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Den nächsten Morgen fand sich im Mairoldschen Gartenhause ein massiger Herr ein, der gut seine zwei Zentner wog und kurzatmig keuchend unsagbar unter der Hitze litt.
»Der halbe Gemeinderat ist mir davongeloffen,« sagte er; »die Leute haben so viel Angst vor den Preußen. Soll man wirklich alles, was einen Wert hat, im Keller vergraben – was meinen Sie?«
»Ich vergrabe nichts,« sagte Frau Therese lachend. »So viel wie Sie, Herr Kilian, hätt' ich wohl auch kaum zu vergraben. Samt und Seidenstoffe gehn nicht so reißend ab wie die warmen Semmeln.«
»Eine Uhr zum Beispiel werden Sie doch besitzen! Was machen Sie, wenn Ihnen einer Ihre Uhr wegnimmt?«
»Dagegen werde ich mir schon zu helfen wissen. Übrigens sind die preußischen Soldaten keine Strolche, und für den Notfall gibt es Offiziere.«
»Also das sag' ich auch!« meinte Herr Kilian erleichtert und trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn sie nichts von Zucht und Ordnung wüßten, so hätte bei Königgrätz nicht alles so großartig geklappt.«
Die allgemeine Verwirrung hatte den gewichtigen Mann, der Bäckermeister seines Zeichens und außerdem Bürgermeister von Nedweditz war, ganz verzagt gemacht.
»Sie sind eine vernünftige Frau,« sagte er, »mit Ihnen kann man reden. Aber da gibt es Tschechen im Gemeinderat, die tun rein, als ob die Türken im Anzug wären. Und die Deutschen getrauen sich überhaupt nichts zu sagen, weil es halt von Angebern wimmelt, wissen Sie. Die Regierung hat eh' schon ein Aug' auf die Deutschen – als ob sie mit den Preußen unter einer Decke stecken. Es ist schwer Mensch sein, man weiß rein nicht, was man tun soll.«
»Tun Sie gar nichts als Ihre Pflicht,« sagte Frau Therese.
Er sah hilflos drein und schwitzte wie ein gebratener Apfel.
»Ja, tun Sie Ihre Pflicht, das ist leicht gesagt. Wenn ich gewußt hätt', daß es so kommt, so hätt' ich mich nie zum Bürgermeister wählen lassen. Jetzt kneifen sie alle aus und lassen mich sitzen. Ich hab' ja keine Ahnung, was man im Kriegsfall als Bürgermeister zu tun hat.«
Frau Therese überlegte. Vorschriften kannte sie auch keine, aber was not tun würde, wenn die Preußen kämen, das ließ sich allenfalls auch erraten.
»Vor allem lassen Sie auf der Wiese hinter dem städtischen Krankenhaus eine Cholerabaracke errichten; die Krankheit, die von den Lazaretten ausgegangen ist, wird leider noch zunehmen, sobald die Preußen einmal da sind. Die Verwundeten, wenn welche eintreffen sollten, müssen von den Cholerakranken natürlich abgesondert werden; zu diesem Zweck schiene es mir ratsam, das Schulhaus als Notspital einzurichten. Die Wohnungen und Ställe müssen Sie vorgemerkt halten, wir werden Einquartierung bekommen. Eine halbe Kompagnie kann ich in meinen Lagerräumen unterbringen, ich habe sie bereits frei machen lassen. Da Sie auch Postmeister sind, wird es Ihre Pflicht sein, alle Postpferde und Wagen sogleich fortzuschicken. Auch die Postgelder und Telegraphenapparate müssen geflüchtet werden. Denn als Österreicher haben wir dafür zu sorgen, daß die Preußen sich keiner öffentlichen Hilfsmittel für ihre Zwecke bedienen können. Im übrigen bewahren Sie kaltes Blut, stellen die Stadt, wenn eine preußische Truppenabteilung einrückt, unter den Schutz des Befehlshabers und lassen sich, wenn der Feind ihr eine Schätzung auflegen sollte, womöglich eine Bestätigung darüber ausstellen. Das ist alles, was ich Ihnen zu raten weiß.«
»Sie sollten eigentlich Bürgermeister sein,« sagte Herr Kilian. »Ich habe mir gleich gedacht, daß man bei Ihnen noch am ehesten ein vernünftiges Wort zu hören bekommt.«
Sie beredeten noch mehreres miteinander und Frau Therese versprach, mit ihm in Verbindung zu bleiben und ihm bei den Vorkehrungen, die er zu treffen hätte, mit ihrem Rat zur Seite zu stehn. Sichtlich aufgerichtet ging er schließlich fort und machte Anstalt, alles ins Werk zu setzen, genau wie sie es ihn geheißen.
Es kamen wieder sonnige Tage, und mit ihnen kamen die richtigen Preußen, wie der alte Hummer es versprochen hatte. Zuerst zogen sie bloß durch den Ort hindurch wie früher die Sachsen, ohne sich länger darin aufzuhalten, und aus den Fenstern des Torwächterhäuschens gab es genug zu sehen: rote Husaren, ein ganzes Regiment, unzählige Batterien mit Kanonen und blaues Fußvolk mit Pickelhauben, das kein Ende nehmen wollte. Es waren großenteils stattliche Leute, in ihren blanken Uniformen, die in der Sonne blitzten, und Doll wunderte sich, daß sie so freundlich dreinschauten und gar nicht wie Wüteriche aussahen. Manchmal sangen sie sogar ein fröhliches deutsches Lied im Chor, während des Marschierens, daß es ganz heimatlich zu Gemüte klang. Und die großen blonden Bärte, die viele von ihnen trugen, erhöhten noch den Eindruck, daß man es mit tüchtigen und besonnenen Männern zu tun habe.
»Warum tragen die österreichischen Soldaten keine Bärte?« fragte Doll.
»Weil sie nicht dürfen,« sagte Baudrillard.
»Und warum dürfen sie nicht?«
»Weil es verboten ist. Erledigt!«
Der alte Hummer trat vor. Von einem gebürtigen Franzosen war es kaum zu verlangen, daß er hätte wissen sollen, warum das österreichische Militär keine Bärte tragen durfte; aber ein altgedienter österreichischer Soldat mußte es natürlich wissen. Darum hob der alte Hummer den Finger und sagte: »Das will ich Ihnen genau erklären, junger Herr. Es wäre nämlich gegen die sogenannte Subordination, verstanden? Indem, daß im Jahre achtundvierzig, wo die große Revolution gewesen ist, die Aula und die Ungarn und die andern Demokraten, die was damit umgegangen sind, den kaiserlichen Thron in die Luft zu sprengen, alles wild haben wachsen lassen im Gesicht wie die Indianer. Darum war es nachher das erste, wie die sogenannte Redaktion wieder Ordnung gemacht hat in Österreich, daß der Kaiser dem Kremsierer Reichstag einen Deuter gegeben hat, er soll ein Gesetz machen gegen die Bärte. Aber im Reichstag, hab' ich mir sagen lassen, da waren eigentlich lauter Spezi von der Aula beisammen, denen hat die Indianertracht gefallen, und sie haben sie halt barduh nicht abschaffen wollen. Schließlich ist es dem Kaiser zu dick geworden, und er hat den Reichstag einfach gestampert. Das heißt man in der Politik die Sistierung der Verfassung. Die Liberalität ist nicht ganz einverstanden damit; ich finde es aber in der Ordnung, daß man kaiserliches Militär nicht wie die Indianer herumlaufen läßt.«
Baudrillard lachte, Doll aber sagte erstaunt: »Die Indianer haben doch gar keine Bärte!«
Der alte Hummer stutzte einen Augenblick, war aber schnell wieder gefaßt.
»Freilich haben sie keine Bärte,« sagte er; »vorne nämlich! Dafür haben sie aber hinten auf dem Kopf ihren sogenannten Klaps, oder wie man es heißt.«
»Den Skalp meint er!« rief Baudrillard, fast sterbend vor Lachen, hielt sich seinen Leib und stieß kleine, runde französische Laute dabei aus.
Vielleicht hätte der alte Hummer es übel genommen, hätte er Zeit gefunden, empfindlich zu sein. Er war aber vollauf damit beschäftigt, die Honneurs zu machen; denn wer irgend abkommen konnte im Haus oder in der Fabrik, lief wenigstens für ein paar Minuten in die Pförtnerswohnung am Tor, um auch ein Endchen Weltgeschichte mit eigenen Augen zu sehen. Geräusche gab es genug, die anlockten. Einmal ratterten die Trommeln, stundenlang, und der Ton blieb gleichsam vor dem Hause stehn, weil jedesmal, wenn der eine Trommler sich entfernt hatte, ein anderer gerade vorübermarschierte und ein dritter mit der nächsten Abteilung schon wieder heranrückte. Ein andermal bliesen die Trompeten, oder eine ganze Blechmusik, die an der Spitze eines Reiterregimentes ritt, setzte mit einer schmetternden Fanfare ein. Dann hörte man wieder einen ganzen Tag lang von früh bis spät nichts als das Rasseln von schwerem Fuhrwerk, draußen auf der Reichsstraße. Manchmal war es wie ein Erdbeben, daß der Boden schütterte und die Fenster des Fabriksgebäudes klirrten. Endlose Züge von Munitions- und Bagagewagen rollten vorüber, der militärische Troß und Hunderte und Hunderte hochbepackter Planwagen aus dem Preußischen, die mit Hütt und Hott und Peitschenknall den Eilmärschen des siegreichen Heeres nachhasteten, um es mit Schießbedarf und Lebensmitteln zu versorgen. Und hintennach folgten noch ganze Karawanen ländlicher Fuhrwerke, mit ausgehungerten Kleppern bespannt, jedes von einem armseligen und verängstigten böhmischen Bäuerlein gelenkt, das man gezwungen hatte, sich und seine Habe in den Dienst des Feindes zu stellen. Marode, Versprengte, oder aus einem andern Grunde Zurückgebliebene wurden auf diese Weise ihren Truppenkörpern nachgesendet, vor allem aber neu ausgehobene Ersatzmannschaften, ein zweites Aufgebot, wie es schien. Denn es waren großenteils reifere Männer, wiederum viele davon mit blonden Vollbärten, die ihre Pfeife rauchend auf den Leiterwagen saßen und ernst und schweigend die Häuser des Ortes, die Bewohner und die ganze Gegend betrachteten.
Eine Zeitlang wurde es dann wieder still, weit und breit war keine Uniform zu sehen, keine österreichische, keine sächsische und keine preußische. Unter den Kastanien vor der Gartenwohnung spielten die Kinder mit ihrem neuen Kameraden, dem kleinen Lois Birenz, und die sengend heiße Luft war erfüllt von dem Geklapper der Webstühle, das aus den weit offenstehenden Fenstern der Fabrik herüberklang. Nichts deutete auf Kriegszeiten, und als Frau Therese an einem Abend, der vorübergehende Erquickung atmete, mit den älteren Knaben auf den sogenannten Hals stieg, einen mäßigen Höhenzug, der sich knapp über dem Städtchen aus dem Flachland streckte, da lagen, soweit das Auge reichte, die goldenen Kornfelder und die grünen Rübenäcker so friedlich unter der Abendsonne, daß niemand geglaubt hätte, sich mitten in einer vom Feinde besetzten Provinz zu befinden.
Herr Kilian ließ kaum einen Tag verstreichen, ohne Frau Mairold zu besuchen und sich Weisungen von ihr zu holen. Der behagliche und selbstsichere Ausdruck, der ihm sonst eigen gewesen, kehrte in sein Gesicht zurück, er bildete sich ein, gute Gedanken zu haben, weil er die ihrigen ausführte, und hielt sich wieder für den umsichtigsten Bürgermeister in ganz Mähren.
»Eigentlich ist es schade,« sagte er einmal; »alles wäre jetzt so schön vorbereitet, und nun bleiben die Preußen aus!«
Sie wunderte sich: »Mir scheint gar, Sie haben Sehnsucht nach Einquartierung und Requisitionen?«
»Das gerade nicht, aber wenn ich gewußt hätte, daß alles für die Katz' ist, so hätt' ich mich nicht so geplagt! Nedweditz ist doch wirklich ein nettes Stadterl, hat eine angenehme Lage, Gas, Wasserleitung, kurz alles, was der Mensch braucht. Die städtische Promenade, die ich vergangenes Jahr vor meiner Villa draußen, am Schwimmschulkai habe anlegen lassen, wird sich auch bald anwachsen. Warum tun also die Preußen so hoppatatschig und marschieren an uns alleweil bloß vorbei? Es ist rein, als ob ihnen Nedweditz nicht gut genug wäre!«
»Kränken Sie sich nicht,« sagte Frau Therese lachend. »Wer weiß, ob die Preußen die Schönheiten von Nedweditz nicht noch würdigen lernen. Die Hauptmasse der feindlichen Armee muß doch wohl noch im Norden stehn – ich hoff' es wenigstens.«
Es fehlten alle Nachrichten. Seit geraumer Zeit gab es keine Post mehr, keine Zeitungen, die telegraphischen Verbindungen waren unterbrochen. Daß die Preußen Prag längst besetzt hatten, wußte man, das war gleich nach der Schlacht von Königgrätz geschehen. Daß ein großer Teil von Mähren besetzt war, wußte man auch; die gewaltigen Truppendurchzüge, die stattgefunden hatten, ließen keinen Zweifel darüber. In allem übrigen blieb man auf Gerüchte angewiesen, die auf ihre Richtigkeit zu prüfen, niemand in der Lage war.
»Der Gemeindediener hat einen Stromer eingebracht,« sagte Herr Kilian. »Der behauptet, der König Wilhelm und sein Hauptquartier befinden sich längst in Brünn. Vor acht Tagen schon sollen die Preußen Lundenburg besetzt haben.«
»Lundenburg?« rief Frau Therese bestürzt.
Sie konnte es kaum glauben und erschrak deshalb so heftig, weil sie wußte, daß die Preußen so gut wie in Wien waren, wenn sie einmal Lundenburg besetzt hatten. Der Herr Bürgermeister aber, mehr Kirchturmspatriot als Vaterlandsfreund, verstand ihren Ausruf anders.
»Mir ist es auch unbegreiflich, warum sie sich gerade Lundenburg aussuchen,« meinte er. »Was ist Lundenburg, ich bitte Sie? Ein elendes Nest im Vergleich zu Nedweditz! Nicht begraben sein möchte ich in Lundenburg! Die Preußen wissen auch nicht, wo es schön ist. Nedweditz lassen sie links liegen und marschieren nach Lundenburg!«
»Lundenburg wird halt für die Kriegsführung wichtiger sein,« meinte Frau Therese belustigt.
»Von der Strateschie verstehe ich nichts,« sagte er; »ich weiß nur so viel, daß Lundenburg nicht einmal eine ordentliche Kanalisierung hat.«
Sein Ehrgeiz, die Vorzüge von Nedweditz ins rechte Licht zu setzen, sollte bald Befriedigung finden. Eh' man sich's versah, lag die kleine Stadt, die fast von den Landkarten getilgt schien, wieder mitten in Europa. Das preußische Gouvernement leitete den Verkehr in die gewohnten Wege. Jetzt waren auf einmal ganze Stöße von Zeitungen da. Aber es stand nicht viel Schönes darin.
»Teufelskerle sind diese Preußen!« sagte der alte Hummer bekümmert; »den Benedek haben sie richtig von Wien abgeschnitten.«
Der muntere Mundel, der gerade vorüberging, legte sich ins Guckfenster der Portiersloge, das nach der Torfahrt sah.
»Wissen Sie schon, daß Wien belagert wird?«
»Von den Preußen?« fragte der alte Hummer erschrocken.
»Nein, vom Belcredi. Er hat den Belagerungszustand über Wien verhängt.«
»Und warum denn?« fragte der alte Hummer.
»Weil die Wiener eine Petition an den Kaiser verfaßt haben, er soll eine Verfassung einführen. No, und der Herr Staatsminister, der hat halt jetzt keine Lust, eine Verfassung zu verfassen, drum hat er sich gedacht: wer eine Verfassung will, den laß ich lieber abfassen; denn was für Folgen eine Verfassung haben kann, solang sich Österreich in einer so schlechten Verfassung befindet, das ist ja gar nicht zu fassen!«
»Da hat der Herr Staatsminister ganz recht gehabt,« sagte der alte Hummer. »Eine Frechheit ist es, den Kaiser mit so was zu sekkieren, wo er jetzt eh' so viel zu denken und zu tun hat!«
In der Schreibstube gerieten Frau Therese und Baudrillard unversehens in die Politik.
»So etwas ist noch nicht dagewesen,« sagte er: »Ein Sieg zu Land wie der von Custozza und einer zur See wie der von Lissa – und trotzdem ist Venezien dahin!«
»Vielleicht mußte es so kommen,« meinte sie, »weil es das Natürliche und Vernünftige ist. Ich sage immer, alles Strampeln und Gescheitseinwollen hilft nichts, es geschieht doch stets, was sein soll.«
Aber in dem Punkt war er reizbar.
»Unsinn! Sie entschuldigen schon. Geschehen tut, was der Gescheitere will, denn der ist heutzutage auch der Stärkere. Die Borniertheit des klerikalen Grafenregiments hat Österreich eine der schönsten Provinzen gekostet. Erledigt!«
»Ich versteh' das nicht so,« sagte Frau Therese kleinlaut. »Aber man muß halt auch bedenken, daß wir mit zwei Fronten haben kämpfen müssen.«
»Die Preußen haben mit noch viel mehr Fronten kämpfen müssen. Gegen uns und die Sachsen, gegen Bayern, Hessen, Hannover – was weiß ich, gegen wen sonst!«
»Ihr Kaiser wird den Frieden vermitteln, heißt es,« sagte sie, um ihn zu reizen.
»Dieser Scharlatan ist nicht mein Kaiser!« rief Baudrillard auf den Tisch schlagend.
Da mußte Frau Therese lachen, und er begriff, daß sie ihn bloß aufgezogen hatte.
Der alte Hummer klopfte an die Tür und meldete, die Einquartierung sei da. Nun gab es für Frau Theresen alle Hände voll zu tun. Ein halbes Ulanenregiment war in die Stadt eingerückt. An dem Rathaus von Nedweditz hing ein Adler mit einem einzigen Kopf und der Umschrift: »Königlich preußische Feldpost.« Der Bürgermeister besaß leider auch nur einen einzigen Kopf, und den verlor er. Die Verzeichnisse der Unterkünfte, die auf Frau Mairolds Betreiben angelegt worden waren, schusterte er so heillos durcheinander, daß es allerorts Verlegenheiten gab. In den engen Straßen stauten sich Menschen, Pferde und Fouragewagen, und mancher kräftige militärische Fluch über die »echt österreichische Wirtschaft« entlud sich auf die Köpfe der Bevölkerung.
Nichts konnte Frau Theresen empfindlicher treffen als jenes oft wiederholte Schlagwort, das ihr Vaterland herabsetzte, und das, obgleich man es in Österreich selbst oft genug zu hören bekam, aus norddeutschem Munde doppelt bitter klang. In Scham und Zorn eilte sie aufs Rathaus, forderte Herrn Kilian die Papiere ab und nahm mit Hilfe des Gemeindeschreibers und des quartiermachenden Offiziers die Verteilung der Wohnungszettel selbst in die Hand. Allmählich verlief sich die Stauung; wie eine plötzlich hereingebrochene Flut in Ritzen und Löcher versickert oder vom Boden eingesogen wird, so verschwanden nach und nach die Krieger und Rösser aus dem Gedränge der Stadtpläne und Gassen und krochen unter, wo einem jeden mit mehr oder weniger Entgegenkommen die gastliche Stätte bereitet war.
Anscheinend gefiel es den Ulanen nicht übel in Nedweditz. Es sah fast aus, als ob sie sich häuslich in der Stadt niederlassen wollten. Der Bürgermeister behauptete, sie müßten sogar einen Brief an ihre Kameraden von den Fußtruppen geschrieben haben, wie schön es hier sei; denn wenige Tage später rückten auch noch zwei Bataillone Pickelhauben ein. Die brachten eine Feldmusik mit, nun ging es hoch her in Nedweditz; vor der »Amalienruhe«, der Villa des Bürgermeisters, in den neuen städtischen Promenadenanlagen am Schwimmschulkai, wo eine Büste des Herrn Kilian aufgestellt war, gab es jeden Abend Konzert.
Auch in der Mairoldschen Fabrik lag ein Fähnlein Ulanen. Die Soldaten, die ihre Rosse im Fabrikshof wuschen und striegelten, plauderten gern mit den Kindern und scherzten gutmütig mit ihnen, wenn sie herumstanden und zusahen. Es befanden sich muntere Bursche unter diesen Kriegern, einige liebten es, während der Arbeit mehrstimmig zu pfeifen, was manchmal wunderhübsch klang, und fast alle machten den Eindruck von grundbraven und gemütlichen Leuten.
»Sehr anjenehm!« schnarrte der Leutnant, die Hacken zusammenschlagend, als Frau Therese ihn mit Baudrillard bekannt machte.
Doll hatte es gehört und flüsterte mit Moini und Christl. Er hatte sich die Preußen viel schlimmer vorgestellt. So, als ob man sich vor ihnen fürchten müßte. Und waren doch eigentlich ganz nette Menschen?
»Wie sie die Stimme pressen: Sehr anjenehm!« sagte Christl. »Und so was Patziges haben sie! Jedem Leutnant sieht man es an, daß er sich für ein Weltwunder hält!«
»Jedenfalls sind sie mir lieber als die Böhmen,« meinte Doll. »Die Deutschen gehören alle zusammen. Es ist zum Weinen, daß sie einen Krieg miteinander führen!«
Da sagte Moini, die Preußen seien jetzt keine Feinde mehr, der Krieg sei längst zu Ende, bloß in Nedweditz hätte man noch nichts davon gewußt. Das machte Doll ganz eigen froh. Es war ihm, als fiele ihm ein Stein vom Herzen. Indessen wunderte er sich, ob denn ein Krieg so schnell aus sein könne?
Moini sagte: »Wenn so viele Plutzer gemacht werden, schon!«
»Und warum sind dann die Preußen überhaupt noch da?« wollte der Lois Birenz wissen.
»Es dauert eben eine Weile, bis so ein Friede fertig wird,« erklärte Christl. »Vorderhand heißt es bloß erst Waffenstillstand; nun müssen sie noch die Bedingungen auskochen.«
»Werden sie uns ein paar Länder wegnehmen?« fragte Doll.
»Das nicht, aber Deutsche sollen wir nicht mehr sein dürfen.«
Doll sah ihn groß an und schwieg betreten. Plötzlich faßte er ihn am Arm und rüttelte ihn.
»Das können sie uns doch nicht verbieten!«
Da mußte Moini über seinen Eifer lachen.
»Der Doll meint, daß er jetzt ein Böhm' werden muß.«
»Ein Preuße möcht' ich nie werden,« sagte Christl. »Aber ein Deutscher will ich immer bleiben!«
»Ich will ein großer, reicher Fabriksherr werden, der sich um keinen Menschen zu kümmern braucht,« sagte Moini.
»Aber doch ein deutscher Fabriksherr?« fragte Doll.
»Mein Gott, ich bitte dich!« sagte Moini. »Die Großmutter Bornschbögel war eine geborene Zwennek, die wird auch nicht in direkter Linie von Armin, dem Cherusker, abgestammt haben!«
Was Doll gehört hatte, ging ihm nach, und er kam später, als er mit dem Lois Birenz im Garten spielte, darauf zurück.
»Wir beide wollen stets Deutsche bleiben, Lois! Unser ganzes Leben lang! Was meinst du?«
Das Proletarierkind sah etwas befremdet drein. Mit solchen Fragen hatte es sich nie abgegeben und empfand sie als fremde Überflüssigkeiten, wie wenn man von kostbarem Pelzwerk für Damen gesprochen hätte, oder von silbernen Tafelaufsätzen.
»Also – du bist doch nicht etwa ein Böhme?« drängte Doll.
»Ich weiß es nicht,« sagte Lois Birenz. »Der Vater hat Deutsch geredet und die Mutter Böhmisch.«
»Kannst du auch Böhmisch reden?«
»Ein bissel schon.«
Doll schwieg. Er hatte den Lois lieb gewonnen, nun tat es ihm weh, daß der ein halber Böhme sein sollte.
»Es ist gut, daß ich auch Böhmisch kann,« sagte der Lois. »Wenn ich einmal Fabriksarbeiter bin, so hab' ich ein leichteres Fortkommen.«
»Willst du denn Fabriksarbeiter werden?« fragte Doll.
»Kein gewöhnlicher!« sagte der Lois. »Ein besserer natürlich, so wie der Vater einer war. Du, mit dem Jacquardtritt kann ich schon ganz gut umgehn!«
Da fiel es dem Doll erst wieder ein, daß der alte Birenz und sein Weib an der Cholera gestorben waren, und daß der Lois keine Eltern mehr hatte.
»Ich habe zwei Donnerkeile,« sagte er; »wenn es dir recht ist, Lois, so schenk' ich dir einen.«
»Was ist das, ein Donnerkeil?«
Er führte ihn geheimnisvoll hinter ein Gebüsch des Gartens, wo an der Mauer wohlverwahrt zwei armdicke Holzklötze lagen. Davon schenkte er ihm einen.
»Nun haben wir jeder einen Donnerkeil!« sagte der Lois Birenz erfreut.
Und sie brachen Zweige von den Büschen und bedeckten die Holzklötze mit Laub, damit niemand sie entdecken sollte.
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