Hans Dominik
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Hans Dominik

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Tom White war bei seiner Meldung ein kleiner Irrtum unterlaufen, der sich in den Maßnahmen Mr. Spinners weiter auswirkte. Eine hundertpferdige braune Limousine kam einige Minuten vor acht auf der Landstraße von Clarksville nach Salisbury, und obwohl die Herren Lawrence und Gordon als vorsichtige Leute die Straße schon bald nach acht mit ihrem Wagen beobachteten, kamen sie doch zu spät und warteten lange Zeit vergeblich.

Am Abend dieses Tages, an dem sich bei der Company in Salisbury mancherlei und bei der United in Detroit noch viel mehr ereignet hatte, ging Dr. Wandel nach Werkschluß zunächst in ein Restaurant in der Washington Avenue, um dort zu Abend zu essen. Schneller als sonst wurde er heute mit seiner Mahlzeit fertig; zu sehr beschäftigte ihn die Gefahr, die der United von dem unglückseligen Erzeugnis MacGans drohte, und verdarb ihm die Lust an Speise und Trank.

Mit einer unruhigen Bewegung schob er den erst halb geleerten Teller zur Seite, zahlte seine Zeche und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung.

In seine Gedanken vertieft, achtete er nicht auf die Straßenpassanten und am allerwenigsten auf einen Mann, der ihm bereits vom Werk bis zu der Wirtschaft gefolgt war und sich auch jetzt ziemlich dicht hinter ihm hielt. Nach zehn Minuten etwa erreichte Dr. Wandel sein Haus und zog einen Schlüsselbund aus der Tasche. Auch der andere machte im Schatten eines Baumes halt. Es war Mr. Smith aus Detroit. Eben derselbe Smith, der unter anderem auch am Saint-Clair-See die Rolle eines Briefträgers der USA-Post mit so gutem Erfolg gespielt hatte.

Die Gedanken, die den Doktor während des ganzen Tages im Werk verfolgt hatten, ließen ihn auch in seiner Wohnung nicht los. Wie konnte man die schwere Gefahr, von der die United bedroht war, beseitigen? Das war das Problem, das er seit langen Stunden hin und her wälzte, ohne eine Lösung finden zu können.

Der Autoklav in Detroit war zerstört, sonst hätte er's dort ebenso machen können wie in Salisbury. Ein anderer Ausweg kam ihm in den Sinn. Den gefährlichen Stoff in ein Motorboot packen, damit weit auf den Eriesee hinausfahren und ihn dort an der tiefsten Stelle versenken. Gewiß, es war eine Möglichkeit, wenn das Teufelszeug nicht etwa schon im Motorboot losging. Aber befriedigend war diese Lösung nicht.

Der Stoff würde danach auf dem Seegrunde liegen . . . vielleicht nur zehn Minuten, vielleicht aber auch hundert Jahre unverändert. Doch zu irgendeiner Zeit würden seine labilen Atome bestimmt einmal einstürzen, und unbedenklich war die riesenhafte Wärmemenge nicht, die dabei frei werden mußte. Der fast unvermeidliche Dampfausbruch konnte einem Schiff, das die Stelle passierte, verhängnisvoll werden.

Eine andere Lösung mußte sich finden lassen. Entweder die Atome wieder festschmieden, wie er's in Salisbury getan hatte, oder sie an einem Ort, wo sie keinen Schaden anrichten konnten, sofort zur Explosion bringen. Eine Möglichkeit, die dem Doktor im Werk schon ein paarmal traumhaft durch den Kopf gegangen war, kam ihm wieder in den Sinn, doch jetzt sah er sie viel klarer und greifbarer. Eilig brachte er den Ideengang zu Papier, rechnete, entwickelte neue Formeln, rechnete weiter und hatte die Lösung plötzlich in unwiderlegbaren Zahlen vor sich stehen.

So mußte es gehen, das war der richtige Ausweg. Befriedigt zog er den Schlußstrich unter das Ergebnis, als es klingelte.

Dr. Wandel sah auf die Uhr. Schon halb neun. Wer wollte ihn zu dieser späten Stunde noch besuchen? Als es zum zweiten Male klingelte, erinnerte er sich, daß seine Bedienung heute ihren freien Abend hatte, und die Warnungen Spinners gingen ihm durch den Sinn. Er steckte eine schußfertige Waffe in seine linke Rocktasche und behielt die Hand am Abzug, um sofort aus der Tasche schießen zu können. Dann ging er hinaus und öffnete.

Ein jüngerer Mann stand vor der Tür, mittelgroß, eher schmächtig als stark. Jedenfalls keine Persönlichkeit, von der er einen großen Überfall zu befürchten brauchte.

Als Mr. Smith aus Detroit stellte der Fremde sich vor, und Dr. Wandel nahm die Hand aus der linken Tasche, als er hörte, daß der Besucher gekommen sei, um ihm Grüße von Joe Schillinger zu überbringen. Er bat ihn einzutreten, stellte Soda und Whisky auf den Tisch, und schnell war ein Gespräch im Gange.

Zweifellos mußte Mr. Smith mit Schillinger gut bekannt sein, obwohl sich Dr. Wandel nicht erinnern konnte, daß Schillinger einmal seinen Namen erwähnt hätte. Doch das mochte wohl Zufall sein, war ihm vielleicht auch entfallen. Viel Interessantes wußte der späte Gast zu berichten. Nach seiner Erzählung war er gerade zusammen mit Schillinger an dem Stichkanal, als dort der große Dampfausbruch erfolgte.

In drolliger Weise gab er die verschiedenen Deutungen der unerklärlichen Erscheinung zum besten, die er mit seinem Freund Schillinger ausgeklügelt hatte. Dr. Wandel warf ein paar Bemerkungen dazwischen, und unwillkürlich kam man dadurch auf die United zu sprechen.

Der Doktor wollte hören, wie es dort stand; Mr. Smith wußte nichts Besonderes zu berichten. Ob es seit dem letzten großen Brand im Detroit-Werk noch Unfälle ähnlicher Art gegeben hätte, fragte der Doktor bestimmter. Smith schüttelte den Kopf.

»Bis heute morgen jedenfalls nicht, Herr Doktor. Ich bin vormittags um elf Uhr von Detroit fortgefahren.«

»Erst um elf Uhr, Mr. Smith? Sind Sie mit einem Flugzeug hierhergekommen?«

Smith lächelte. »Ich verstehe, Herr Doktor, Sie wundern sich über die kurze Fahrzeit. Nein! Ein Flugzeug habe ich nicht benutzt. Meine hundertpferdige Limousine hat den Weg von Detroit nach Salisbury in weniger als sechs Stunden geschafft.«

»Meine Hochachtung, Mr. Smith, das muß ein brillanter Wagen sein; von hier bis Detroit sind es zwölfhundert Kilometer. Alle Wetter noch mal! Da sind Sie ja mit einem Stundendurchschnitt von zweihundert Kilometern . . . hm! . . . das wäre . . .«

Dr. Wandel brach ab, irgendeine Idee schien ihn plötzlich zu beschäftigen.

»Stimmt, Herr Doktor. Genau gerechnet zweihundert Kilometer Stundendurchschnitt. Die vielen Städte kosten natürlich Zeit. Auf freier Strecke macht mein Wagen 250 Kilometer«, sagte Smith und schwieg dann, weil auch ihm ein besonderer Gedanke gekommen war.

Der Doktor scheint sich für Kraftwagen zu interessieren. Vielleicht kann ich die Geschichte so drehen, daß ich ihm unsern Wagen auf der Straße zeige . . . dann 'rein mit ihm und ab nach Detroit, dachte Smith bei sich.

»Haben Sie Lust, Herr Doktor, sich meinen Wagen mal anzusehen?« fragte er laut.

»Gewiß, Mr. Smith, recht gern. Noch lieber möchte ich eigentlich darin fahren.«

Smith hatte Mühe, seine Freude zu verbergen.

»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor«, beeilte er sich zu antworten. »Wenn es Ihnen recht ist, können wir auch ein Stückchen auf die Landstraße hinausfahren. Da sollen Sie mal sehen, was der Hundertpferdige leistet.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Smith, aber . . . hm! Sagen Sie, wann gedenken Sie nach Detroit zurückzufahren?«

Smith stutzte. Durchschaute ihn der Doktor etwa? War alles, was er bisher gesagt hatte, mit wohlberechneter Absicht gesprochen? Nach dem, was er in Detroit über den Deutschen gehört hatte, war ihm allerlei zuzutrauen und Vorsicht am Platze.

»Ich denke, sehr bald, Herr Doktor«, sagte er nach kurzem Überlegen, »vielleicht schon morgen früh.«

»Schade!«

Das Wort war dem Doktor entfahren, ohne daß er's wollte. »Wie meinen Sie, Herr Doktor?« fragte Smith verwundert.

»Ich dachte, daß Sie noch heute nacht fahren wollten.«

Smith hatte ein unangenehmes Gefühl, als ob der Doktor mit ihm spiele wie die Katze mit der Maus. Er glaubte zu träumen, als er den Doktor weitersprechen hörte.

»Es ist schade, Mr. Smith. Wenn Sie noch heute nacht gefahren wären, hätte ich Sie gebeten, mich in Ihrem Wagen mitzunehmen. So muß ich das Frühflugzeug benutzen.«

Mit Mühe bewahrte Smith seine Haltung. »Sie wollen nach Detroit?« fragte er, »heute nacht noch, Herr Doktor?«

»So schnell wie möglich, Mr. Smith.« Dr. Wandel wurde sichtlich ernst, während er weitersprach. »Ich habe dringend mit Direktor Clayton zu sprechen.«

»Mit Direktor Clayton von der United?« entfuhr es Smith.

»Mit Direktor Clayton. Es handelt sich um Dinge von größter Wichtigkeit. Ich kann Ihnen das im einzelnen jetzt nicht erklären, Mr. Smith. Ich muß den Direktor schleunigst sprechen und warnen.«

Smith wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er war hierhergekommen, um den Doktor gewaltsam auszuheben und zur United zu schaffen, und nun erklärte ihm der, daß er von sich aus größte Eile hätte, zur United zu kommen . . . zu Direktor Clayton noch zu allem Überfluß, von dem er, Smith, seinen Auftrag bekommen hatte. Steckte da am Ende auch wieder ein Trick dahinter? Smith entschloß sich, auf den Busch zu klopfen.

»Ich bin erstaunt, Herr Doktor, daß Sie Direktor Clayton aufsuchen wollen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Schillinger deutete einmal an, daß Sie in Unfrieden von Clayton geschieden wären.«

Dr. Wandel konnte trotz allem Ernst ein Lächeln nicht unterdrücken. »In Unfrieden, Mr. Smith? Da sind Sie nicht ganz unterrichtet. Einen Mordskrach hat's zwischen der United und mir gegeben. Ich habe damals Clayton und seinen Leuten den ganzen Krempel vor die Füße geworfen und bin zur Konkurrenz gegangen. So ist die Geschichte gewesen, damit Sie's richtig wissen.«

»Ja, aber . . . aber ich verstehe nicht« – Smith kam ins Stottern –, »ich begreife nicht, daß Sie danach Direktor Clayton aufsuchen wollen. Er wird Sie vielleicht unfreundlich empfangen . . . vielleicht gar nicht empfangen wollen . . .«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Mr. Smith. Er wird mich empfangen, sobald er die drei oder vier Worte gelesen hat, die ich ihm in sein Büro schicken will. Es geht um das Sein oder Nichtsein der United, Mr. Smith. Davor müssen alle Meinungsverschiedenheiten verstummen. Ich habe jetzt die Pflicht, Clayton und seinen Leuten zu helfen, und bald muß es geschehen; die Stunden sind kostbar.«

»Wenn es Ihr ausdrücklicher Wunsch ist . . .« – Smith wiederholte die Worte noch einmal –, »Ihr ausdrücklicher Wunsch, Herr Doktor Wandel, dann können wir sofort fahren. Mein Wagen steht bei der Tankstelle an der übernächsten Straßenecke. Ich werde neuen Treibstoff nehmen und hier vorfahren.«

Dr. Wandel ergriff Smiths Rechte und drückte sie.

»Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, Mr. Smith. Sie ahnen nicht, welchen Dienst Sie der United dadurch erweisen. Kommen Sie recht schnell zurück. Ich mache mich inzwischen für die Fahrt bereit.« – –

»Hallo, Boß, wie steht's?« wurde Smith vierstimmig empfangen, als er zur Tankstelle kam.

»Großartig, Gentlemen! Braucht den Doktor nicht zu holen. Er kommt von selber.«

»Aha, verstehe! Sie haben ihn mit dem Wagen verleckert. Kleine Probefahrt auf der Landstraße und so weiter. Was?« grinste einer von den vieren.

»Falsch geraten, Johnson! Der Doktor will mit mir nach Detroit fahren. Hat dringend mit Direktor Clayton zu sprechen.«

»Wa . . . was, Sir?« Johnson riß den Mund vor Staunen auf, und seine drei Kumpane taten das gleiche.

»Sie werden fahren, Johnson. Sie setzen sich als Reservefahrer neben ihn, Baldwin. Ihr beiden andern verdrückt euch. Nehmt das Frühflugzeug nach Detroit. Los, los, Leute! Wir haben keine Zeit zu verlieren.« – –

Fünf Minuten später ließ sich Dr. Wandel neben Smith in das weiche Polster der Limousine sinken. Die Tür fiel ins Schloß und gab einen dumpfen Klang. Der Doktor klopfte mit dem Fingerknöchel dagegen.

»Was ist das, Mr. Smith?«

»Stahl, Herr Doktor. Für alle Fälle gut, wenn man über Land fährt. Die Straßen sind draußen nicht so sicher . . .« Während Smith noch nach einem Ende für seinen Satz suchte, setzte sich der Wagen bereits in Bewegung, rollte durch Salisbury und erreichte die große Autostraße nach Clarksville. Mit einer Geschwindigkeit von mehr als zweihundertfünfzig Stundenkilometer schoß das Gefährt auf ihr dahin. Smith hatte eher zuwenig als zuviel über seinen Wagen gesagt.

Die Straße war zu dieser Stunde fast leer. Selten nur begegnete ihnen ein Fahrzeug, noch seltener hatten sie Gelegenheit, eins zu überholen. Die Lichter von Clarksville waren bereits in Sicht, als die Limousine an einem blauen Tourenwagen vorbeiflitzte, der langsam dahinfuhr. Wenige Minuten später erreichten sie Clarksville, und Johnson sah sich genötigt, das Tempo vorübergehend zu verlangsamen. Kaum hatten sie den Ort hinter sich, als er wieder Vollgas gab und sich nach Kräften bemühte, die verlorenen Minuten einzuholen.

»Ihr Wagen fährt wirklich vorzüglich, Mr. Smith«, sagte Dr. Wandel mit einem Blick auf das Tachometer, dessen Zeiger um die Zahl zweihundertfünfzig herum zitterte. – –

»Gordon! Die Limousine!« schrie Lawrence, als Johnson kurz vor Clarksville an dem blauen Tourenwagen vorbeischoß. Im nächsten Augenblick heulte der Hundertvierzigpferdige mit allen seinen Pferdestärken auf und jagte mit Vollgas auf Clarksville zu. Aber auch Gordon mußte in den engen Straßen des Ortes langsam fahren, und als er die große Straße wieder erreichte, war von der Limousine weit und breit nichts mehr zu sehen.

»Sie muß vor uns sein, Gordon«, feuerte ihn Lawrence an. »Geben Sie Vollgas! Holen Sie aus dem Wagen 'raus, was drin ist.« Gordon tat sein möglichstes, und vor Greenwood sah er das Schlußlicht der braunen Limousine in der Ferne wieder vor sich. Dann kam die Fahrt durch das Städtchen. Als Gordon zur anderen Seite wieder hinausfuhr, hingen Trümmer eines Fahrrades und die wenig ansehnlichen Überreste einer toten Ziege an der Stoßstange seines Wagens. Er hatte wirklich getan, was er konnte, aber zum zweitenmal war ihm der andere Wagen außer Sicht gekommen. Eine mörderisches Tempo legte das braune Auto vor, und gerade dieses Tempo bestärkte Lawrence in der Überzeugung, daß der Streich gelungen, der deutsche Doktor bereits in den Händen der United-Leute sei.

»Geben Sie Gas, Gordon! Fahren Sie doch zu, Mensch!« Wutentbrannt brüllte er es dem andern in die Ohren und schickte eine Kette von Flüchen hinterher, bis seine Stimme sich überschlug. Bis zur nächsten Stadt waren es reichlich hundertundfünfzig Kilometer, weil die Autostraße die kleineren dazwischenliegenden Ortschaften umging, und hier, auf der langen freien Strecke, zeigte es sich, daß hundertvierzig Pferde doch schneller sind als hundert. Das Schlußlicht des braunen Wagens wurde wieder sichtbar, und immer näher rückte der blaue auf. Jetzt betrug der Abstand noch zweihundert Meter. Jetzt nur noch hundert.

Dr. Wandel zog seine Uhr aus der Tasche und versuchte die Zahl auf einem der vorüberfliegenden Meilensteine abzulesen. Als es ihm bei dem Höllentempo nicht gelang, steckte er sie wieder fort. Smith sah es.

»Ich denke, Herr Doktor, in sieben Stunden werden wir es schaffen«, sagte er.

»Verdammt!« fluchte Smith.

»Was gibt's?« fragte Dr. Wandel.

»Vorsicht!« schrie Smith dem Fahrer zu.

Im nächsten Augenblick hielt der blaue Wagen neben der Limousine. Seine Seitentür sprang auf. Lawrence machte Anstalten, aus dem Wagen zu steigen.

»Bleiben Sie drin, lassen Sie die andern zuerst kommen!« warnte Gordon.

»Ah, bah, Jungens! Ihr wißt, was ihr zu tun habt«, sagte Lawrence und setzte den Fuß auf den Wagentritt, als auch die Tür der Limousine sich öffnete.

»Hallo, da ist er ja! Hierher zu uns, Doktor!« schrie Lawrence, als Dr. Wandel aus dem braunen Wagen auf die Straße trat. »Hatte ich doch recht, Gordon. Na, Mr. Spinner wird sich freuen, wenn wir ihm seinen Mann gesund wiederbringen.«

Der Doktor war inzwischen dicht an ihn herangetreten. Lawrence wollte nach ihm greifen, um ihn in seinen Wagen zu ziehen. Er erwartete, das verstörte Opfer eines Überfalles zu finden, und fuhr verblüfft zurück, als Dr. Wandel ihn schneidend anherrschte.

»Sind Sie toll geworden, Mann? Einen friedlichen Wagen auf der Landstraße zu überfallen? Wissen Sie, daß Kidnappers in den Staaten gehängt werden?«

Lawrence brauchte Zeit, sich zu fassen.

»Herr Doktor Wandel . . . Sie sind Herr Doktor Wandel, ich kenne Sie doch. Wir sind zu Ihrer Befreiung gekommen . . . im Auftrage von Mr. Spinner . . .«

Der Doktor machte eine unmutige Bewegung. »Übertriebene Vorsicht von Mr. Spinner. Ich bin mit einem Bekannten auf der Fahrt nach Detroit, habe große Eile, hinzukommen, und Sie überfallen uns. Natürlich im Auftrage von Mr. Spinner, Herr . . . Herr . . . Wer sind Sie denn?«

»Lawrence ist mein Name. Von der Abteilung Spinner.«

»Ist alles kein Grund, Sir, Mr. Smith die Reifen zu verderben und mich aufzuhalten.«

Während die Rede zwischen Lawrence und Dr. Wandel hin und her ging, steckte Smith den Kopf vorsichtig aus der Wagentür. Schnell zog er ihn wieder zurück, aber doch nicht schnell genug, als daß ihn Lawrence nicht erkannt hätte.

»Aha! Mr. Smith! Da steckt er ja. Ein guter Bekannter von Ihnen, Herr Doktor? Wissen Sie auch, daß er zur Sicherheitsabteilung der United gehört und von Direktor Clayton nach Salisbury geschickt wurde, um Sie auszuheben?«

Der Doktor wandte sich nach der Limousine um. »Sie haben es gehört, Mr. Smith. Was sagen Sie dazu?«

Smith lehnte sich so weit wie möglich in das Polster zurück und antwortete nicht.

»Reden Sie doch, Mann«, fuhr ihn Dr. Wandel an, »wollen Sie das auf sich sitzen lassen?«

»Es wird ihm kaum was anderes übrigbleiben, Herr Doktor«, sagte Lawrence, der inzwischen auch an den braunen Wagen herangetreten war.

Smith hatte sich inzwischen wieder gefaßt. »Ich verstehe nicht, was Sie zusammenreden«, sagte er mit gut gespielter Entrüstung. »Herr Doktor Wandel hat mich gebeten, ihn so schnell wie möglich nach Detroit zu bringen. Ich war dabei, ihm den Gefallen zu tun, da kommen Sie und überfallen uns auf offener Landstraße.«

Lawrence lachte. »Das glauben Sie ja selber nicht, Smith.«

»Doch, Mr. Lawrence, das ist richtig«, mischte sich nun Dr. Wandel ein. »Ich bin auf dem Wege zu Direktor Clayton . . . Zum Teufel, jetzt sitzen wir hier fest und vertrödeln die Zeit! Ich muß weiter! Was soll jetzt geschehen?«

Lawrence sah ihn zweifelnd an.

»Ich weiß nicht ob Mr. Spinner mit Ihrer Fahrt nach Detroit einverstanden sein wird. Sie setzen dabei Ihre Freiheit aufs Spiel, Herr Doktor . . .«

»Das geht weder Mr. Spinner noch Sie etwas an«, fuhr ihm der Doktor in seine Rede, »ich muß nach Detroit, ich will nach Detroit, und so oder so werde ich hinkommen.«

Lawrence sah ein, daß es nur mit Gewalt möglich gewesen wäre, den Doktor an der Fahrt zu hindern, und das wollte er nicht auf seine Kappe nehmen.

»Ich habe Sie gewarnt, Herr Doktor«, begann er vorsichtig.

»Ihre Warnungen sind überflüssig«, unterbrach ihn Dr. Wandel ungeduldig, »ich habe dringend mit Clayton zu sprechen, ich muß nach Detroit.«

»Dann aber nicht mit Smith, Herr Doktor, sondern mit uns und unter unserm Schutz.«

»Wie ich hinkomme, ist mir egal, Mr. Lawrence. Nur endlich vorwärts! Während wir hier sprechen, vergeht eine Viertelstunde nach der anderen.«

»Los, Jungens! Mal schleunigst das Reserverad aufgesetzt. Könntet schon längst dabeisein.« Willig gehorchten sie seinen Anordnungen, ohne sich weiter um Smith zu kümmern. Witterten sie doch die Möglichkeit, mit guter Art aus der üblen Sache herauszukommen. In wenigen Minuten war das beschädigte Rad ausgewechselt.

»Nun mal die Leine her«, kommandierte Lawrence weiter. »Ihr werdet uns nach Irontown einschleppen. Gleich rechts an der Hauptstraße liegt die Werkstatt von Patterson, dahin bringt ihr uns. Bitte, Herr Doktor«, er deutete auf den zweiten Rücksitz, »wollen Sie neben mir Platz nehmen.«

Vor der Werkstatt in Irontown warf Gordon das Schleppkabel los, und die braune Limousine rollte allein weiter.

Lawrence hatte mit dem Inhaber der Werkstatt zu verhandeln. Der Kühler des Hundertvierzigpferdigen war hoffnungslos zerstört, eine Reparatur ausgeschlossen. Aber die Werkstatt hatte ein reichhaltiges Lager von Ersatzteilen, und glücklicherweise fand sich auch ein passender Kühler darunter. Schon zischten die Flammen der Blaubrenner, um die Lötungen zu lösen. Der alte Kühler flog in die Ecke, der neue kam an seine Stelle. Schrauben wurden festgezogen, noch einmal traten die Lötflammen in Tätigkeit, und dann – nicht länger als fünf Minuten hatte das Ganze gedauert – war die Reparatur vollendet. Während einer der Werkleute Wasser in den neuen Kühler füllte, drückte Lawrence dem Meister eine Banknote in die Hand. Ein kurzes Winken noch. Schon sprang der Motor an, und weiter ging die Fahrt, reichlich schnell schon in den Straßen von Irontown, in einem Höllentempo, sobald sie die Stadt hinter sich hatten.

»Fabelhaft, Mr. Lawrence!« sagte Dr. Wandel mit einem Blick auf den Geschwindigkeitsmesser.

»Hundertvierzig Pferde laufen schneller als hundert, Herr Doktor«, wehrte Lawrence das Lob Dr. Wandels ab.

Die braune Limousine bog kurz hinter der Werkstatt in eine Seitengasse ein und erreichte auf Umwegen wieder die von Irontown nach Salisbury führende Landstraße. Dort machten sie halt. Johnson ließ die Hände vom Steuer sinken und drehte sich um.

»Was jetzt?« fragte er.

»Mit Detroit funken!« antwortete Smith lakonisch. Johnson und Baldwin stiegen aus und machten sich an dem Wagen zu schaffen. Eine Kurbel wurde gedreht, ein Funkmast wuchs neben der Motorhaube in die Höhe, und es zeigte sich, daß die braune Limousine außer manchen andern Dingen auch eine vollständige Kurzwellenstation an Bord hatte. Baldwin schaltete und stöpselte, Smith schob sich die Kopfhörer über die Ohren, und dann begann die Morsetaste unter seinen Fingern zu klappern.

Dreimal jagte der mit dem Nachtdienst der Sicherheitsabteilung verabredete Anruf aus der Wagenantenne. Ein schnelles Umschalten danach auf Empfang. Ein Lauschen am Telephon. Die Abteilung meldete sich, die Verbindung war hergestellt. Rastlos ließ Smith die Taste weiterklappern, und eine lange Geschichte trugen die kurzen Wellen durch den Äther.

Mechanisch las der Telegraphist die Buchstaben und Worte ab, ohne ihren Sinn zu begreifen. Was sollte das heißen? Dr. Wandel nicht nach Salisbury zurückgekehrt? Mit dem Wagen und den Leuten der Company nach Nordwesten weitergefahren? Auf dem Wege zu Direktor Clayton . . .

»Gegen vier Uhr kann der Wagen in Detroit sein«, endete der Funkspruch. Bis dahin waren es noch drei Stunden, Zeit genug, um zu handeln und alle Vorbereitungen zu treffen. –

Clayton war nach den Aufregungen des Tages erst spät zur Ruhe gekommen. Er lag im ersten Schlaf, aber sein Hirn arbeitete weiter und verflocht die letzten Ereignisse zu wirren Traumbildern. Eben noch sah er MacGan am Autoklav stehen. Dann war es plötzlich wieder Chelmesford, und dann verschwamm die gewaltige Stahlkugel in fließenden. Nebelschwaden und wurde ein Lauschmikrophon, das Stackpool in seinen Händen hielt.

Wieder wandelte sich danach das Bild. Die andere Seite der Geheimanlage tauchte auf. Da saß MacGan und drückte einen Hörer ans Ohr. War plötzlich nicht mehr MacGan, sondern Wilkin, und auch der einfache Kopfhörer verschwand. Ein vollständiger Telephonapparat stand dafür auf einem Tisch, an dem jetzt nicht mehr Wilkin, sondern White saß. Traumhaft wirbelte alles durcheinander, aber eins blieb: das Telephon auf dem Tisch, und das meldete sich.

Erst undeutlich, dann immer lauter tönte seine Glocke und schrillte schließlich so kräftig durch den Raum, daß Clayton es unangenehm empfand. Warum nimmt denn White den Hörer nicht ab, damit der Lärm endlich ein Ende hat? dachte Clayton unwillig, aber da waren auf einmal auch nur ziehende Nebel, wo eben noch White gesessen hatte. Nur das Telephon stand noch da und klingelte unermüdlich weiter, bis Clayton mit Anstrengung die Augen aufriß. Da verschwanden auch Tisch und Telephon, und er wurde sich bewußt, daß er zu Hause in seinem Bett lag, aber das Klingeln hörte immer noch nicht auf.

Halbwach griff er nach dem Lampenschalter, und das Licht ermunterte ihn weiter. Das Klingeln kam von dem Fernsprecher, der auf seinem Nachttisch stand. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, um den letzten Schlaf zu verscheuchen, richtete sich auf und warf einen Blick auf die Uhr. Halb zwei . . . Warum störte man ihn mitten in der Nacht? . . . Vom Werk mußte der Anruf kommen, der Apparat hatte direkte Leitung zur Werkzentrale . . . Er raffte sich vollends auf und griff nach dem Hörer.

Der Nachtdienst der Sicherheitsabteilung meldete sich. Clayton wollte etwas gegen die nächtliche Störung sagen, aber er verstummte, als er hörte, was am anderen Ende des Drahtes in das Mikrophon gesprochen wurde, und hatte in der ersten Minute das gleiche Gefühl wie der Mann am Empfänger, als er die Funksprüche aufnahm, den Gedanken: Smith ist verrückt geworden. Aber je länger er anhörte, was ihm von der andern Seite gemeldet wurde, um so mehr änderte sich seine Ansicht.

Unmöglich war es ja schließlich nicht, was Smith funkte. Der deutsche Doktor war bisweilen unberechenbar, das hatte Clayton selber öfter als einmal erfahren. Aber schwerwiegende Gründe mußte er haben, wenn er aus freien Stücken nach Detroit zurückkehrte. Clayton ließ sich den letzten Teil der Funksprüche noch einmal vorlesen und stutzte, als er die Worte hörte: »Ich muß Direktor Clayton schnellstens sprechen. Es geht um das Sein oder Nichtsein der United.«

Wenn ein Mann wie Dr. Wandel so starke Worte brauchte, dann waren sie nicht unbegründet . . . Sein oder Nichtsein? . . . Mit unangenehmer Deutlichkeit erinnerte sich Clayton der letzten Katastrophe des vergangenen Tages und spürte bei der Erinnerung ein kaltes Gefühl im Rücken. Ein Zehntelgramm – nur eine winzige Prise des neuen Stoffes – war da explosiv geworden und hatte schwere Verwüstungen angerichtet. Er erblaßte bei dem Gedanken, was geschehen wäre, wenn die ganze Stoffmenge explodiert wäre. War solche Gefahr vorhanden? War das der Grund für die sonst unerklärliche Fahrt des Doktors nach Detroit?

Das Telephongespräch ging weiter. Bei der Wichtigkeit der Nachrichten hatte man inzwischen auch den Chef der Sicherheitsabteilung geholt, und Clayton konnte mit ihm sprechen. Von seinem Standpunkt aus sah der die Angelegenheit ganz anders an. Er befürchtete einen Handstreich auf Clayton, eine gewaltsame Entführung des Direktors, und schlug Gegenmaßnahmen vor. Clayton winkte energisch ab. Nur widerstrebend ließ er es schließlich zu, daß man ihm drei auserlesene Leute der Abteilung zu seinem persönlichen Schutz in die Wohnung schickte. – –

Der Hundertvierzigpferdige hatte hergegeben, was er vermochte, und die neue Autostraße nach Detroit weidlich ausgenutzt. Es war erst wenige Minuten nach halb vier, als seine Hupe vor dem Hause Claytons bellend aufschrie, während gleichzeitig die Wohnungsklingel schrillte. Clayton öffnete selbst, Dr. Wandel stand allein vor der Tür.

»Guten Morgen, Mr. Clayton! Sie werden sich vielleicht wundern . . .«

»Ich habe Sie erwartet, Herr Doktor. Treten Sie bitte näher.«

»Mich erwartet, Mr. Clayton? Wie konnten Sie wissen?«

»Mr. Smith funkte uns, daß Sie auf dem Wege hierher wären.«

Er nötigte Dr. Wandel trotz seines Sträubens; einzutreten und in der Empfangsdiele Platz zu nehmen. »Ich glaube auch zu wissen, weshalb Sie kommen, Herr Doktor«, führte er die Unterhaltung fort.

»Sie wissen es nicht, Clayton«, unterbrach ihn der Doktor schroff. »Wenn Sie eine Ahnung hätten, um was es geht, würden Sie mich hier keine Minute unnütz verlieren lassen.«

»Es handelt sich um den neuen Stoff, Herr Doktor, er ist in der Tat sehr gefährlich. Aber . . . aber . . .« Clayton fuhr sich nachdenklich über die Stirn. »Wie ist es möglich, daß Sie etwas davon wissen können, Herr Doktor . . . Das kann es ja doch nur sein. Anders wüßte ich mir Ihr Kommen nicht zu erklären.«

»Sie haben an die zwanzig Pfund von dem Satanszeug in Ihrem Werk, Clayton«, platzte der Doktor heraus. Unwillkürlich nickte Clayton.

»Das ist richtig. Wie ist es möglich, daß Sie auch das wissen, Doktor Wandel?«

»Sie sitzen auf einem Vulkan, Clayton! In jedem Moment kann es eine atomare Explosion geben. Es wäre der Untergang der United, noch mehr, Clayton: die Vernichtung von ganz Detroit.«

»Ich hoffe, Sie übertreiben, Herr Doktor Wandel«, versuchte Clayton einzuwenden, dem die letzten Worte seines nächtlichen Besuchers einen gewaltigen Schreck in die Glieder jagten. Der Doktor riß ein Heft aus der Tasche und schlug eine mit Zahlen bedeckte Seite auf.

»Hier ist die Berechnung, Clayton. Ich übertreibe nicht. Zweihundert Billionen Kalorien werden in wenigen Sekunden frei, wenn der Stoff explodiert. Es genügt, um Detroit mit allen seinen Vorstädten einzuäschern . . . und jeden Augenblick kann es geschehen, das ist das Furchtbare.«

Clayton blickte auf das Heft in der Hand Dr. Wandels. Die Zahlen verschwammen vor seinen Augen.

»Kommen Sie mit zum Werk, Clayton!« Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Doktors. Willenlos, wie hypnotisiert, folgte er dessen Weisung und stieg mit in den blauen Wagen.

Auf einen Wink Claytons riß der Pförtner das Gittertor auf und ließ das Fahrzeug passieren. Es rollte über den weiten Werkhof, an der zerstörten Halle vorbei und hielt vor dem seitlichen Anbau. Und dann standen sie in dem Laboratorium Meltons. Dr. Wandel und Direktor Clayton.

»Da liegt es, Doktor«, sagte Clayton und deutete auf ein größeres Glasgefäß, das bis zum Rand mit dunklen, kristallinisch zackigen Bruchstücken gefüllt war. Er wich einen Schritt zurück, als der Doktor auf das Gefäß zuschritt. Der sah es und lächelte. »Es ist gleichgültig, Clayton, ob wir danebenstehen oder einen Kilometer davon abbleiben. Wenn es losgeht, sind wir in beiden Fällen verloren.« Er ergriff das Gefäß und stellte es auf einen Tisch.

»Ist das alles, Clayton, oder haben Sie noch mehr davon im Werk?« Er mußte seine Frage wiederholen, bevor er Antwort bekam.

»Nebenan, Doktor, in der Kugelmühle muß noch etwas sein, aber . . . wollen Sie wirklich . . .«

Dr. Wandel nickte. »Es ist notwendig, Clayton. Wir müssen reinen Tisch machen. Mit Gottes Hilfe werden wir es überstehen.«

Während er es sagte, musterte er die Regale an den Wänden, bis er entdeckte, was er suchte. Da lag zwischen Wischtüchern und Leinenlappen ein gefiederter Gänseflügel, wie man ihn in Laboratorien häufig benutzt, um Staub und Abfall von den Tischen zu fegen.

»Der wird's tun«, sagte Dr. Wandel vor sich hin, griff nach dem Flügel und einem Glasgefäß und ging damit in den Nebenraum. Gleichzeitig, als ob es sich um eine alltägliche Sache handelte, öffnete er die Mühle, nahm, was von dem Stoff noch unvermahlen darin lag, sorgsam Stück um Stück heraus und legte es in das Glasgefäß. Bewegungslos stand Clayton und sah ihm zu. Er fühlte sein Herz bis an den Hals schlagen, fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn.

»Das hier würde auch genügen, um das Werk zu zerstören«, sagte der Doktor, als er den letzten Brocken aus der Mühle nahm.

»Kommen Sie, Doktor Wandel!« Clayton brachte es heiser heraus, seine Kehle war wie ausgedörrt.

»Noch nicht, Clayton! Das muß hier auch noch fort«, gab der Doktor gelassen zur Antwort, und Claytons Haare sträubten sich, als er dessen weiteres Tun sah. Mit einer pedantischen Sorgfalt nahm der Doktor eine der Stahlkugeln nach der anderen aus der Mühle, stäubte sie mit dem Gänseflügel sorgsam über dem Gefäß ab und legte sie beiseite.

»Doktor Wandel! Sie versuchen Gott!« stöhnte Clayton.

»Es muß sein, Clayton.« Während der Doktor es sagte, fegte er die letzten Staubreste aus der Mühle auf einen Bogen Papier, faltete ihn zusammen und steckte ihn zu dem übrigen in das Glas.

»Und das muß auch noch mit«, murmelte er vor sich hin und tat auch den Flügel hinein. »So, Clayton, jetzt wären wir wohl fertig . . . Halt, was ist das da? Oh, hier ist ja auch noch etwas Verdächtiges.« Er griff nach den Mensuren, in die sich MacGan Proben für weitere Versuche abgewogen hatte, und packte sie in das Gefäß.

»Jetzt sind wir fertig, Clayton, kommen Sie!«

Clayton hätte im Werk zurückbleiben und den Doktor mit seiner Brand und Tod bedeutenden Last allein wegfahren lassen können.

War es ein Versagen seiner Nerven nach Minuten höchster Erregung, eine bis zur Willenlosigkeit gehende Erschlaffung, die ihn im gegebenen Moment hinderte, das Nächstliegende zu tun? Oder war es das in seinem Unterbewußtsein wirkende Verlangen, zu erfahren, was weiter geschehen würde? Wie unter einem fremden, ihm selber unerklärlichen Zwang folgte er dem Doktor in den Wagen und nahm neben ihm Platz. Wie gebannt blickte er auf die beiden unheilschwangeren Gläser, die Dr. Wandel vorsichtig auf seinem Schoß hielt, während der Wagen sich in Bewegung setzte und aus Detroit hinausrollte.

Auf der offenen Landstraße wollte Gordon das Tempo steigern.

»Fahren Sie vorsichtig! Wir haben Dynamit an Bord«, rief ihm Dr. Wandel zu. Die Worte rissen Clayton aus seiner Versunkenheit.

»Was wollen Sie tun, Doktor? Wo fahren wir hin?« Es waren die ersten Worte, die er seit dem Verlassen des Werkes sprach.

»Wir fahren zu einem Mann, Clayton, der Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannt ist, Ihr Mr. Smith kennt ihn jedenfalls recht gut. Wir sind auf dem Wege zu Joe Schillinger am Saint-Clair-See.«

Clayton zuckte zusammen, als er den Namen Schillinger hörte. »Was wollen Sie dort tun?« wiederholte er seine Frage.

»Sie werden es sehen, Clayton, wenn wir dort sind und alles so vorfinden, wie ich es erwarte.«

Während der Wagen weiterrollte, begann sich der Horizont im Osten aufzuhellen. Ein lichter Streif kündete den nahenden Morgen an, färbte sich und schimmerte schon leicht rosig, als der Wagen die Brücke über den Stichkanal erreichte und auf das weite ebene Feld neben Schillingers Fabrik fuhr.

In einem leichten Frühnebel verschwammen die Umrisse der Werkgebäude, in tausend Perlen schimmerte der Morgentau auf der Wiese. Silhouettenhaft hob sich, noch ein paar hundert Meter entfernt, die Form eines Flugzeuges von dem dunklen Westhimmel ab.

»Was wollen Sie tun, Doktor Wandel?« fragte Clayton zum drittenmal, als der Wagen neben dem Eindecker hielt.

»Sie müssen mitkommen, wenn Sie es sehen wollen, Clayton«, sagte der Doktor und winkte Joe Schillinger zu, der neben dem Flugzeug stand.

»Hallo, Schillinger, meinen Funkspruch richtig bekommen? Startbereit?« rief er Schillinger zu und verließ den Wagen so vorsichtig, als ob er nicht ein paar Glasgefäße, sondern ein krankes Kind in seinen Armen trüge.

Clayton fühlte sich von einem Wirbel widerstrebender Empfindungen hin und her gerissen. Sollte er hierbleiben, sollte er den Flug mitmachen? Gefahr war dort, aber Gefahr war auch hier. Wieder tat er, was er vor einer Minute noch von sich gewiesen hätte. Ohne sein Zutun, fast gegen seinen Willen noch formten seine Lippen die Worte: »Ich will mit Ihnen fliegen.«

Was ist denn mit mir? Bin ich hypnotisiert? dachte er im nächsten Augenblick. Aber da war es zu spät, er hatte zugesagt, und die Antwort Dr. Wandels klang ihm entgegen.

»Das freut mich, Mr. Clayton, daß Sie mitkommen. Sie werden es nicht bereuen.«

Und ebenso wie Direktor Clayton vor kurzem in den blauen Wagen gestiegen war, kletterte er jetzt in das Flugzeug und setzte sich auf den Sessel neben den Doktor. Dann knatterte der Motor, der Propeller wirbelte. Schneller und immer schneller lief das Flugzeug über das grüne Gras. Sanfter wurde plötzlich sein Lauf, seine Räder hoben sich von dem Rasen ab, und es stieg in die Luft.

»Das Schlimmste haben wir hinter uns, Clayton«, sagte Dr. Wandel, als das Flugzeug erschütterungsfrei dahinschwebte. »Jetzt hoffe ich, daß wir's schaffen werden.«

In weiten Spiralen schraubte es sich empor . . . dreihundert Meter . . . fünfhundert Meter wies der Höhenzeiger . . . dann stürmte es auf reinem Ostkurs vorwärts und stieg dabei unaufhörlich weiter. Clayton schaute nach unten und sah in der Tiefe den Saint-Clair-See dahinziehen, zurückbleiben und verschwinden. Er blickte nach vorn und sah einen kupferroten Ball über die Kimme im Osten heraufkommen. Die Sonne ging auf. In ihren Strahlen schimmerte es tiefblau wie ein weites Meer vor den Fliegern. Sie hatten den Eriesee erreicht.

»Wohin fliegen wir, Doktor Wandel?« fragte Clayton.

»Nicht mehr weit, Clayton. Bald werden wir am Ziel sein. Wollen Sie das bitte nehmen?«

Der Doktor schob Clayton das eine Gefäß zu, bekam dadurch eine Hand frei und setzte das andere behutsam vor sich auf den Boden. Er warf einen schnellen Seitenblick auf Clayton.

Der saß jetzt wirklich wie hypnotisiert da. Mechanisch umklammerten seine Hände das Gefäß, mit weit geöffneten Augen starrte er geradeaus in die Sonne.

Ich halte den Tod im Arm – hart und zwangsläufig hämmerte der Rhythmus der sechs Worte in seinem Gehirn und bannte alle andern Gedanken. Vorsichtig nahm ihm der Doktor das Gefäß aus den Händen und stellte es neben das andere.

»Noch höher!« rief er Schillinger zu. »Viertausend Meter müssen wir haben.« Sein Auge folgte dem Blick des Zeigers, bis dieser die Zahl viertausend erreicht hatte.

»Hier kreisen, Schillinger!«

Der Pilot befolgte das Kommando. Während das Flugzeug über dem meeresgleichen See in Alpenhöhe einen Kreis beschrieb, griff Dr. Wandel in seine Taschen. Ein Etui brachte er zum Vorschein, in dem, auf weiche Watte gebettet, Ampullen aus hauchfeinem Glas lagen, die mit einer beweglichen, silbrig schimmernden Flüssigkeit gefüllt waren.

Er nahm die Deckel von den beiden mit dem gefährlichen Stoff gefüllten Gefäßen. Mit größter Behutsamkeit, als fürchte er jeden Augenblick die feine Glashaut zu zerdrücken, tat er in jedes eine dieser Ampullen und legte die Deckel wieder auf.

»Was wird das, Doktor Wandel?« fragte Clayton.

»Zünder für den Sprengstoff, Clayton. Jetzt ist der Tod sehr nahe. Berührt die Flüssigkeit den Stoff, dann explodiert er.« Wieder griff Dr. Wandel in seine Taschen und holte Schnurenden heraus, beugte sich nieder und band die Deckel auf den Gefäßen fest. Richtete sich wieder empor und riß das Fenster an seiner Seite auf.

»So, Clayton, jetzt sind wir soweit. Ein Sturz aus dieser Höhe . . . beim Aufschlag aufs Wasser müssen die Ampullen splittern.«

Noch während er es sagte, ergriff er das eine Gefäß, schleuderte es zum Fenster hinaus und ließ ihm das andere folgen. Die Uhr in der Hand beugte er sich vor, um den Absturz beobachten zu können, und zählte laut, während der Zeiger von Sekunde zu Sekunde sprang. Eine Ewigkeit schien es Clayton zu währen und dauerte doch nicht viel länger als eine Minute.

»Zweiundsiebzig . . . dreiundsiebzig . . . es ist geschehen, es hat gezündet«, sagte Dr. Wandel und steckte seine Uhr wieder ein. »Jetzt explodiert's da unten . . . sehen Sie, Clayton.«

Er zog den andern zu sich hin. Der blickte in die Richtung, die er ihm wies, und sah tief unten weiße Nebel über dem Wasser wallen. Eben noch klein und unscheinbar, jetzt schon viel größer und mächtiger. Mit Windeseile lief es nach allen Richtungen hin über das Wasser und lag bald wie eine schwere Wolkenbank darüber. Auch aus der Höhe, in der das Flugzeug kreiste, waren die Ufer des riesigen Sees nur an wenigen Stellen sichtbar. Dort wurde jetzt schon das Gestade vernebelt, und über die Ufer hinaus krochen die Dampfmassen landeinwärts weiter.

»Was haben Sie getan, Doktor Wandel? Der ganze See kocht«, rief Clayton. Der Doktor lächelte.

»Eine Täuschung, Clayton. Er kocht nur an der Stelle, an der der Stoff explodierte. Die frei gewordene Wärme braucht Zeit, sich über die Wassermasse zu verteilen.«

»Aber die Dampfmassen, Doktor! Sehen Sie doch hier unter uns, da steigt es ja immer höher.«

»Da kocht es auch mächtig, Clayton. Bedenken Sie, zweihundert Billionen Kalorien! Das muß schon einigen Dampf geben, solange die Energie noch geballt ist. Aber es wird nicht lange so bleiben. Es wird sich bald über die ganze Wassermasse verteilen.«

»Und dann, Doktor Wandel, was wird die Folge sein?«

»Nichts von Bedeutung, Mr. Clayton. Die Rechnung geht gut auf.«

»Was für eine Rechnung, Doktor Wandel?«

»Eine sehr einfache, mein lieber Clayton. Zweihundert Billionen Kalorien wurden durch die Explosion dort unten frei, zwölfhundert Billionen Liter enthält der Eriesee. Auf sechs Liter Wasser kommt nur eine Kalorie. Sie sehen, die Sache ist nicht der Rede wert.«

»Ich weiß doch nicht, Doktor . . .« Clayton blickte nachdenklich nach unten. In Riesenschwaden stieg es da hoch und immer höher. Vielleicht noch tausend, vielleicht nur noch fünfhundert Meter mochten die strudelnden Dampfwolken jetzt unter dem Flugzeug sein und drängten noch immer weiter nach oben.

»Kein Grund zur Aufregung, Mr. Clayton«, beruhigte ihn der Doktor. »Über eine Quadratmeile hin, vielleicht auch über zwei und drei mag der See jetzt in vollem Kochen sein. Aber was will das gegen die fünfhundert Quadratmeilen bedeuten, die er groß ist? Ein heißer Punkt auf einer weiten kalten Fläche, nichts weiter.«

Noch während der Doktor sprach, erreichten die Dampfmassen das Flugzeug und hüllten es ein. Dicker, undurchdringlicher Nebel raubte jegliche Sicht. Nur noch ein Blindflug nach Kompaß und Höhenmesser war möglich.

»Kurs Südost«, rief Dr. Wandel Schillinger zu und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.

»Es hat wirklich nichts auf sich«, sprach er zu Clayton weiter, während das Flugzeug in der neuen Richtung durch eine Atmosphäre dahintrieb, die eher Watte oder Mehlsuppe als Luft zu sein schien. »Morgen wird davon nichts mehr zu merken sein.«

»Doch, Doktor!« widersprach Clayton. Seitdem der verderbenschwangere Stoff nicht mehr an Bord war, fühlte er sich von dem schweren Druck befreit, der ihn vorher körperlich und geistig gelähmt hatte. »Doch, Doktor Wandel, der ganze Eriesee wird morgen früh um ein sechstel Grad wärmer sein.«

Es klang wie ein Scherz, und es war auch ein Scherz, durch den er Entspannung suchte. Der Doktor ging darauf ein.

»Richtig gerechnet, mein lieber Clayton, aber das Ergebnis stimmt trotzdem nicht.«

»Wieso?« wollte der andere wissen.

»Sie haben den Niagarafall vergessen, mein Lieber«, lachte der Doktor, »durch den allerhand Wasser aus dem Eriesee hinausfließt. Schätzungsweise eine halbe Milliarde Liter in der Minute. Die Leute am Ontariosee bekommen auch etwas von den Kalorien ab. Das hätten Sie mit in Ihre Rechnung setzen müssen.«

»Sie sind und bleiben unverbesserlich, Doktor Wandel«, sagte Clayton kopfschüttelnd. »Nur Ihre Berechnungen«, er stieß einen leichten Seufzer aus, »die stimmen immer genau. Wir haben es leider erfahren müssen.«

Es wurde wieder lichter um das Flugzeug. Schon schimmerte es hin und wieder bläulich hindurch. Jetzt nur noch einzelne ziehende Wolken, welche die Maschine durchschnitt, und dann lag die Nebelbank hinter ihnen. Klar fielen die Strahlen der Morgensonne in den Raum.

»Streiten wir uns nicht länger um Berechnungen, Mr. Clayton«, sagte der Doktor, »hier war es nur wichtig, daß kein Schiff in Sicht war, als wir den Stoff abwarfen. Auch dem größten Seedampfer wäre es übel bekommen.«

»Mir war es noch wichtiger, daß der Stoff nicht losging, solange wir ihn an Bord hatten«, meinte Clayton.

Nach der Spannung der vorhergehenden Stunden setzte der unvermeidliche Rückschlag ein. Eine Müdigkeit überkam ihn, deren er nicht Herr zu werden vermochte. Sein Kopf sank gegen die gepolsterte Lehne des Sessels, die Augen fielen ihm zu, er schlief ein.

»Weiter Südostkurs!« rief Dr. Wandel Schillinger zu und machte es sich ebenfalls auf seinem Platz bequem.

*


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