einmal von Kollegen dazu bereden ließ, einen großen Studentenkommers zu besuchen, der im Sophiensaal stattfand. Auf dem Wege dahin griff er sich zufällig mit der Hand an den Hemdkragen und bemerkte, daß er ohne Halsbinde war. Er hatte Kragen und Binde, da er den ganzen Nachmittag über das Reißbrett gebeugt gezeichnet hatte, abgelegt und beim Fortgehen vergessen, die Krawatte wieder umzunehmen. Es ging gegen sieben Uhr, wo die Geschäfte zu sperren pflegen, zum Glück fand er gerade noch eines offen, trat ein und verlangte eine Halsbinde.

Der Geschäftsinhaber legte ihm eine Auswahl vor, es waren aber lauter bunte und geschmacklos grelle Muster, weshalb er um eine dunkle ersuchte.

»Geben Sie die dunklen herunter!« sagte der Geschäftsinhaber zu einem ältlichen Manne, der wie ein Gehilfe oder Handlanger daneben stand.

Der Mann stieg auf die Leiter und langte einen ganzen Arm voll Schachteln herunter. Der Geschäftsinhaber öffnete eine nach der andern, sie enthielten aber nur schwarze Binden. Das war nun Doll wieder zu feierlich.

Der Geschäftsinhaber, ungeduldig, vielleicht weil er seinen Laden schon schließen wollte, herrschte seinen Gehilfen an und befahl ihm dunkelblaue oder braune herunterzugeben. Und als der jetzt gar weiße oder doch ganz hellfarbige zum Vorschein brachte, geriet jener in Wut, jagte ihn von einer Leiter auf die andere und sparte nicht mit harten und unfreundlichen Worten.

Doll tat der Mann, der ermüdet und abgehetzt schien, schließlich so leid, daß er rasch die nächstbeste Binde wählte, sie bezahlte und sich entfernte. Erst als er die Glastür hinter sich zuzog, faßte er den angeältelten Gehilfen, der jetzt wie gebrochen am Ladentisch stand und ihm nachblickte, schärfer ins Auge. Und er erkannte, daß es Xaver Wegrad war. Durch Abschneiden seines langen Bartes hatte er sich fast unkenntlich gemacht.

Von Mitleid übermannt, wartete Doll auf der Straße, bis der Laden geschlossen wurde und der Gehilfe, der in seiner Gegenwart und sogar seinethalben eine so harte Behandlung erfahren hatte, heraustrat. Er ging auf ihn zu und bot ihm die Hand.

»Ihr Chef scheint ein etwas ungeduldiger Herr,« sagte er freundlich. »Entschuldigen Sie, daß ich ganz unabsichtlich den Anlaß dazu gab, ihn gegen Sie aufzubringen.«

»Sie können ja nichts dafür,« sagte Xaver Wegrad. »Aber etwas anderes werde ich Ihnen nie verzeihen: daß Sie mich damals aus dem Wasser zogen! Wer hat Sie geheißen, sich in meine Privatangelegenheiten zu mischen?«

»Die Menschlichkeit,« sagte Doll.

»Es wäre menschlicher gewesen, wenn Sie mich den Donaufischen vergönnt hätten!«

Hierauf war schwer etwas zu erwidern. Doll bemühte sich, darauf hinzuweisen, daß es schon manchem gelungen sei, sich wieder emporzuarbeiten.

»Die Juden sind an allem schuld!« sagte Xaver Wegrad; »und die lassen auch keinen hinauf, der nicht wieder ein Jude ist.«

Er erzählte Beispiele, wie die Juden einander helfen, und wie sie die Christen ruinieren, wo sie können. Ihr Einfluß beherrschte nicht nur das Geschäftsleben, auch die Politik, die Wissenschaft, sogar die Kunst. Jeder, der es auf irgendeinem Gebiet zu etwas gebracht hatte, war ein Jude. Selbstverständlich! Das wußte Doll nicht?

»Na, Sie sind auch ein Waisenknabe!«

»Richard Wagner zum Beispiel?«

»Ein Judenstämmling!«

»Exzellenz Marr?«

»Hieß ursprünglich Marcus.«

»Und Makart?«

»Schauen Sie seinen kohlschwarzen Bart an! Sieht so ein Germane aus?«

Sie kamen an einem Kaffeehaus vorüber.

»Wollen Sie nicht ein Schnapserl trinken?« fragte Xaver Wegrad.

Aus Mitleid trat Doll mit ihm ein. Sie setzten sich in eine Ecke, und Xaver Wegrad fuhr fort, ihm zu erklären, wie die Welt in Wahrheit aussehe, und wie alles darin falscher Schein sei, Schwindel, Humbug, Betrug, Gaunerei und Abgefeimtheit. Dabei stürzte er ein Gläschen Kognak nach dem andern hinunter.

Als es zum Zahlen kam, suchte er alle Taschen ab und bemerkte, daß er seine Börse zu Hause hatte liegen lassen.

»Darf ich Ihnen aushelfen?« fragte Doll und legte eine Fünfguldennote auf das Marmortischchen.

Er steckte sie ohne viel Federlesens in die Westentasche und meinte: »Lassen Sie sich nicht aufhalten, ich will lieber noch ein bißchen dableiben, um ein paar Zeitungen zu lesen.«

Bekümmert ging Doll durch die dunklen, nassen Straßen, in die ein fast undurchdringlicher Spätherbstnebel sich niedersenkte, daß jede Laterne ihren Hof hatte wie der Mond, wenn er trüb und traurig ist.

O du bedauernswerter Xaver Wegrad! Ist dir mit deinem langen Bart wie Simson, da er den Schmuck seines Haars verlor, die geheimnisvolle Kraft abhanden gekommen, die dich einst zum gewaltigen Xaver Wegrad machte?

Der Sophiensaal war mit jungen Leuten angefüllt, Studenten von allen Hochschulen. Ganz vorne unter der Rednertribüne saßen die Ehrengäste und gleich dahinter die Couleurs in gelben, roten und blauen Kappen. Ein stiernackiger Abgeordneter, derselbe, den Doll vor Jahren auf dem Balle bei Pinkenfelds mit dem alten Marr hatte zusammenwachsen sehen, stand auf der Estrade und predigte den Anschluß Österreichs an Deutschland, vielleicht auch noch ein bißchen mehr.

An einem der Tische erblickte Doll seinen ehemaligen Freund Leo von Pinkenfeld, und da noch ein Stuhl frei war, setzte er sich zu ihm.

»Wo sind Sie hingeraten?« fragte er. »Ich sah Sie so lange nicht, daß ich meinte, Sie wären gar nicht in Wien.«

»Ich bin an die Kunstakademie übergetreten, wissen Sie das nicht?«

Doll hatte gehört, daß auch Herr von Pinkenfeld schwere Verluste erlitten haben sollte. Er war auf seiner Hut, um ja keine unpassenden Fragen zu stellen.

»Sind Sie Maler geworden?«

»Bildhauer.«

»Die glänzenden Siege des deutschen Volkes,« schrie der Stiernackige von der Tribüne, »haben wie mit einem Schlage die Konstellation der ganzen Welt verändert« ...

»Prosit Bismarck!« riefen die Studenten.

»Und Sie studieren an der hiesigen Akademie?« fragte Doll.

»Eigentlich bin ich schon fertig. In wenigen Tagen reise ich nach Rom ab. Man hat eine dürftige Anfängerarbeit, die kaum über dem Durchschnitt steht, für würdig erachtet, mit dem Rompreis ausgezeichnet zu werden. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß dies etwas Besonderes ist. Es hat mehr den Charakter eines Stipendiums,« sagte er, während er den Kopf und den Oberkörper schwermütig neigte, als schämte er sich, daß er den Rompreis erhalten hatte.

»Denn wir sind Deutsche und bleiben Deutsche!«... schrie der Stiernackige von der Tribüne.

»Prosit!« riefen die Studenten.

»Wie sind Sie eigentlich zur Kunst gekommen?« fragte Doll.

»Ich weiß es selbst nicht,« sagte Leo. »Vielleicht ein bißchen Geschicklichkeit in den Fingerspitzen ... Aber das ist es doch nicht allein. Was soll man machen, wenn man sich sehnt? Religion? Geht nicht. Wissenschaft? Es wird einem nicht warm dabei ... Man braucht doch eine Art Boden, wissen Sie, auf dem man Fuß fassen könnte. Wo man gewissermaßen sich selbst fände« ...

»Denn unser allverehrter Kaiser Wilhelm ...« schrie der Stiernackige von der Tribüne ...

Ein ungeheures Prositrufen, Strampeln und Händeklatschen brauste durch den Saal. Der Regierungsvertreter, der neben dem Redner saß, erhob sich und erklärte den Kommers für aufgelöst. Nun ging erst recht das Toben los. Die Wacht am Rhein wurde gesungen.

»Wollen wir gehen?« fragte Doll.

»Es war ein kurzes Vergnügen,« sagte Leo von Pinkenfeld mit seinem müden Lächeln. »Aber eigentlich bin ich froh, aus dem Qualm herauszukommen.«

Auf der Straße fragte er Doll: »Kommen Sie öfter in solche Versammlungen?«

»Und Sie?«

»Gott, ich glaube, es ist das erstemal. Es waren ein paar Kollegen, die mich fast zwangen.«

»So befinden wir uns in der gleichen Lage,« sagte Doll. »Mir kommt nichts öder vor als das leere Gerede. Aber unsere Regierungen seit hundert Jahren sind selbst schuld daran. Es ist noch immer der kindische Geist, die Unreife von Achtundvierzig – auf der einen Seite und auf der andern auch.«

Sie trennten sich bald. Zum Abschied wünschte ihm Doll Glück für Rom.

»Und wie geht es Ihren Schwestern?« fragte er noch.

»Sie haben sich gut hineingefunden,« sagte Leo, womit er wohl auf die durch den Vermögensverlust geänderten Verhältnisse anspielen wollte ... »Sie wissen doch, daß die Verlobung Nattis mit dem Freiherrn von Gall-Rastenburg zurückgegangen ist?«

Doll zögerte. Sollte er sein Bedauern oder seinen Glückwunsch aussprechen?

»Empfehlen Sie mich bestens den Damen!« sagte er.

»Ich glaube, Natti würde sich freuen, Sie zu sehen – und Siddi natürlich auch. Wollen Sie sie nicht einmal aufsuchen, während ich in Rom bin?«

»Gern!« sagte Doll ohne die ernste Absicht, der Einladung zu folgen.

Er kam jetzt öfter in die Wohnung Direktor Haarhammers, bei dessen Kindern Lois Birenz Hauslehrer war. Der Lois wohnte seit einiger Zeit auch bei der Familie.

»Ich könnt' es in keiner andern Familie aushalten,« sagte er offen. »Weißt du, diese bürgerliche Atmosphäre geht mir auf die Nerven.«

»Was ist dir daran zuwider?« fragte Doll.

»Ich weiß es selbst nicht recht. Vielleicht, daß immer das Bemühen herrscht, jede Unannehmlichkeit zu vermeiden. Als ob man das könnte? Da war ich zum Beispiel in einer Fabrikantensfamilie Instruktor, und die Petroleumlampe raucht, während wir über den Büchern sitzen. Kommt nicht die Mama hereingestürzt und jammert, daß ihr das ganze Zimmer voll Ruß wird?«

»Und Haarhammer freut sich darüber, wenn die Petroleumlampe raucht?« fragte Doll lachend.

»Freilich freut er sich!« behauptete der Lois. »Neulich stank der Ofen pestilenzialisch, und als seine Gattin darüber klagte, da lachte er wie ein Bombardon und sagte: Ein Ofen muß halt manchmal stinken, man kann auf der Welt nicht immer geruchlose Öfen haben! Und als unlängst einer seiner Buben durchflog, lachte er wieder wie ein Bombardon und sagte: Es kann doch auf der Welt nicht jeder Mensch ein Gelehrter werden! Und er steckte den Burschen in die Handlung, wo er sich recht gut macht, denn fürs Praktische hat er Sinn.«

»So einfach ist alles bei dem,« schloß Lois. »Ganz einfach und natürlich. Es muß doch auch wirklich nicht ein jeder Bub studieren, wenn er kein Talent dazu hat. Aber was plagen sie in anderen Häusern sich und ihre Kinder, bis einer so weit ist, daß er endlich Rechtspraktikant ohne Adjutum werden kann! Das ist diese bürgerliche Weichlichkeit, daß ihre Buberln nur ja etwas ›Besseres‹ werden!«

Die Neigung war übrigens gegenseitig. Wie der Lois den Haarhammer verstand, so verstand der Haarhammer den Lois. Nur daß Lois am Sonntag die Buben nicht in die Messe begleiten wollte, war ihm nicht recht. Aber er beeinflußte ihn nicht weiter in dieser Hinsicht und meinte, als sie einmal über religiöse Dinge gesprochen hatten: »Wenn Sie die Thora verehren würden, so hätt' ich nichts dagegen. Aber gar nichts ist ein bissel wenig.«

»Ich kann's doch nicht erzwingen, wenn ich es nicht in mir hab',« sagte der Lois.

»Ja, das ist wahr,« sagte darauf Haarhammer, diesmal sehr ernst. »Machen Sie sich nichts daraus, unser Herrgott wird schon wissen, was er mit Ihnen vor hat.«

»Ich mache mir ohnedies nichts daraus,« gab der Lois beleidigt zurück; denn er war sehr schnell beleidigt und ärgerte sich darüber, daß irgend jemand sich herausnehmen könnte, etwas mit ihm vorzuhaben, und wäre es auch Haarhammers Herrgott.

Einmal, als Doll mit Lois Birenz auf dessen Stube plauderte, kam Haarhammer herein, um sich bei Lois über irgendeinen lateinischen Ausdruck Rats zu erholen, weil er mit lateinischen Ausdrücken nie zurecht kam. Er redete bei der Gelegenheit mit Doll und verwickelte sich mit ihm in ein Gespräch über eine technische Frage.

»Wenn Sie herüberkommen wollen,« sagte er schließlich, »so kann ich Ihnen das auf dem Reißbrett besser erklären als mit Worten.«

Er führte ihn in seine Privatkanzlei und an den Zeichentisch, wo Bauzeichner, die er beschäftigte, an Plänen für eine Flußregulierung arbeiteten. Doll fand sich schnell zurecht, und es stellte sich heraus, daß er in der Meinungsverschiedenheit, die über jene technische Frage zwischen ihnen entstanden war, sogar recht hatte.

Darüber schien Haarhammer sich zu freuen.

»Jetzt hätt' ich bald einen Pluzer gemacht,« sagte er vergnügt. »Es ist gut, daß ich Sie getroffen hab'. Na, ein Unglück wär' es auch nicht gewesen, es muß auch Plüzer geben auf der Welt.«

Und er lachte, daß es nur so schmetterte.

»Wenn Sie Ihr Ingenieurdiplom im Sack und nichts anderes vorhaben,« sagte er noch, als Doll sich verabschiedete, »so lassen Sie sich bei mir anschauen!«

Doll freute sich darüber. Die Aussicht, sich unter Haarhammers Leitung in den praktischen Beruf einführen zu lassen, war ihm lockend.

Seine letzten Prüfungen fielen gerade in die heißeste Zeit. Um sich einige Bewegung zu machen, ging er manchmal des Abends in den Belvederegarten hinüber und saß studierend zwischen den beschnittenen Buchenhecken und steinernen Sphinxen auf einer Bank. Er liebte diesen Garten aus der Zeit, da er in der Artilleriekaserne am Rennweg sein Militärjahr abgedient hatte.

Als er einmal von seinem Buch aufblickte, sah er ein schlankes Mädchen die Stufen einer jener Terrassen niedersteigen, in denen der Schloßgarten gegen den Rennweg abfällt. Und sein jugendfrohes Herz hüpfte vor Freude, denn es war die goldhaargekrönte Bethy Leodolter.

Er ging auf sie zu und begrüßte sie. Sie kam aus der Kunstsammlung, die damals noch im Belvedere untergebracht war.

»Ich habe mir ein paar alte Bilder angesehen,« sagte sie; »aber dieses ist eigentlich noch schöner.«

Und sie zeigte über die Stadt hin, die man von hier aus wie in Gärten eingebettet im Abendscheine liegen sah, denn sie standen auf einer der hochgelegenen Terrassen.

»Mir ist auch das wirkliche Grün lieber als das gemalte,« sagte Doll.

Und weil sie so frisch und jung und schön vor ihm stand, lächelte er und sagte noch: »Und auch die wirklichen Menschen sind mir lieber als die gemalten.«

»Es kommt ganz darauf an,« sagte sie lachend ... »Mir scheint, Sie müssen fleißig sein?«

»Jetzt komm' ich bald ins wirkliche Leben hinein,« sagte er. »Darauf freu' ich mich.«

»Ja, das stell' ich mir auch schön vor,« sagte sie, »wenn man auf einmal seinen Wirkungskreis hat.«

Er reckte seine Arme.

»Ich spüre so etwas in mir wie: Anpacken! Zugreifen!«

Sie lachte und gab ihm die Hand.

»Jetzt muß ich aber laufen,« sagte sie. »Die Mutter hatte am Rennweg zu tun, ich soll sie unten wieder treffen und darf sie nicht warten lassen.«

Ein Druck der Hände und ein Versenken von Blick in Blick. Da schritt sie hin.

War es nicht genug? O was für einfache und alltägliche Worte, die sie miteinander gesprochen hatten! Aber war es nicht genug? Hätten sie geistreich reden sollen? Oder empfindsam? Vielleicht hatten sie zu wenig Geist in sich und zu wenig Empfindsamkeit. Darum überließen sie es anderen, anders zu reden und sprachen miteinander, wie es für sie paßte.

War es nicht genug?

An diesem Abend, eh' er zu Bett ging, kramte Doll in alten Schachteln und fand richtig das Kleinod, das er gesucht hatte. Es war eine talergroße Rosette aus hellblauem Tüll, die mit kleinen Sternen aus Rauschgold übersät war. In der Mitte dieses niedlichen Sternenhimmels aber klebte ein fröhlicher kleiner Liebesgott aus Papier.

Er betrachtete das gutgemeinte Kunstwerk eine kleine Weile, lächelte und legte es dann wieder in die Schachtel zurück, in der es früher gelegen hatte ...

Als Leo von Pinkenfeld ein Jahr später aus Rom zurückkehrte, fragte er seine Schwester Natti bei Gelegenheit: »Hat sich Doll Mairold einmal bei euch sehen lassen?«

»Doll Mairold?« sagte sie. »Ach nein, der hat uns längst vergessen« ...

Nach einer Weile sagte sie noch: »Ich habe ja auch die ganze Zeit nicht mehr an ihn gedacht. Es sind fünf oder sechs Jahre her, seit jenem Ballabend. Ich hab' ihn nicht wiedergesehen – ein paarmal auf der Straße, das war alles.«

»Halte still!« rief er, mit seinem Künstlerauge ihre Umrisse verschlingend. »In dieser Stellung möcht' ich dich festhalten! Wenn du mir ein paarmal sitzen wolltest?«

»Hast du eine Arbeit vor?« fragte sie, während sie gehorsam in ihrer Stellung verharrte und nur das Auge nach ihm zu wenden wagte.

»Es schwebt mir immer etwas vor, das ich nicht ausdrücken kann,« sagte er. »Etwas wie Sehnsucht ... aber die Sprache erschöpft es nicht, die Linie müßte es verkünden. Wie du vorhin den Oberkörper neigtest – das war wie eine Offenbarung. Jetzt ist es wieder erstarrt.«

»Ich will dir gerne sitzen,« sagte sie, »ich wäre so froh, wenn du ein großer Künstler würdest.«

»Ja, sitze mir, ich bitte dich darum! Und so oft die Seele aus der Linie flieht, will ich dir von Doll Mairold sprechen!«

»O wie grausam seid ihr Künstler!«

»Was willst du? Sind wir nicht gewohnt, uns selbst ans Kreuz zu schlagen?«

Die ersten Arbeiten Leos, die in die Ausstellungen kamen, erregten die Aufmerksamkeit der Kenner. Er drang nicht durch wie ein geborener Sieger, aber trotz des Großbetriebes, in den die Kunst nunmehr eingelenkt hatte, und trotz des gewaltigen Lärmes, der immer um sie herum war, gelang es ihm doch innerhalb der nächsten Jahre, eine gewisse Beachtung zu finden, wenn auch mehr im stillen. Und Natti half ihm dabei, es gab Zeiten, wo sie ganz darin aufging, seine Beraterin zu sein, wo sie sich opferte und das Leid, das in ihr schlummerte, immer wieder aufweckte, weil er das schwermütige Gleiten der Linie daraus zog, das er wie ein Dürstender suchte.

Und es waren doch nicht die bittersten Jahre ihres Lebens, vielleicht waren es sogar die süßesten.

Damals fühlte sie sich glücklich. Da kam, was die Menschen das Glück nennen, wieder über das Haus Pinkenfeld und goß auch über ihr Leben sein Füllhorn von Unruhe, Zweifeln und ins Leere strebenden Wünschen aus. Warum ist dem blühenden Leibe, dem Fluß der Falten jetzt plötzlich die Seele entflohen? Ist es nicht mehr derselbe schön geformte Busen, derselbe schlanke Hals, dasselbe Gewand, das sie immer trug? Wie kommt es, daß sie auf einmal nicht mehr sie selbst ist, nur ein Gefäß für hundert wirre Gedanken der Eitelkeit, der Alltäglichkeit, des gesellschaftlichen Scheins?

O, warum wolltest du dein Schicksal nicht auf dich nehmen, dein Kreuz nicht länger tragen? Läßt sich denn erzwingen, was von selbst werden muß, wenn es überhaupt werden soll? Und kann der unechte Schimmer dich je darüber täuschen, daß du das Echteste, das du noch besaßest, dafür hingabst – dein freudvoll getragenes Leid?

O, was für ein verfehltes Leben, Natti!

*


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