Alexander Dumas
Königin Margot. Zweiter Band
Alexander Dumas

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Das Anagramm

In der Mitte der Straße Geoffroy-Lasnier mündete die Straße Garnier-sur-l'Eau ein und beim Ende der Straße Garnier-sur-l'Eau lief nach rechts und nach links die Straße des Barres.

Wenn man von hier ein paar Schritte gegen die Straße de la Mortellerie machte, befand man sich einem kleinen, völlig vereinsamten Hause gegenüber, das von einem Garten und einer hohen Mauer umschlossen war, durch die ein starkes Tor allein Einlaß gewährte.

Karl zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete das Tor, das sofort nachgab, weil kein Riegel vorgeschoben war. Dann ließ er Heinrich und einen Fackelträger vorangehen und schloß das Tor hinter sich ab.

Ein einziges kleines Fenster des Hauses war erleuchtet. Karl zeigte mit dem Finger hinauf und lächelte Heinrich zu.

»Sire, ich verstehe nicht,« sagte dieser.

»Du wirst gleich alles verstehen, Henriot!«

Der König von Navarra sah Karl mit Erstaunen an. Seine Stimme und sein Antlitz hatten den Ausdruck milder Güte bekommen, wie sonst und für gewöhnlich gar nie aus diesem Gesicht herauszulesen war, und Heinrich glaubte den König nicht wiederzuerkennen.

»Henriot,« sagte der König, »ich sagte dir früher, daß so oft ich den Louvre verlasse, ich die Hölle zu verlassen glaube. Wenn ich hingegen hier eintrete, so glaube ich immer, in das Paradies einzutreten.«

»Sire, ich bin glücklich, daß Eure Majestät mich für würdig genug befinden, mit Ihr in den Himmel eintreten zu dürfen.«

»Der Weg da hinauf ist zwar ein bißchen eng,« meinte der König und zwängte sich durch eine kleine Treppe hinauf, »doch das muß so sein, damit dem Vergleiche nichts fehlt.«

»Welcher Engel hält Wache in Ihrem Eden, Sire?«

»Du wirst ihn sehen,« erwiderte Karl der Neunte.

Er machte Heinrich ein Zeichen, ihm geräuschlos zu folgen, öffnete eine Tür, dann eine zweite und blieb auf deren Schwelle stehen.

»Da sieh hin!« sagte er.

Heinrich näherte sich und blieb gebannt vor einem der reizendsten Bilder stehen, das er jemals vor Augen gehabt.

Vor ihm lag eine junge schlafende Frau von ungefähr achtzehn bis neunzehn Jahren. Ihr Haupt ruhte auf dem Fußende eines Bettes, in dem ein kleines Kind schlummerte. Mit beiden Händen hatte sie die kleinen Füße des Kindes umfaßt und hielt ihre Lippen daran, während ihre langen Haare herabwallten, sich wie eine goldene Flut um ihren Körper verbreiteten.

Man hätte meinen können, dies sei ein Gemälde von Albano und stelle die heilige Jungfrau mit dem Jesuskinde dar.

»Oh, Sire,« fragte der König von Navarra, »wer ist dieses reizende Wesen?«

»Der Engel meines Paradieses, Henriot; das einzige Wesen, das mich meinetwillen liebt!«

Heinrich lächelte.

»Ja, meinetwillen liebt,« wiederholte Karl, »denn sie liebte mich, bevor sie wußte, daß ich ein König bin.«

»Und seit sie es weiß?«

»Seit sie es weiß,« sagte Karl mit einem Seufzer, der bewies, daß ihm dieses Königtum voll Blut und Schrecken oft genug schwer auf den Schultern lastete, »seit sie es weiß, liebt sie mich immer noch in gleichem Maße! Urteile nun selbst!«

Behutsam näherte sich der König der jungen Frau und hauchte einen Kuß auf ihre rosige Wange, einen Kuß, der so zart war, wie der, den die Biene der Lilie gibt.

Trotzdem erwachte die junge Frau.

»Karl!« murmelte sie und öffnete die Augen.

»Du hörst,« sagte der König zu Heinrich, »sie nennt mich Karl. Die Königin nennt mich Sire.«

»Oh!« rief die junge Frau, »Sie sind nicht allein, mein König?«

»Nein, meine liebe Marie, ich wollte dir einen anderen König mitbringen, einen König, der glücklicher ist als ich, weil er keine Krone zu tragen hat, unglücklicher aber als ich, weil er keine Marie Touchet hat. Gott schafft für alles einen Ausgleich!«

»Sire, ist es der König von Navarra?«

»Er selbst, mein Kind! Komm näher, Henriot!«

Der König von Navarra trat einige Schritte vor, Karl ergriff seine rechte Hand.

»Sieh dir diese Hand an, Marie,« sagte er, »das ist die Hand eines guten Bruders und eines aufrichtigen Freundes. Ohne diese Hand, siehst du . . .«

»Nun?«

»Nun, ohne diese Hand, Marie, hätte heute unser Kind . . . keinen Vater mehr!«

Marie stieß einen Schrei aus, fiel auf die Knie, ergriff Heinrichs Hand und küßte sie.

»Gut so, Marie, gut so!« sagte Karl.

»Und was haben Sie getan, Sire, um ihm das zu danken?«

»Ich habe ihm den gleichen Dienst erwiesen!«

Heinrich blickte den König erstaunt an.

»Du wirst eines Tages wissen, was ich sagen will, Henriot. Mittlerweile sieh dir das an!«

Er näherte sich dem Bette, in dem das Kind noch immer schlief.

»Eh!« sagte er, »wenn dieser pausbäckige Knabe anstatt hier in dem kleinen Hause der Straße des Barres zu schlafen, im Louvre schlafen würde, dann müßte sich vieles in der Gegenwart ändern . . . und vielleicht auch in der Zukunft!«Dieses natürliche Kind, später der bekannte Herzog von Angoulôme, hätte, wenn es ehelich gewesen wäre und weil es erst 1650 gestorben ist, tatsächlich die Könige Heinrich den Dritten, Heinrich den Vierten, Ludwig den Dreizehnten und Ludwig den Vierzehnten aus der Geschichte gestrichen. Was wäre er für uns an ihrer Stelle geworden? Der Geist verwirrt sich und verliert sich in dieser dunklen Frage des Schicksals!

»Sire,« sagte Marie, »nehmen Eure Majestät es mir nicht übel, doch mir ist es lieber, daß er hier schläft, er schläft hier besser!«

»So stören wir nicht seinen Schlaf,« sagte der König, »es tut so wohl, traumlos schlafen zu können!«

»Sire?« fragte Marie und wies auf eine der Türen im Zimmer.

»Ja, ja, du hast recht, Marie,« sagte Karl der Neunte, »gehen wir nachtmahlen.«

»Mein vielgeliebter Karl,« flüsterte Marie, »Sie werden sich bei Ihrem Bruder, dem König, für mich entschuldigen, nicht wahr?«

»Warum das?«

»Ich habe meine ganze Dienerschaft fortgeschickt, Sire,« wandte sich Marie an Heinrich von Navarra, »Sie müssen wissen, daß Karl von niemand anderem bedient sein will, als von mir.«

»Himmel und Hölle,« sagte Heinrich, »das glaube ich wohl gerne!«

Die zwei Männer gingen in das Speisezimmer, während die Mutter, sorglich und besorgt, das Kind, den kleinen Karl, mit einem warmen Tuche bedeckte. Es erwachte nicht aus seinem tiefen Schlafe, um den es sein Vater so beneidete.

Marie ging dann zu den beiden Königen.

»Es ist nur für zwei Personen gedeckt,« sagte Karl.

»Erlauben Sie,« bat Marie, »daß ich Eure Majestäten bediene?«

»Siehst du, Henriot,« meinte Karl, »du bringst mir Pech!«

»Wieso, Sire?«

»Ja, hörst du denn nicht?«

»Verzeihung, Karl, Verzeihung!«

»Ich verzeihe dir, doch du mußt dich hierher setzen, neben mich, Marie, zwischen uns beide!«

»Ich gehorche.«

Sie brachte noch ein Gedeck, ließ sich zwischen den zwei Königen nieder und kredenzte ihnen die Speisen.

»Ist das nicht schön, Henriot,« sagte Karl, »in dieser Welt ein Plätzchen zu haben, auf dem man nach Herzenslust essen und trinken kann, ohne daß jedesmal irgendwer die Speisen und Getränke vorher versuchen muß?«

»Sire,« sagte Heinrich mit einem Lächeln, das seiner richtigen geistigen Auffassung wie immer entsprach, »glauben Sie mir, daß ich Ihnen dieses Glück mehr als irgend ein anderer nachfühlen kann!«

»Sage ihr auch, Henriot, daß sie sich, wenn wir so glücklich bleiben sollen, niemals mit politischen Dingen beschäftigen soll . . . und vor allem anderen darf sie niemals die Bekanntschaft meiner Mutter machen!«

»Die Königin Katharina liebt Eure Majestät tatsächlich so leidenschaftlich, daß sie vielleicht auf jede andere Liebe eifersüchtig werden könnte,« erwiderte Heinrich, der eine Ausflucht suchte, der gefährlichen Vertrauensseligkeit des Königs auszuweichen.

»Marie,« sagte der König, »ich stelle dir da den feinsten und geistvollsten Mann vor, den ich kenne. Bei Hof, weißt du, will das nicht wenig sagen, und er führt dort alle an der Nase herum. Ich allein konnte vielleicht klaren Einblick, wenn nicht in sein Herz, so doch in seinen Geist gewinnen.«

»Sire,« erwiderte Heinrich, »ich bin böse darüber, daß Sie das eine übertreiben und gleichzeitig das andere bezweifeln.«

»Ich übertreibe gar nichts, Henriot; übrigens wird man dich ja eines Tages noch kennenlernen.«

Dann wandte sich der König wieder an die junge Frau: »Er kann überdies großartig Anagramme zusammenstellen. Bitte ihn, daß er eines aus deinem Namen verfertigt, und ich bürge dafür, daß er es trifft!«

»Oh, was soll man aus dem Namen eines armen Mädchens, wie ich es bin, herausfinden? Kann sich aus dieser Buchstabenzusammenstellung, die der Zufall zu den Worten Marie Touchet zusammengefügt hat, ein schöner Gedanke ergeben?«

»Das Anagramm dieses Namens, Sire, ist gar zu leicht und mein Verdienst bei Lösung dieser Aufgabe ist nicht groß,« meinte Heinrich.

»Ah, ah, es ist schon fertig!« sagte Karl. »Du siehst . . . Marie!«

Heinrich zog aus seinem Wams einen Papierblock, entriß diesem ein Blättchen und schrieb unter dem Namen:

Marie Touchet

Je charme tout.

Dann reichte er das Blatt der jungen Frau.

»Wahrhaftig,« rief diese aus, »das ist ja ganz unmöglich!«

»Was hat er herausgefunden?« fragte Karl.

»Sire, ich wage es gar nicht zu wiederholen!«

»Sire,« erklärte Heinrich, »in dem Namen Marie Touchet ist, wenn man aus dem I ein J macht, Buchstabe für Buchstabe der zutreffende Satz enthalten: je charme tout!«

»Das stimmt!« rief Karl. »Buchstabe für Buchstabe. Ich will, daß das dein Wahlspruch bleibt, verstehst du Marie? Nie war noch einer besser angebracht! Danke, Henriot. Marie, ich werde diese Worte aus Diamanten zusammenstellen lassen und dir schenken!«

Das Nachtmahl war beendigt. Von der Kirche Notre-Dame schlug es zwei Uhr.

»Und jetzt,« sagte der König, »wirst du ihm aus Dank hierfür einen guten Lehnstuhl hinstellen, in dem er bis morgen früh schlafen kann . . . nur recht weit von uns selbstverständlich, weil er schnarcht, daß man Angst bekommen kann! Wenn du vor mir aufwachst, wirst du mich gleich wecken, denn wir müssen um sechs Uhr früh bei der Bastille sein. Gute Nacht, Henriot, richte dir alles ein, wie du es brauchst! Aber,« fügte er bei und legte eine Hand auf Heinrichs Schulter, »bei deinem Leben, hörst du mich recht, Heinrich? Bei deinem Leben gehe nicht weg von hier ohne mich! Namentlich nicht, um in den Louvre zurückzukehren!«

Heinrich hatte viel zu viel beargwöhnt, als daß er nicht die Bedeutung dieser Mahnung verstanden hätte.

Karl der Neunte trat in sein Zimmer ein und Heinrich, der rauhe Bergbewohner, machte es sich im Lehnstuhl bequem und rechtfertigte so die Vorsichtsmaßregel seines Schwagers, die darin bestand, sich nicht aus dem Hause zu entfernen.

Am Morgen, bei Tagesanbruch, wurde er von Karl geweckt. Da er angezogen geschlafen hatte, brauchte er nicht lange, um sich fertig zu machen. Der König sah glücklich und heiter aus, wie man ihn sonst nie im Louvre sah. Die Stunden, die er in dem kleinen Hause in der Straße des Barres zu verbringen pflegte, waren stets sonnig und schön.

Beide mußten, um hinauszugelangen, das Schlafzimmer durchqueren. Die junge Frau lag in tiefem Schlaf in ihrem Bett, das Kind in seiner Wiege. Beide lächelten im Schlafe.

Karl sah sie einen Augenblick lang mit unbeschreiblicher Rührung an. Dann wandte er sich zu Heinrich von Navarra: »Henriot,« sagte er, »wenn dir der Dienst, den ich dir heute nacht erwiesen, jemals zur Kenntnis kommen sollte, wenn mir aber mittlerweile ein Unglück widerfahren wäre, dann erinnere dich dieses Kindes da, das in seiner Wiege liegt!«

Dann küßte er beide auf die Stirne und ohne Heinrich Zeit zu lassen, ihm eine Antwort zu geben, sagte er: »Adieu, meine lieben Engel!«

Und er schritt aus dem Zimmer.

Heinrich folgte nachdenklich.

Die Edelleute, denen Karl der Neunte den Auftrag gegeben hatte, warteten bei der Bastille und hielten die gesattelten zwei Pferde an der Hand. Karl gab Heinrich das Zeichen, ein Pferd zu besteigen und schwang sich auf das andere. Dann ritt er durch den Garten von Arbalete und gelangte in die äußeren Vorstädte.

»Wohin reiten wir?« fragte Heinrich.

»Wir wollen nachsehen, ob der Herzog von Anjou allein zur Prinzessin von Condé zurückgekehrt ist und ob er so viel Liebe wie Ehrgeiz empfindet, was ich stark bezweifle.«

Heinrich konnte sich diese Worte nicht deuten, er folgte dem König, ohne etwas zu sagen.

Als man im Stadtviertel Marais hinter dem Schutzwall des ganzen, damals Vorort Saint-Laurent genannten Vorstadtteiles ansichtig wurde, machte Karl seinen Begleiter auf eine Reiterschar aufmerksam. Durch den grauen Morgennebel bemerkte man die in weite Mäntel gehüllten Männer, die alle Pelzmützen trugen und vor einem schwerbeladenen Gepäckwagen ritten. In dem Maß als sie vorwärtskamen, waren auch ihre Gestalten deutlicher wahrzunehmen und man konnte bald unter ihnen auch einen Reiter bemerken, der mit einem längeren braunen Mantel bekleidet war, dessen Stirne ein Hut nach französischem Muster beschattete und der mit den anderen Reitern angeregt plauderte.

»Ah, ah!« sagte Karl, »ich zweifelte nicht.«

»Eh, Sire, ich scheine mich nicht zu irren, der Reiter im braunen Mantel ist der Herzog von Anjou?« fragte Heinrich.

»Er selbst! Komm ein wenig weg von hier, Heinrich, ich will nicht, daß wir gesehen werden.«

»Wer sind aber diese Männer in den grauen Mänteln und mit den Pelzmützen, und was mag in dem Packwagen drinnen sein?«

»Diese Männer sind die polnischen Gesandten,« erwiderte Karl, »und in dem Wagen befindet sich eine Krone! Und jetzt,« fügte er bei, indem er sein Pferd angaloppierte und gegen das Temple-Tor zuhielt, »jetzt komm, Henriot, denn ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte!«

 


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