Alexander Dumas
Königin Margot. Zweiter Band
Alexander Dumas

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Die unsichtbaren Schilde

Am Morgen, der dem schriftlichen Befehl Katharinas folgte, erschien der Gouverneur von Vincennes mit einer eindrucksvollen Begleitung im Zimmer Coconas; zwei mit Hellebarden bewaffnete Soldaten und vier Männer in langen schwarzen Röcken umgaben ihn.

Coconas wurde aufgefordert in einen Saal hinabzukommen, in dem der Generalstaatsanwalt Laguesle und noch zwei Richter gemäß der Anordnung Katharinas den Gefangenen einem Verhör unterziehen sollten.

Während der acht Tage, die Coconas bereits im Gefängnisse zugebracht hatte, hatte er über vieles nachgedacht und viel überlegt. Ohne ihnen etwas zu sagen, hatte der Kerkermeister, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur aus Menschenfreundlichkeit, überraschend La Mole und Coconas die Möglichkeit eines täglichen Zusammentreffens verschafft und abgesehen davon, daß sich die Freunde über ihre Haltung vor dem Richter besprochen hatten, ein unbedingtes Leugnen aller Schuld vereinbart hatten, war Coconas doch überzeugt davon, daß er mit einiger Geschicklichkeit seiner Angelegenheit eine günstige Wendung werde geben können. Die Schuldbeweise waren für sie nicht größer als für alle anderen. Heinrich und Margarete hatten keinen Fluchtversuch gemacht, daher konnten auch sie in einer Angelegenheit, bei der die Hauptschuldigen frei herumliefen, nicht zur Verantwortung herangezogen werden. Coconas wußte nicht, daß Heinrich dasselbe Schloß bewohnte, und nur der gefällige Kerkermeister hatte ihm mitgeteilt, daß über seinem Haupt eine gewisse Gönnerschaft in der Luft schwebte, die der Mann die »unsichtbaren Schutzschilde« nannte.

Bisher hatte sich das Verhör auf die Absichten des Königs von Navarra beschränkt, auf seine Fluchtpläne und inwiefern die zwei Freunde an den Vorbereitungen zur Flucht teilgenommen hatten. Auf alle Fragen hatte Coconas mehr als unklar und viel mehr als bloß geschickt geantwortet und er schickte sich gerade an, auf die gleiche Art fortzufahren und mit seinen eingehend überdachten Entgegnungen herauszurücken, als er bemerkte, daß das Verhör eine ganz andere Wendung genommen hatte.

Es handelte sich jetzt um einen oder mehrere Besuche bei René, um eine oder mehrere Wachsfiguren, die auf Veranlassung La Moles angefertigt worden sein sollten.

Coconas, der sich auf Wichtigeres gefaßt gemacht hatte, glaubte zu bemerken, daß die Anklage viel an Bedeutung verloren habe, da es sich ja nicht mehr um den Verrat eines Königs, sondern um eine Statue der Königin handelte. Überdies war diese fragliche Statue nur acht bis zehn Zoll hoch.

Er antwortete demnach in heiterer Laune, daß er und sein Freund schon seit langer Zeit nicht mehr mit Puppen spielten, und bemerkte hierbei mit Vergnügen, daß seine Antworten die besondere Auszeichnung hatten, die Richter zu einem Lächeln zu verführen.

Man hatte zwar noch nicht die Worte: »Seht mich hier lachen und entwaffnet sein!« in Versen gesprochen, doch war ähnliches schon oft in der Prosa gesagt worden. Coconas aber glaubte, seine Richter wenigstens zur Hälfte entwaffnet zu haben, weil sie gelächelt hatten.

Nach Beendigung des Verhöres stieg er singend und lärmend in sein Zimmer hinauf, und La Mole, für den der Spektakel bestimmt war, folgerte daraus die allerbesten Aussichten für sich.

Auch ihn ließ man nun in den Saal herabkommen. Wie Coconas, so bemerkte auch La Mole zu seinem größten Erstaunen, daß die Anklage ihre ursprüngliche Richtung verlor und in ganz andere Bahnen gelenkt wurde. Man befragte ihn um seine Besuche bei René. Er antwortete, daß er nur ein einziges Mal bei dem Florentiner gewesen sei. Man fragte ihn ferner, ob er damals nicht eine Wachsfigur bei dem Gewürzkrämer bestellt hätte. Er antwortete, daß René ihm eine bereits fertige Figur gezeigt habe. Auf die Frage, ob diese Figur nicht einen Mann dargestellt hätte, antwortete er, daß die Figur im Gegenteil eine Frau darstellte. Und schließlich beantwortete er die Frage, ob der Zauber den Tod eines Mannes hätte zur Folge haben sollen, dahin, daß nur die Liebe einer Frau der Endzweck des Zauberkunststückes gewesen wäre.

Diese Fragen wurden kreuz und quer gestellt und auf hundert verschiedene Arten geformt. Beständig gab aber La Mole auf die Fragen, in welcher Art immer sie an ihn gerichtet wurden, dieselben Antworten.

Die Richter sahen sich unentschieden an und wußten nicht, was sie sagen sollten, wußten nicht, wie sie sich vor einer derartigen Unbefangenheit verhalten sollten, als eine briefliche Verständigung, die dem Generalstaatsanwalt plötzlich eingehändigt wurde, alle Schwierigkeit behob:

Auf dem Papier standen nur folgende Worte:

»Wenn der Angeklagte leugnet, dann ist die Folter anzuwenden.

K.«

Der Staatsanwalt steckte das Papier in die Tasche, lächelte La Mole zu und verabschiedete ihn auf höfliche Art. La Mole ging in sein Gefängnis zurück und war ebenso zuversichtlich, wenn nicht ebenso froher Stimmung, als es Coconas gewesen war.

»Alles geht gut!« sagte er sich.

Eine Stunde später vernahm er Schritte vor seiner Tür und sah, daß sich unter dieser ein Stück Papier durchschob, ohne zu ahnen, welche Hand diese Zustellung besorgte. Er nahm den Zettel an sich und dachte, daß die Nachricht aller Wahrscheinlichkeit nach vom Kerkermeister kommen müßte.

Eine Hoffnung, die schmerzlich war, weil sich seines Herzens längst eine Enttäuschung bemächtigt hatte, ergriff ihn beim Anblick des Papiers. Er hoffte, daß es eine Nachricht Margaretes sein könnte, von der er seit seiner Gefangenschaft nichts mehr gehört hatte. Mit zitternden Händen entfaltete er das Papier, und die Schrift, die er vor sich sah, ließ ihn fast vor Freude sterben.

»Mut!« stand da geschrieben. »Ich wache!«

»Ah! Wenn sie wacht,« rief La Mole aus und bedeckte den Zettel, der aus so lieber Hand kam, mit Küssen, »wenn sie wacht, dann bin ich wohl gerettet!«

Damit aber La Mole das kleine Schriftstück verstehe, damit er Vertrauen zu Coconas habe und zu dem, was der Piemontese die »unsichtbaren Schutzschilde« zu nennen pflegte, ist es nötig, den Leser in jenes kleine Haus zurückzuführen, in jenes Zimmer, in dem sich einst Vorgänge eines berauschenden Glücks abspielten, in dem noch Wohlgerüche verdunsteten und in dem so viel süße Erinnerungen, die jetzt nur noch schmerzhaft waren, das Herz der jungen Frau bedrängten, die sich verzweifelt auf die Samtkissen eines Liegestuhles geworfen hatte.

»Königin zu sein, mächtig zu sein, jung zu sein, reich und schön zu sein und zu leiden, wie ich jetzt leiden muß!« rief diese Frau aus, »ach, das ist ja ganz unmöglich!«

In ihrer Erregung stand sie von dem Stuhl auf, ging im Zimmer auf und ab, blieb dann plötzlich wieder stehen und lehnte die brennende Stirne an eine kalte Marmorplatte. Bleich und mit tränenüberströmtem Antlitz richtete sie sich wieder auf, rang die Hände und schrie vor Schmerz auf, um sich wie gebrochen auf den nächsten Stuhl niederfallen zu lassen.

Plötzlich hob sich der Vorhang der Tür, die die Wohnung in der Straße Cloche-Percée von der in der Straße Tizon trennte, in die Höhe. Ein weiches Rauschen ertönte am Holzgetäfel, und die Herzogin von Nevers trat in das Zimmer.

»Oh,« rief Margarete, »du bist es! Mit welcher Ungeduld habe ich dich erwartet! Nun, was bringst du für Nachrichten?«

»Schlechte, schlechte, meine arme Freundin! Katharina beeinflußt selbst die Untersuchung, und jetzt im Augenblick ist sie sogar noch in Vincennes.«

»Und René?«

»Ist festgenommen.«

»Noch bevor du ihn sprechen konntest?«

»Ja.«

»Und unsere Gefangenen?«

»Von ihnen habe ich Nachrichten.«

»Durch den Gefangenenaufseher?«

»Ja, wie immer!«

»Nun?«

»Sie kommen also täglich zusammen. Vorgestern hat man eine Leibesuntersuchung an ihnen vorgenommen. La Mole hat dein Bild zertrümmert, als er es hatte ausliefern sollen.«

»Dieser liebe La Mole!«

»Hannibal hat seinen Untersuchungsrichtern eins unter die Nase gelacht!«

»Guter Hannibal! Und nachher?«

»Man hat sie heute morgen wegen der Flucht des Königs vernommen, hat sie um aufrührerische Pläne in Navarra befragt; sie haben aber nichts gesagt.«

»Oh! ich wußte wohl, daß sie schweigen würden, aber das Schweigen tötet sie geradeso als wenn sie redeten.«

»Ja, dennoch werden wir sie retten, wir!«

»Du hast schon an entsprechende Unternehmungen gedacht?«

»Seit gestern beschäftige ich mich mit nichts anderem!«

»Und?«

»Ich habe gerade mit Beaulieu ein Abkommen getroffen. Ah, meine liebe Königin, was ist das für ein schwieriger und habsüchtiger Mensch! Die ganze Sache wird ein Menschenleben und dreimalhunderttausend Taler kosten!«

»Du sagst, daß er schwierig und habsüchtig sei . . . und doch verlangt er ja nicht mehr, als ein Menschenleben und dreimalhunderttausend Taler . . . das ist doch gar nichts!«

»Gar nichts? . . . dreimalhunderttausend Taler! . . . Aber dein ganzer Schmuck und der meinige dazu würden nicht so viel ausmachen.«

»Oh, darauf kommt es nicht an! Der König von Navarra wird zahlen, der Herzog von Alençon wird zahlen, mein Bruder Karl wird zahlen müssen oder, wenn sie es nicht tun . . .«

»Aber, aber! Du urteilst wie eine Verrückte! Ich habe sie schon, diese dreimalhunderttausend Taler!«

»Du?«

»Ja, ich!«

»Und wie hast du dir sie verschafft?«

»Ah, das ist es ja!«

»Ist es ein Geheimnis?«

»Für die ganze Welt, nur nicht für dich!«

»Ach, mein Gott!« sagte Margarete und lachte unter Tränen.

»Solltest du sie gestohlen haben?«

»Das wirst du gleich beurteilen können.«

»So laß hören!«

»Du erinnerst dich wohl noch dieses schauderhaften Nantouillet?«

»Meinst du den reichen Kerl, den Wucherer?«

»Ja, wenn du ihn so nennen willst!«

»Nun?«

»Nun, an einem Tage sah er eine gewisse blonde Frau vorübergehen, eine Frau mit grünen Augen, geschmückt mit drei Rubinen, einen hatte sie an der Stirne, die zwei anderen an den Schläfen befestigt, übrigens ein Schmuck, der ihr so gut steht. Er wußte nicht, daß diese Frau eine Herzogin war, der Geldprotz, und da rief der Wucherer aus: Für drei Küsse auf den Stellen dieser drei Rubine würde ich drei Diamanten hängen, von denen jeder hunderttausend Taler wert ist!«

»Und Henriette?«

»Die Diamanten, meine Liebe, sind daher auf diesen Stellen aufgeblüht und sind auch schon verkauft.«

»Oh, Henriette, Henriette!« murmelte Margarete.

»Sieh doch!« rief die Herzogin in einem Ton kindlicher und zugleich erhabener Schamlosigkeit, der so recht die Frau des damaligen Jahrhunderts kennzeichnete. »Sieh, ich liebe meinen Hannibal, ich!«

»Das ist wahr,« erwiderte Margarete, indem sie lächelte und zugleich errötete. »Du liebst ihn sehr, zu sehr sogar!«

Und dann drückte sie ihr warm die Hand.

»Daher,« setzte Henriette ihren Bericht fort, »sind dank der drei Diamanten die dreimalhunderttausend Taler und der Mann bereit.«

»Der Mann? Welcher Mann?«

»Der Mann, der getötet werden soll; du vergißt ganz, daß ein Menschenleben auf das Spiel gesetzt werden muß.«

»Und du hast einen entsprechenden Mann gefunden?«

»Sehr richtig.«

»Um den gleichen Preis?« fragte Margarete lächelnd.

»Um den gleichen Preis? Da hätte ich wohl tausend gefunden!« rief Henriette. »Nein, nein, um fünfhundert Taler fand ich ohne weiteres einen.«

»Um fünfhundert Taler hast du also einen Mann gefunden, der damit einverstanden ist, sich töten zu lassen?«

»Was willst du nur? Man muß doch leben!«

»Liebste Freundin, ich verstehe dich nicht mehr. So erkläre dich doch deutlicher! Mit dem Rätsellösen verlieren wir zu viel Zeit, die wir in unserer Lage so sehr brauchen.«

»Also höre: der Aufseher, dem die Bewachung La Moles und Coconas anvertraut ist, ist ein ehemaliger Soldat, der sehr gut weiß, was eine Wunde ist. Er will unsern Freunden sehr gerne zur Flucht verhelfen, will aber seine Stelle nicht verlieren. Ein geschickt geführter und gezielter Dolchstoß wird alles erledigen. Wir werden ihm für seine Verwundung einen reichen Lohn geben, und der Staat wird ihm sogar eine Entschädigung überweisen lassen. Auf diese Art wird dieser brave Mann von zweifacher Seite Geld bekommen und wird nur die Fabel vom Pelikan erneuert haben.«

»Aber so ein Dolchstoß . . .«

»Keine Sorge! Hannibal wird den Dolch führen.«

»Tatsächlich,« so meinte lachend Margarete, »hat er einmal La Mole drei Degenstiche und drei Dolchstiche versetzt, und La Mole ist nicht tot. Hoffen wir also das Beste!«

»Fürwitzige, du verdientest, daß ich dir kein Wort mehr sagte!«

»Oh, nein, nein, im Gegenteil! Sag' mir alles, ich bitte dich darum. Wie werden wir sie retten?«

»Also, die Sache ist so: die Kapelle im Schloß ist der einzige Ort, wohin auch Frauen kommen können, die keine Gefangenen sind. Man wird uns hinter dem Altar verstecken. Unter dem Altartuch sind zwei Dolche verborgen. Die Tür zur Sakristei muß schon von vornherein offen sein. Coconas versetzt seinem Kerkermeister einen Dolchstoß, der fällt nieder und tut so, als ob er tot wäre. Dann erscheinen wir und werfen jedem unserer Freunde einen Mantel um die Schultern. Wir fliehen mit ihnen durch die kleine Sakristeitür, und da wir das Losungswort wissen, kommen wir unbehindert hinaus.«

»Und einmal draußen?«

»Zwei Pferde werden beim Tor warten, sie schwingen sich auf sie, reiten sofort aus Paris und Umgebung hinaus und trachten nach Lothringen zu kommen. Von Zeit zu Zeit können sie uns von dort aus unerkannt hier besuchen.«

»Oh, du schenkst mir mein Leben damit!« sagte Margarete. »Wir werden sie also bestimmt retten?«

»Ich würde fast dafür bürgen!«

»Und wird das bald sein?«

»Teufel, in drei oder in vier Tagen! Beaulieu wird uns vorher verständigen.«

»Wenn man dich aber in der Umgebung von Vincennes erkennen wird? Das könnte unsern ganzen Plan zuschanden machen!«

»Wie soll man mich erkennen? Ich komme immer als Nonne hin, mit einem Schleier, aus dem nicht einmal die Nasenspitze hervorschaut.«

»Wir können nicht vorsichtig genug sein.«

»Das weiß ich wohl, verdammt! – wie der arme Hannibal sagen würde.«

»Und der König von Navarra, hast du dich über ihn erkundigt?«

»Ich habe mich gehütet, dies zu vergessen!«

»Nun und?«

»Er war noch nie so lustig gewesen, wie es scheint. Er lacht, er singt, er ißt gut und verlangt nur eines und das ist: gut bewacht zu werden.«

»Er hat recht. Und meine Mutter?«

»Ich sagte dir schon, daß sie, so sehr sie nur kann, auf den Gang der Verhandlungen Einfluß nimmt.«

»Ja, aber sie verdächtigt uns doch hoffentlich in keiner Weise?«

»Wie sollte sie irgendwie Verdacht schöpfen? Alle diejenigen, die unser Geheimnis mit uns teilen, haben allen Grund, es auch zu bewahren. Ah! Ich hatte es ja auch gewußt, daß sie den Richtern von Paris die Verständigung hatte zukommen lassen, sich bereit zu halten.«

»Handeln wir daher rasch, Henriette. Wenn unsere armen Häftlinge das Gefängnis tauschen müßten, müßten wir wieder von vorne anfangen.«

»Sei unbesorgt, ich wünsche es geradeso wie du, sie endlich draußen zu sehen!«

»O ja, das weiß ich nur zu gut! Und Dank, tausend Dank für das, was du getan hast, um soweit zu kommen.«

»Adieu, Margarete, adieu! Ich begebe mich wieder auf den Kampfplatz.«

»Bist du auch Beaulieus sicher?«

»Das hoffe ich.«

»Des Kerkermeisters?«

»Er hat alles versprochen.«

»Die Pferde?«

»Es sind die besten aus dem Stall des Herzogs von Nevers.«

»Henriette, du bist anbetungswürdig!« Margarete warf sich der Freundin um den Hals, und dann trennten sich beide Frauen mit dem Versprechen, sich am nächsten Morgen, wie überhaupt täglich, zur gleichen Stunde und auf dem gleichen Ort zu treffen.

Diese zwei entzückenden und aufopferungsfähigen Wesen nannte Coconas mit seinem so richtigen Beurteilungsvermögen die »unsichtbaren Schutzschilde«.

 


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