Hans Dominik
Atomgewicht 500
Hans Dominik

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Als der blaue Wagen vor dem Portal der Company in Salisbury hielt, zeigte die Werkuhr zehn Minuten vor zwölf.

»Gerade die richtige Zeit, Mr. Clayton. Da können Sie gleich etwas Wichtiges beobachten«, sagte Dr. Wandel und gab Gordon Weisung, über den Fabrikhof bis zum Kraftwerk weiterzufahren.

»Wäre es nicht besser, erst Mr. Dowd von meiner Gegenwart zu benachrichtigen?« meinte Clayton zweifelnd.

»Später Mr. Clayton. Dowd läuft uns nicht fort.«

Dr. Wandel zog den Direktor der United mit sich ins Maschinenhaus und deutete auf die mächtigen Turboaggregate.

»Sehen Sie, Mr. Clayton, jetzt laufen die Maschinen mit einer Leistung von dreihunderttausend Pferdestärken.« Er deutete auf die Meßinstrumente der Hauptschalttafel. »Dort können Sie die augenblickliche Belastung ablesen. In sieben Minuten wird es zu Mittag pfeifen, und schlagartig wird die Belastung des Kraftwerkes auf die Hälfte absinken.«

»Hm! Doktor. Das ist mir nichts Neues. Bei uns in Detroit ist's ungefähr ebenso. Da müssen die Maschinenwärter den Dampfzufluß drosseln, im Kesselhaus haben die Heizer alle Hände voll zu tun, um die Feuer zu dämpfen.«

»Nein, mein lieber Clayton, Sie irren. Bei uns ist das eben nicht mehr der Fall.«

Es klang wie verhaltener Triumph in den Worten Dr. Wandels. »Feuer haben wir überhaupt nicht mehr unter den Kesseln, und das Wasser kocht zu jeder Zeit von selbst so stark, wie wir's brauchen. Deswegen braucht kein Heizer die Hände aus den Taschen zu nehmen.«

Clayton war unfähig, etwas zu erwidern. Wortlos folgte er dem Doktor in das Kesselhaus und staunte vor dem Unbegreiflichen, das er hier erblickte. Die Feuertüren sämtlicher Kessel standen offen, schwarz und kalt lagen die Roste da.

Wie ein Schlafwandler näherte sich Clayton einem der Kessel und brachte die Hand an dessen Wandung. Das Stahlblech war kalt.

Dr. Wandel sah seine Verwunderung und nickte. »Es ist so, Clayton, von all den Kesseln hier ist nur noch ein einziger in Betrieb. Er genügt, um den Dampf für dreihunderttausend Pferde zu liefern, und er würde auch Dampf für eine Million Pferdestärken hergeben können, wenn wir soviel brauchen. Hier steht der Kessel. Das ist er, Clayton. Sehen Sie das Manometer. Fünfunddreißig Atmosphären. Der Betriebsdruck unseres Kraftwerkes. Der Druck, auf den ich den neuen Stoff abgestimmt habe.«

»Den neuen Stoff, Doktor Wandel?« Es waren die ersten Worte, die Clayton nach langer Zeit sprach. »Sie haben den neuen Stoff, Doktor Wandel? Er arbeitet hier in diesem Kessel?«

Wieder nickte der Doktor. »Ihre Vermutung ist richtig, Mr. Clayton. Eine Messerspitze davon habe ich dem Kesselwasser hier zugesetzt. Das reicht, um das Kraftwerk einen Monat in Betrieb zu halten.«

In seine letzten Worte klang das Heulen der Sirenen. Sie kündeten die Mittagspause; an hundert Stellen im Werk wurden Motoren stillgesetzt, die Belastung des Kraftwerks sank schnell.

»Beobachten Sie das Manometer, Mr. Clayton.«

Clayton tat es. Sein Blick hing an dem Zeiger des Druckmessers.

»Was ist das, Doktor Wandel? Der Druck steigt ja! Eben noch waren es fünfunddreißig Atmosphären. Jetzt ist eine halbe dazugekommen.«

»Richtig gesehen, mein lieber Clayton, und er wird auch noch weitersteigen . . .«

»Und der Kessel wird platzen!«

Dr. Wandel schüttelte den Kopf. »Nein, Mr. Clayton. So ist das nicht. Das geht ganz anders. Bei sechsunddreißig Atmosphären ist das Spiel zu Ende. Die geringe Drucksteigerung von einer Atmosphäre genügt, um . . . ich will es einmal bildlich sagen . . . um den Hahn der atomaren Energiequelle zuzudrehen. Wir sind soweit, Clayton! Wir haben es erreicht!« Lebhafter wurden die Rede und die Miene Dr. Wandels, während er weitersprach. »Wir beherrschen die Atomenergie. Aus dem neuen Stoff kann ich sie nach meinem Willen strömen und wieder versiegen lassen. Das war's, was ich Ihnen hier zeigen wollte. Jetzt können wir zu Mr. Dowd gehen.«

Claytons Miene war bedrückt, als sie das Verwaltungsgebäude der Company betraten.

»Ich wollte, Sie hätten mir das alles nicht hier, sondern in Detroit gezeigt«, sagte er und konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.

»Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern, Mr. Clayton. Es hat keinen Zweck, jetzt noch darüber zu reden.«

Während sie einen Flur entlanggingen, begegnete ihnen Slawter. Verblüfft blieb er stehen, als er Dr. Wandel sah.

»Hallo, Doktor! Mann, sind Sie's wirklich oder ist's Ihr Geist? Wo haben Sie so lange gesteckt? Spinner ist in heller Verzweiflung, und Dowd hat Ihretwegen mit Chelmesford hin und her telephoniert.«

»Ist Mr. Dowd in seinem Zimmer?« unterbrach der Doktor Slawters Redefluß.

»Im Augenblick nicht, Doktor. Er ist über Mittag aus dem Werk gegangen. Aber sprechen Sie doch! Was für Abenteuer haben Sie erlebt? Etwas davon haben wir ja schon gehört. Den blauen Wagen vermißt Spinner auch schmerzlich. Wo steckt er?«

»Er hält draußen vor der Tür, Slawter. Gestatten Sie, daß ich die Herren bekanntmache. Herr Direktor Clayton von der United, Mr. Slawter von der Company.«

Trotz seiner gedrückten Stimmung mußte Clayton über das verdutzte Gesicht lächeln, das Slawter bei der Nennung seines Namens machte. Während er Slawters Hand schüttelte, sagte er:

»Ja, ich bin es wirklich, Sir. Herr Doktor Wandel hat nicht Ruhe gegeben, bis er mich hier in Salisbury hatte.«

»Also doch eine Art von Entführung, aber mit vertauschten Rollen«, meinte Slawter, dem ein Verständnis zu dämmern begann. »Ich hoffe, Doktor, daß Sie dabei keine Gewaltmittel benutzt haben.«

Der Doktor lachte. »Durchaus nicht, mein lieber Slawter. Aber Sie werde ich jetzt mit sanfter Gewalt von Ihrem Mittagessen abhalten. Wenn Mr. Dowd nicht da ist, wollen wir uns inzwischen bei Ihnen die neuen Patente ansehen.«

Slawter zögerte. »Ich weiß nicht, Herr Doktor . . . ist das ratsam? Die United arbeitet auf demselben Gebiet. Es könnte unseren Interessen . . .«

»Natürlich nicht alle, Mr. Slawter. Nur die sechs Grundpatente, für die das Amt in Washington die Auslegung angeordnet hat. Die übrigen siebenundzwanzig können Sie in Ihrem Tresor behalten.«

»Sie sind wirklich ein Gewaltmensch«, sagte Slawter mit einem komischen Seufzer. »Einen Direktor der United nach Salisbury zu verschleppen und mich um mein Mittagessen zu bringen . . . Nun, dann kommen Sie schon in Gottes Namen.«

Grübelnd folgte Clayton dem Voranschreitenden. Wie erfolgreich und wie schnell mußte der Doktor hier gearbeitet haben, um das zu erreichen! Sechs Patente bereits reif für die öffentliche Auslegung. An denen war kaum noch zu rütteln. Sie waren damit schon so gut wie erteilt, und Dr. Wandel lief wirklich keine Gefahr mehr, wenn er sie der Konkurrenz zeigte. Außerdem siebenundzwanzig andere Patente angemeldet.

Damit hatte die Company dies Gebiet derartig für sich geschützt, daß es für die United auf ihm nicht mehr viel zu holen gab.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Slawter, als sie in seinem Zimmer waren, und schloß den Safe auf. »Auf Ihre Verantwortung, Doktor«, fuhr er fort und legte sechs mit Schriftstücken gefüllte Mappen auf den Tisch.

»Bitte, Mr. Clayton, sehen Sie sich die Sachen in aller Ruhe durch«, sagte Dr. Wandel und schob die Mappen vor Clayton hin. »Vor einer Stunde kommt Dowd doch nicht zurück.« – –

Die Stunde verfloß und die nächste halbe auch. Längst hatte sich Slawter mit einer Entschuldigung empfohlen, um doch noch zu seinem Lunch zu kommen. Dr. Wandel hatte sich einen Schreibblock gegriffen und bedeckte dessen Blätter mit endlosen mathematischen Ableitungen von jener Art, die Slawter lieber aus der Ferne als aus der Nähe bewunderte.

Clayton aber saß, den Kopf in die Hände gestützt, und studierte die Patentschriften. Langsam wandte er Seite um Seite um, und je weiter er kam, desto tiefer sank seine Hoffnung.

Schon die Ansprüche, die in diesen Anmeldungen festgelegt waren, sicherten der Company die unbedingte Vorherrschaft auf dem neuerschlossenen Gebiet der künstlichen Sonnenstoffe. Jeder andere, der in derselben Richtung arbeiten wollte, würde sich notgedrungen mit Salisbury stellen und Lizenzen auf diese Grundpatente nehmen müssen. Darüber war sich Clayton klar, als er die letzte Anmeldung zuklappte.

»Herr Doktor Wandel!« Clayton mußte den Namen zum zweiten und dritten Mal rufen, bevor Dr. Wandel darauf hörte, und auch dann waren seine Gedanken noch immer bei den Problemen der neuen Technik.

»Ich warne Sie, Clayton«, begann er unvermittelt, »in Detroit Versuche auf eigene Faust anzustellen. Die neuen Stoffe bergen schwere Gefahren für den, der ihr Wesen nicht kennt, in sich. Einmal ist Ihr Werk in Detroit wie durch ein Wunder der Vernichtung entgangen, das zweite Mal könnte es anders kommen.«

»Ich denke auch nicht daran, Doktor Wandel«, wehrte Clayton ab. »Wir werden mit der Company über Lizenzen verhandeln. Heute noch will ich mit Dowd darüber sprechen.«

»Es ist das Beste, das Sie tun können, Mr. Clayton. Und vor allem, vergessen Sie eins nicht. Halten Sie sich später genau an die Vorschriften, die ich Slawter gegeben habe. Man wird sie Ihnen zur Verfügung stellen, sobald die United mit der Company einig ist. Sichern Sie sich die Unterstützung Slawters für die erste Einrichtung Ihres Betriebes. Wenn Sie sich an seine Anweisungen halten, brauchen Sie keine Katastrophen zu fürchten.«

Schon ein paarmal hatte Clayton versucht, ihn zu unterbrechen, jetzt kam er zu Wort.

»Nicht Mr. Slawter, Sie wollen wir haben, Herr Doktor, wenn wir den neuen Betrieb aufbauen. Ich hoffe, es wird mir gelingen, das bei Dowd zu erreichen.«

Der Doktor wiegte den Kopf hin und her. »Dowd kann auch nicht mehr geben, als er selber hat, Clayton, und mich hat er nicht mehr. Ich habe der Company geleistet, was ich ihr versprach. Meine Arbeit in den Staaten ist getan.«

»Was soll das heißen, Doktor?«

»Daß ich in die Heimat zurückkehre, Clayton. Die deutschen Patente gehören mir. In Deutschland will ich mit ihnen arbeiten . . .«

Dr. Wandel schaute in die Ferne, als ob er eine Vision hätte.

»Ich sehe ein neues, glücklicheres Zeitalter heraufziehen, Clayton. An vielen tausend Stellen wird das neue Element arbeiten. Aus vielen tausend Quellen wird sich die neue Energie über das Land ergießen . . . die Ernte vervielfachen, Ödland befruchten, neue Lebensmöglichkeiten bringen . . .«

Wie aus einem Traum erwachend, fuhr er sich über die Augen.

»Aber viel Arbeit wird es noch kosten, Clayton. Für Sie in den Staaten, für mich in der Heimat. Je eher wir damit beginnen, um so besser wird es sein. Kommen Sie, wir wollen zu Dowd gehen.«

*

Die Besprechung zwischen dem Chief Manager der Company und dem Direktor der United zog sich in die Länge. Öfter als einmal war Clayton bereit, die Verhandlungen abzubrechen, und sie wären auch gescheitert, wenn Dr. Wandel nicht jedesmal eingegriffen hätte.

Sehr schnell mußte Dowd erkennen, daß der Doktor diesem Spiel der Kräfte nicht als müßiger Zuschauer beiwohnte, sondern eingriff, sobald es ihm nötig erschien, und es zeigte sich weiter, daß der Deutsche noch ein paar hohe Trümpfe in der Hand hielt und sich nicht scheute, den Chief Manager damit zu überstechen, sobald dessen Ansprüche und Forderungen für Clayton untragbar wurden. Wenn die Company späterhin an den weiteren Arbeiten und Entdeckungen des Doktors zu billigen Bedingungen Anteil haben wollte, dann mußte sie jetzt auch ihrerseits der United billige Bedingungen gewähren. Auf diese Formel brachte Dr. Wandel dem widerstrebenden Dowd zum Trotz endlich die Verhandlungen, und auf dieser Grundlage kam ein vorläufiges Abkommen zustande.

Und dann war es soweit, daß Dowd zum Telephon greifen konnte und Chelmesford die erfreuliche Mitteilung machte, daß sein verlorener Direktor sich wieder angefunden habe, und dann jagte Clayton in dem blauen Hundertundvierzigpferdigen zum Flugplatz von Salisbury, um Chelmesford noch vor Werkschluß zu erreichen.

*

Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt. In Salisbury und in Detroit wuchsen die Anlagen für die Erzeugung des neuen Kraftstoffes, des Sonnenstoffes, aus dem Boden. In Tag- und Nachtschichten wurde gebaut, bis sie fertig dastanden, und einen nicht unbeträchtlichen Teil dieser Zeit verbrachte Robert Slawter im Flugzeug zwischen den beiden Städten.

Bald mußte er hier, bald wieder dort sein, um einzugreifen, wenn sich Abweichungen von den Plänen und Vorschriften zeigten. Und fast noch mehr mußte er sich zerteilen, als die Anlagen dann in Betrieb kamen, als in den beiden großen Werken die ersten Chargen des neuen Strahlstoffes erstellt wurden, um dann ins Land hinauszugehen und die Energiewirtschaft in neue Bahnen zu leiten.

Um diese Zeit hatte Dr. Wandel die Fahrt über den Ozean schon längst hinter sich. In der alten Heimat stand er auf einer Baustelle und sah, wie sich Steine und Balken fügten. Er sah, wie keuchende Traktoren Panzerkugeln herbeischleppten, gewaltiger und größer noch als jener letzte Autoklav, den er in Salisbury zurückgelassen hatte. Tanks und Pumpenanlagen entstanden. Unaufhaltsam rückte der Tag heran, da auch hier hinter schweren Stahlwänden elektrische Sonnen aufbrennen und in ihren Gluten unter Riesendrücken irdische Materie sich wandeln würde zu dem neuen, segenbringenden Kraftstoff. Für unsere Geschichte mag dieser Tag das Ende bedeuten; doch nimmt man es recht, so beginnt an ihm schon wieder eine andere, die von vielen glücklichen, friedlichen Tagen und Jahren zu erzählen weiß.

 


 


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