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Es war sieben Uhr morgens. Eine lärmende Menschenmenge hatte sich auf den Plätzen, in den Straßen und auf den Kais angesammelt und erwartete ein Schauspiel.
Um zehn Uhr vormittags war von Vincennes ein Karren abgefahren, es war derselbe, auf dem die beiden Freunde nach ihrem Zweikampf ohnmächtig in den Louvre überführt worden waren. Langsam fuhr er durch die Straße Saint-Antoine, und die Schaulustigen, die so nahe beieinander standen, daß sie sich fast gegenseitig erdrückten, schienen plötzlich Statuen mit festgebannten Augen und mit erstarrtem Munde geworden zu sein, als der Karren bei ihnen vorbeikam.
Es war ja tatsächlich ein jammervolles Schauspiel, das an diesem Tage dem ganzen Volk von Paris durch Vermittlung der Königin-Mutter dargeboten werden sollte.
In dem erwähnten Karren, der sich so langsam durch die Straßen bewegte, lagen zwei junge Leute mit entblößten Köpfen und ganz schwarz gekleidet, auf einigen Strohhalmen. Sie schmiegten sich aneinander an und Coconas trug La Mole auf seinen Knien, so daß dessen Kopf über die Querbalken des Karrens ragte. Seine unsicheren Blicke schweiften bald dahin, bald dorthin.
Um aber ihre neugierigen Blicke bis in das Innere des Wagens gelangen zu lassen, drängte sich die Menge vor, schwoll an, man stellte sich auf die Fußspitzen und viele stiegen auf die Ecksteine hinauf, viele klammerten sich an den Vorsprüngen der Mauern an. Diese Neugierde schien erst befriedigt, als den Menschen nicht eine einzige Geringfügigkeit, nicht eine einzige Stelle der beiden Körper entgangen war, die hier nach ausgestandenen Qualen zur erlösenden Hinrichtung geführt wurden.
Man hatte erzählt, daß La Mole stürbe, ohne auch nur ein einziges der ihm zur Last gelegten Verbrechen eingestanden zu haben und versicherte, daß im Gegensatz hierzu Coconas, der der Folterung nicht hatte standhalten können, alles enthüllt habe.
Von allen Seiten schrie man: »Seht, seht! Dort ist der Rote! Das ist der, der gesprochen hat, der, der alles gesagt hat! Er ist ein Feigling, der schuld ist am Tode des anderen. Der andere hingegen ist ein Tapferer und hat gar nichts ausgesagt!«
Die zwei jungen Leute verstanden das Geschrei ganz gut, der eine vernahm das Lob, der andere die Schmähungen, die ihre traurige Reise begleiteten. Während La Mole die Hände des Freundes drückte, glitt der Ausdruck einer erhabenen Verachtung über das Gesicht Coconas. Von der Höhe des schmutzigen Karrens sah der Piemontese auf die stumpfsinnige Menge so herab, als ob er sie von einem Triumphwagen betrachtet hätte.
Das Mißgeschick hatte ein himmlisches Werk vollbracht und hatte die ganze Person Coconas veredelt, wie der Tod seine Seele vergöttlichen sollte.
»Sind wir bald dort?« fragte La Mole. »Ich kann schon nicht mehr, mein Freund, ich glaube, ich werde ohnmächtig werden.«
»Warte, La Mole, warte! Wir werden jetzt in die Straße Tizon kommen und in die Straße Cloche-Percée, sieh nur, sieh dich ein wenig um!«
»Oh, richte mich ein wenig auf, richte mich auf, damit ich dieses liebe, glückliche Haus noch einmal sehen kann!«
Coconas streckte seine Hand aus und berührte die Schulter des Henkers. Der saß vorne auf dem Bock des Karrens und lenkte das Pferd.
»Meister,« sagte er, »tun Sie uns den Gefallen und halten Sie ein wenig gegenüber der Straße Tizon an.«
Caboche gab mit dem Kopf ein zustimmendes Zeichen und, bei der Straße Tizon angekommen, hielt er sein Pferd an.
Mit großer Anstrengung und unterstützt von Coconas hob sich La Mole in die Höhe. Eine Träne verschleierte sein Auge, als er das kleine Haus vor sich sah, das so ruhig, so stumm und so verschlossen wie ein Grab da lag. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust, und mit dumpfer Stimme murmelte er vor sich hin: »Adieu, adieu, meine Jugend! Adieu, meine Liebe! Adieu, mein Leben!«
Und dann ließ er sein Haupt auf die Brust sinken.
»Mut!« sagte Coconas, »wir werden das alles vielleicht dort oben wiederfinden.«
»Ach, glaubst du?« murmelte La Mole.
»Ich glaube es, weil der Priester es mir gesagt hat und namentlich deshalb, weil die Hoffnung meine Brust erfüllt. Doch werde nicht ohnmächtig, mein Freund! Die Elenden, die uns da angaffen, würden uns nur auslachen.«
Caboche hatte die letzten Worte vernommen. Während er mit der einen Hand sein Pferd peitschte, hielt er die andere Coconas hin und ohne daß es jemand bemerken konnte, drückte er ihm ein Schwämmchen in die Hand, das mit einem starken Wiederbelebungsmittel durchtränkt war. Nachdem La Mole davon eingeatmet und sich die Schläfen damit eingerieben hatte, fühlte er sich gleich wieder erfrischt und zu Kräften gekommen.
»Ah,« sagte er, »ich fühle mich wiedergeboren!«
Er küßte das Denkzeichen, das an einer goldenen Kette um seinen Hals hing.
Als man um die Ecke des Kais und um das kleine, entzückende Gebäude gelangt war, das Heinrich der Zweite erbaut hatte, erblickte man das Schafott, das blanke und blutige Gerüst, das sich hoch über alle Köpfe emporhob.
»Freund,« sagte La Mole, »ich würde gerne als erster sterben.«
Coconas berührte zum zweitenmal die Schulter des Henkers.
»Was gibt es, mein lieber Herr?« fragte dieser und wendete sich um.
»Guter Mann,« sagte Coconas, »du legst Wert darauf, mir Gutes zu erweisen, nicht wahr? So sagtest du mir es wenigstens.«
»Ja, ich wiederhole es nochmals.«
»Da ist mein Freund, der mehr zu erdulden hatte als ich und der daher nicht so bei Kräften ist . . .«
»Nun?«
»Er sagt mir, daß es ihm zu weh tun würde, mich sterben zu sehen. Übrigens wäre, wenn ich als erster sterben müßte, auch niemand da, der ihn auf das Schafott trägt.«
»Gut, gut!« erwiderte Caboche und wischte sich eine Träne mit dem Handrücken aus den Augen. »Seien Sie nur unbesorgt, man wird Ihre Wünsche erfüllen.«
»Und mit einem einzigen Hieb, nicht wahr?« sagte der Piemontese halblaut.
»Mit einem einzigen.«
»So ist es recht . . . und wenn Sie sich irgendwie zu verantworten hätten, dann berufen Sie sich auf mich.«
Der Karren hielt an, man war an Ort und Stelle gelangt. Coconas setzte seinen Hut auf.
Ein Lärm, der der Brandung des Meeres glich, drang an die Ohren La Moles. Er wollte sich erheben, doch seine Kräfte versagten. Caboche und Coconas mußten ihm unter die Arme greifen.
Der Platz war förmlich mit Köpfen gepflastert, die Stufen des Rathauses glichen einem mit Zuschauern angefüllten Amphitheater. An jedem Fenster waren erregte Gesichter und blitzende Augen zu sehen.
Als man den schönen jungen Mann sah, der sich nicht mehr auf den Beinen erhalten konnte, als man sah, wie er mit seinen gebrochenen Knochen eine letzte Anstrengung machte, um das Schafott zu besteigen, erhob sich, wie ein allgemeiner verzweifelter Schrei, in der Menge eine überlaute Kundgebung. Die Männer erröteten, die Frauen ergingen sich in bedauernden Klagen.
»Das war einer der feinsten Edelleute bei Hof,« sagten die Männer, »und eigentlich hätte er nicht auf dem Platz Saint-Jean-en-Grève, sondern auf der Studentenwiese sterben sollen.«
»Wie er schön ist, wie blaß er ist!« sagten die Frauen. »Das ist der, der nichts ausgesagt hat.«
»Freund,« flüsterte La Mole, »ich kann mich nicht auf den Beinen halten, trage mich!«
»Warte einen Augenblick!« sagte Coconas.
Er gab dem Henker ein Zeichen, der sofort ein wenig zur Seite trat. Dann beugte er sich nieder und nahm La Mole in seine Arme, wie man es mit einem Kind tut. Ohne zu wanken, stieg er mit seiner Last die Stiege des Gerüstes hinauf und umbraust vom begeisterten Geschrei und vom Beifall der Menge, legte er La Mole oben angekommen auf die Plattform nieder.
Coconas nahm den Hut vom Kopf und grüßte.
Dann warf er seinen Hut neben sich auf die Bretter hin.
»Schau dich ein wenig um,« sagte La Mole, »siehst du sie nirgends?«
Coconas warf langsam einen Blick rings um den Platz herum und plötzlich blieben seine Augen an einer bestimmten Stelle haften. Er streckte die Hand aus, ohne den Punkt aus den Augen zu verlieren und berührte die Schulter des Freundes.
»Sieh zum Fenster dieses kleinen Turmes hin,« sagte er.
Und mit der anderen Hand zeigte er La Mole das kleine Gebäude, das sich noch heute zwischen den Straßen de la Vannerie und du Mouton befindet, ein Überrest vergangener Jahrhunderte.
Dort sah man zwei schwarzgekleidete Frauen, die sich aneinander lehnten, jedoch nicht knapp an der Fensterbrüstung, sondern etwas weiter rückwärts im Zimmer standen.
»Ah!« seufzte La Mole. »Ich fürchtete nur eines und das war, daß ich sterben müßte, ohne sie wiedergesehen zu haben. Jetzt habe ich sie wiedergesehen, jetzt kann ich sterben!«
Und während er seine Augen sehnsuchtsvoll gegen das kleine Fenster richtete, führte er Margaretes Denkzeichen an den Mund und bedeckte es mit Küssen.
Coconas grüßte die zwei Frauen mit demselben Anstand, dessen er sich in einem Salon befleißigt hätte.
Als Antwort auf dieses Zeichen winkten die Frauen mit ihren von vielen Tränen durchtränkten Taschentüchern.
Nun berührte Caboche seinerseits mit einem Finger die Schulter Coconas und gab ihm mit den Augen einen bezeichnenden Wink.
»Ja, ja!« sagte der Piemontese.
Dann wendete er sich zu La Mole: »Umarme mich,« sagte er, »und stirb brav! Es wird dir nicht zu schwer fallen, mein lieber Freund, denn du bist ja so tapfer!«
»Ah!« erwiderte La Mole. »Es ist kein großes Verdienst zu sterben, wenn man so leidet, wie ich!«
Der Priester näherte sich La Mole und hielt ihm ein Kruzifix entgegen, der aber wies lächelnd auf das kleine Denkzeichen, das er in der Hand hielt.
»Trotzdem,« sagte der Priester, »bitten Sie trotzdem denjenigen um die Kraft, der das gelitten hat, was Sie jetzt erleiden müssen.«
La Mole küßte die Füße des Christus.
»Empfehlen Sie mich den Gebeten der Klosterfrauen der gebenedeiten, heiligen Jungfrau,« bat er.
»Beeile dich, beeile dich, La Mole,« sagte Coconas, »du tust mir so weh, daß ich meine Kräfte erlahmen fühle.«
»Ich bin bereit!« sagte La Mole.
»Könnten Sie Ihren Kopf recht gerade halten?« fragte Caboche. Er stand mit bereitgehaltenem Schwert hinter La Mole, der bereits niedergekniet war.
»Ich hoffe es!«
»Dann wird also alles gut gehen!«
»Und Sie, vergessen Sie nicht meine Bitte! Dieses Denkzeichen hier wird Ihnen die Pforten öffnen.«
»Unbesorgt! Aber versuchen Sie es, den Kopf ein wenig nach rechts zu halten,« sagte der Henker.
La Mole gab seinem Hals die gewünschte Richtung und dann richtete er seine Augen auf das Fenster des kleinen Turmes.
»Adieu, Margarete,« flüsterte er, »sei ge . . .«
Er beendigte den Satz nicht mehr. Mit einem Schwung von rückwärts hieb Caboche mit seinem sausenden, blitzartig flammenden Schwert den Kopf La Moles ab, der Coconas vor die Füße rollte.
Der Körper streckte sich langsam aus, als ob er sich sanft hinlegen wollte.
Aus tausend Kehlen erscholl ein ungeheurer Schrei, und Coconas schien es, als ob er aus diesen vielen Frauenstimmen eine vernommen und erkannt hätte, die schmerzlicher geklungen hatte, als alle anderen.
»Danke, mein braver Freund, danke!« sagte Coconas und reichte dem Henker zum dritten Male die Hand.
»Mein Sohn,« sagte der Priester zu Coconas, »haben Sie Gott nichts mehr anzuvertrauen?«
»Meiner Treu, nein! Mein Vater,« erwiderte der Piemontese, »alles was ich ihm zu sagen hätte, das habe ich schon gestern Ihnen selbst gesagt.«
Dann wendete er sich zu Caboche: »Vorwärts, Henker, mein letzter Freund,« sagte er, »noch diesen letzten Dienst!« Und bevor er sich niederkniete, ließ er einen so ruhigen und heiteren Blick über die Menge gleiten, daß ein Gemurmel der Bewunderung seinem Ohr und seinem Stolz schmeichelte. Dann nahm er den Kopf seines Freundes in beide Hände und drückte einen Kuß auf die blaugewordenen Lippen, dabei warf er einen letzten Blick zum kleinen Turm hinüber. Als er sich auf die Knie niederließ, hielt er noch immer den Kopf des so innig geliebten Freundes zwischen seinen Händen und rief so dem Henker zu: »Jetzt mir!«
Er hatte kaum die Worte ausgesprochen, als schon Caboche seinen Kopf zur Erde fliegen ließ.
Nach diesem Hieb durchlief ein krampfiges Zittern den braven Henker.
»Es war Zeit, daß es zu Ende ging,« murmelte er, »armes Kind!«
Nur mit Mühe zog er aus den verkrampften Fingern La Moles das goldene Denkzeichen mit der Kette. Dann warf er seinen Mantel über die traurigen Überreste, die der Karren in sein Haus bringen sollte.
Das Schauspiel war zu Ende, die Menge zerstreute sich.