Hans Dominik
Atomgewicht 500
Hans Dominik

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Mißmutig suchte Tom White seine Wohnung in der Lake Street auf, nachdem er den Wagen Dr. Wandels aus den Augen verloren hatte. Das merkwürdige Zusammentreffen des Doktors mit MacGan wollte ihm nicht aus dem Sinn. Immer neue Kombinationen und Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, je länger er darüber nachdachte. Obwohl es längst Zeit war, zur Ruhe zu gehen, spürte er, daß er diese Nacht so bald keinen Schlaf finden würde.

Eine Stunde etwa lief er schon ruhelos in seinem Zimmer hin und her, sinnierte und überlegte, ohne doch dadurch der Lösung des Rätsels einen Schritt näherzukommen. Verdrossen setzte er sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand, machte endlich eine Bewegung, als wolle er etwas Lästiges verjagen . . . Fort mit all den zwecklosen, unnützen Gedanken . . . Ablenkung durch irgendwelche Arbeit . . . Vielleicht würde er dann später klarer sehen . . . Halb mechanisch griff er nach Feder und Papier, um an Mr. Spinner zu schreiben.

Eigentlich wollte er diese Korrespondenz erst am nächsten Tage erledigen, doch jetzt war sie ihm als eine Ablenkung von seinen anderen Sorgen willkommen. Zwang sie ihn doch, sich scharf zu konzentrieren und alle Vorkommnisse dieses so ereignisreichen Tages noch einmal im Geiste vorüberziehen zu lassen. Angefangen mit dem eigenartigen Versuch – er vermied es absichtlich, einen schärferen Ausdruck dafür zu verwenden – Professor Meltons am frühen Morgen, dann das Erscheinen Dr. Wandels und sein Urteil über Melton und so weiter bis zu seiner Unterhaltung mit Wilkin in dem Salon. Und dann? . . .

Unschlüssig stockte er. Hatte es überhaupt einen Zweck, jetzt schon von seinen Beobachtungen an der Ecke der Lake Street und der Woodward Avenue an den Nachrichtenchef der Company zu berichten? Nein! Dafür war die Angelegenheit noch nicht spruchreif. Mr. Spinner wünschte Tatsachen und keine leeren Vermutungen in den Briefen seiner Agenten zu finden.

Tom White ließ den Bericht mit seiner Trennung von Wilkin enden. Auch so war das Schreiben schon ziemlich lang ausgefallen, und noch sehr viel länger wurde es, als er nun daranging, es mit Hilfe der Kartonschablone zu verschlüsseln.

Nur etwa ein Dutzend Worte des wirklichen Textes kamen dabei auf eine Briefseite. Den weißen Raum zwischen ihnen mußte er mit frei erfundenen Geschichten derart ausfüllen, daß die zuerst geschriebenen Worte sich unauffällig einfügten. Das war eine Arbeit, die nicht nur Phantasie, sondern auch Zeit verlangte, und obwohl Tom White kein Neuling in dieser Art von Korrespondenz war, ging doch manche Stunde darüber hin. Als er das Schriftstück endlich unterzeichnete . . . mit einem Namen, um den außer ihm nur Mr. Spinner wußte . . . schlug eine Uhr in der Nähe die dritte Morgenstunde. Bei der nächtlichen Arbeit war ihm die Zeit ebenso schnell verflogen wie Dr. Wandel und seinen Gefährten bei ihrem Experiment.

Tom White steckte sein Machwerk in einen Umschlag, versah es mit einer Anschrift, die auch keineswegs auf Mr. Spinner lautete, und griff nach Stock und Hut. Wenn er jetzt auf der Straße ein Auto erwischte, würde der Brief noch zum Frühzug zurechtkommen.

Er hatte das Glück, bald eins zu finden, und fuhr zum Bahnhof. Das Schreiben fiel in den Postkasten eines Zuges, und Tom White kehrte zu seinem Wagen zurück. Jetzt zur Lake Street und schnell noch ein paar Stunden Schlaf genommen, dachte er, als er ihn bestieg. Doch schon nach wenigen Minuten überfielen ihn die Gedanken, denen er durch seine Schlüsselkorrespondenz für einige Zeit entronnen war, wieder von neuem und ließen ihn nicht mehr los. Als das Auto in der Lake Street vor seiner Wohnung hielt, hatten sie sich zu einem Entschluß verdichtet, und er befahl dem Chauffeur, weiter zu dem Werk der United zu fahren.

Folgendermaßen war ungefähr der Ideengang, der ihn zu dieser Fahrt veranlaßte: Entweder der deutsche Doktor und dieser verdächtige Laboratoriumsdiener stecken jetzt irgendwo in der Stadt zusammen, dann ist die Luft im Werk rein, und es bietet sich vielleicht die Gelegenheit, an die Papiere des Deutschen heranzukommen. Oder sie haben gemeinschaftlich etwas im Werk vor . . . der Verdacht, daß es so sein könnte, regte sich immer stärker bei White . . . dann wäre es gut, wenn ich auch irgendwie dabeisein könnte.

Durch seinen nicht immer ungefährlichen Beruf war Tom White auf logisches Denken eingestellt, und gegen die Folgerichtigkeit der Schlußkette, die ihn jetzt veranlaßte, das Werk der United aufzusuchen, ließ sich kaum etwas einwenden.

Im Gegensatz zu Dr. Wandel verließ White sein Auto bereits auf der Straße und lohnte es ab. Der Nachtportier blickte kaum mit einem halben Auge auf den Ausweis, den White ihm im Vorbeigehen hinhielt.

Er überschritt schnell den Werkhof, dessen Beleuchtung ihm wenig sympathisch war, und tauchte in dem Dunkel zwischen zwei Fabrikbauten unter. Auf Nebenwegen pirschte er sich an den Gebäudekomplex heran, in dem sich die Laboratorien und Büroräume der Abteilung Melton befanden.

Auf diese Weise vermied er zwar die Gefahr, einem Wächter in die Hände zu laufen, aber dafür hatte er auch keine Gelegenheit, einen Blick auf die große Laboratoriumshalle zu werfen. Sonst wäre ihm sicherlich der schwache Lichtschein, der aus ihren Fenstern drang, verdächtig gewesen, und er hätte vielleicht sofort recht interessante Entdeckungen machen können.

Jetzt stand er vor einer Außentür. Sie war verschlossen, doch für solche Fälle hatte Tom White beizeiten vorgesorgt. Längst befanden sich Duplikate von Schlüsseln zu den Türen, die ihn vielleicht einmal interessieren konnten, in seinem Besitz. Geräuschlos schloß er auf und versperrte das Schloß ebenso leise wieder hinter sich. Mochte jetzt irgendein Wächter kommen und pflichtgetreu an der Tür rütteln, er würde nichts Verdächtiges bemerken.

Durch einen Gang schritt der nächtliche Besucher weiter. Nur hin und wieder ließ er auf Sekunden vorsichtig eine Taschenlampe aufblitzen, bis er gefunden hatte, was er suchte: die Tür zum Zimmer des deutschen Doktors. Auch hier tat ein Nachschlüssel seine Schuldigkeit, und Tom White stand in dem Arbeitsraum Dr. Wandels.

Er hatte ihn bisher noch niemals betreten und brauchte unter Benutzung seiner Taschenlampe einige Zeit, sich zu orientieren. Da stand ein Schreibtisch, der sauber aufgeräumt war. Nur einige wissenschaftliche Werke und ein Schreibblock lagen auf seiner Platte. Mit einem Blick überzeugte sich White, daß der Block unbeschrieben war. Er griff nach den Schubladen des Tisches. Sie waren unverschlossen und ließen sich leicht aufziehen. Aber auch in ihnen befand sich nichts Handschriftliches, nur die neueste Literatur über Atomchemie lag darin. Seine Hoffnung, mitnehmenswerte Notizen zu finden, bekam den ersten Stoß.

Wieder ließ er die Lampe suchend nach den Wänden hin aufblitzen, und was er dabei bemerken mußte, machte ihm wenig Freude. Dem Schreibtisch gegenüber stand ein solider Tresor, nicht allzu groß, aber geräumig genug, um alle Aufzeichnungen und Berechnungen sicher zu bergen, die der Doktor in der Zeit seiner unfreiwilligen Muße hier angefertigt haben mochte. Dieser Panzerschrank aber war verschlossen, und für einen derartigen Fall reichten die Hilfsmittel des Eindringlings natürlich nicht aus.

Enttäuscht wollte er den Raum bereits verlassen. Ohne bestimmte Absicht, fast mechanisch, ließ er die Lampe in seiner Rechten noch ein paarmal aufblitzen und erblickte in ihrem Schein den Papierkorb. Ob in dem vielleicht etwas zu finden war? Ausgeschlossen schien's ihm nicht, denn die Frauen, denen die Säuberung der Büroräume oblag, traten ihren Dienst erst des Morgens vor Werkbeginn an.

Er trat näher heran und leuchtete in den Korb. Auf dessen Boden lagen mehrere zusammengeknüllte Papierballen. Einen davon ergriff er, faltete ihn auseinander, glättete ihn. Das Blatt stammte zweifellos von dem Schreibblock auf dem Tisch. Beim Schein der Lampe erkannte er, daß es mit Zeichnungen und Formeln bedeckt war, ganz ähnlich denjenigen, von denen MacGan ihm erzählt hatte.

Ganz vergeblich war sein Besuch also doch nicht, und mit neu erwachtem Eifer machte er sich über den Papierkorb her. Noch ein Dutzend Blätter ähnlicher Art entdeckte er darin, säuberlich glättete er sie und faltete sie zusammen. Mit einer genaueren Untersuchung wollte er sich hier nicht aufhalten. Dazu war später Zeit, und schließlich konnten sich auch die gelehrten Herren in Salisbury ihre Köpfe über diese Aufzeichnungen zerbrechen.

Er schob seinen Fund in die Brusttasche, schlüpfte aus dem Zimmer und schlug auf dem Gang den Weg zu der Außentür ein, durch die er gekommen war. Eben wollte er sie aufschließen, als ein zischendes, pfeifendes Geräusch ihn veranlaßte, stehenzubleiben. Wenn er sich nicht sehr irrte, kam das Geräusch aus der Richtung der großen Laboratoriumshalle.

Tom White überlegte. Wer konnte jetzt im Laboratorium sein? . . . Professor Melton oder Wilkin? . . . Ausgeschlossen! Die waren nicht so tatendurstig. Aber was sonst konnte die Ursache des Geräusches sein? . . . Irgendein Schaden an den Apparaturen, an den Gasbehältern etwa? . . . Wie das Ausströmen eines unter hohem Druck stehenden Gases klang es ja beinahe . . .

Während White die Möglichkeit erwog, kam der alte Verdacht wieder, den er am vergangenen Abend beim Anblick Dr. Wandels und MacGans gefaßt hatte. Sollten sich die beiden am Ende im Laboratorium zu schaffen machen? . . . Sollte der Doktor etwa hinter dem Rücken Meltons noch schnell einen Versuch wagen, bevor der Autoklav in der Versenkung verschwand, aus der er – das hoffte White zuversichtlich – nicht wieder heil herauskommen würde?

Tom White beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen. Von der Stelle, an der er sich jetzt befand, konnte er bequem jene Schlupftür erreichen, durch die kürzlich auch Dr. Wandel unbemerkt in die Halle gekommen war. Er machte sich auf den Weg. So was nennt man beim Film eine gewendete Situation, dachte er und mußte bei dem Gedanken fast lächeln. Gestern standen Sie im Hintergrund, mein verehrter Herr Doktor, und schauten Ihrem Freund Melton zu. Vielleicht kann ich jetzt Ihre Rolle spielen, während Sie beim Experimentieren sind.

Schon auf dem Wege wurde es White zur Gewißheit, daß der Lärm tatsächlich aus dem großen Laboratorium kam. Als er die Schlupftür erreichte, war das Geräusch so stark, daß er sie ohne besondere Vorsicht öffnen konnte. Die Temperatur eines Eiskellers schlug ihm entgegen. Dann war er in der Halle, und obwohl er auf allerlei gefaßt war, verschlug ihm das, was er hier erblickte, doch fast den Atem. Schnell nahm er Deckung hinter einem Pfeiler, um ungesehen beobachten zu können.

Drei Männer waren am Werk. Zwei davon hatte er hier zu finden erwartet, den Doktor und MacGan, der dritte war ihm unbekannt. Was sie trieben, war mehr als eigenartig. Was es nur an Decken und Tüchern in der großen Halle zu finden gab, hatten sie zusammengesucht und bemühten sich, damit das Geräusch eines Gasstrahls zu dämpfen, der einem winzigen Ablaßhahn an der großen Stahlkugel entströmte.

Eben jetzt drückten Dr. Wandel und der dritte eine starke Wolldecke gegen diese Stelle des Autoklavs, und es machte den Eindruck, als ob sie ihnen allmählich zu schwer würde. Dann hörte White den Doktor rufen.

»Mac, eine andere Decke!«

Der Ire ging zu einem Transportauto, das Tom White erst jetzt bemerkte, da es fast im Dunkeln stand, und kehrte mit einem starken Woilach zurück. Geschickt schob er ihn nach, während die beiden andern ihr Tuch fortzogen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde schwoll das Pfeifen des ausströmenden Gases stärker an. Dann erstickte es wieder in dem starken Wollstoff.

Nicht übel, ging es Tom White durch den Sinn; ohne dieses Aushilfsmittel hätten sie schon längst das ganze Werk alarmiert. Das Gas in dem Autoklav muß ja unter einem Riesendruck stehen. Andere Kerle als der traurige Melton und Wilkin sind die drei da vorn doch . . .

Er unterbrach seine Betrachtungen und riß die Augen weit auf. Aus dem Tuch, das Dr. Wandel und der dritte Mann jetzt kräftig ausschüttelten, fiel ein weißer Pulverschnee und verdampfte zum größten Teil bereits in der Luft, bevor er den Boden erreichte.

Heliumschnee!

Tom White preßte die Hand auf den Mund, um das Wort nicht laut herauszuschreien. Bei Gott, das war Heliumschnee! Nichts anderes als in unvorstellbarem Frost erstarrtes Heliumgas konnte das Weiße sein, das die beiden dort wie einen lästigen Abfallstoff aus dem Tuch schüttelten. Was hätten wohl die berühmtesten Kältelaboratorien der Welt für eine Messerspitze dieses Stoffes bezahlt, um dessen Herstellung sie sich seit Jahrzehnten vergeblich bemühten!

Und noch ein anderer Gedanke kam White, während er das Schauspiel beobachtete. Unter welchem phantastischen, über alle Vorstellungsmöglichkeit riesenhaften Druck mußte das Gas in der Stahlkugel stehen, wenn er sich hier beim einfachen Ausströmen bis zur Erstarrung abkühlte. Er schauderte. War es der Frost, der immer stärker auf ihn eindrang, oder war es die kaum bewußte Furcht, daß die Kugel auch jetzt noch unter diesem Riesendruck wie eine Granate bersten, daß sie die ganze Halle mit allem, was drin und drum war, zerschmettern könnte?

Zusehends nahm der Druck in dem Autoklav ab. Schon seit längerer Zeit zeigte sich in den Tüchern kein Schnee mehr, schwach und immer schwächer wurde das Geräusch des ausströmenden Gases. Nun hörte es völlig auf, der Druck war ausgeglichen.

Schon standen MacGan und der Doktor wieder auf der Kugel, während der dritte . . . niemand anders als Joe Schillinger war es ja . . . einen Kran heranfuhr. In umgekehrter Reihenfolge verrichteten sie dieselbe Arbeit, mit der sie ihren Versuch vor vielen Stunden begonnen hatten. Das neue Verschlußstück wurde abgenommen, das alte Stück wurde herangebracht und wieder an seine Stelle gesetzt.

Und dann geschah etwas, das den stillen Beobachter im Hintergrund veranlaßte, sich fast die Augen zu verrenken. Während der Kran mit dem neuen Deckel sich langsam von dem Autoklav entfernte, bemerkte Tom White am Unterteil dieses Verschlußstückes zwei kurze Stangen und zwischen ihren Enden einen Körper von der Größe eines kleineren Apfels etwa. Eigenartig gezackt war dessen Oberfläche, als ob Kristalle nach allen Seiten strahlenförmig aus ihm herauswüchsen. In dunklem Grau schimmerte die Oberfläche dieses Gebildes, solange das Licht der Lampen es traf . . .

Doch jetzt fiel der Schlagschatten eines Pfeilers darauf, und in der Dunkelheit leuchtete es in eigenem, tiefgrünem Licht auf. In ein Konglomerat von märchenhaft schönen Smaragden schien es sich zu verwandeln. Nur einen kurzen Moment dauerte das wundersame Schauspiel, dann hatte der Kran mit seiner Last den Schlagschatten passiert und machte in vollem Lampenlicht halt. Da war aus dem rätselhaften Gebilde wieder eine schlichte graue Kristalldruse geworden.

Tom White hörte den Doktor gedämpft ein paar Worte zu MacGan sprechen, ohne sie über die Entfernung recht verstehen zu können, und sah ihn dann auf sich zukommen. Erschreckt verbarg er sich in einem dunklen Winkel neben einem Retortenschrank. Dr. Wandel bemerkte ihn nicht. Wie ein Traumwandler starr vor sich hinblickend, ging er direkt auf die Schlupftür zu und verließ durch sie die Halle.

Regungslos verharrte White in seinem Versteck. Er brauchte nicht lange zu warten, denn schon nach wenigen Minuten kam Dr. Wandel zurück. Mit beiden Armen trug er einen Bleiblock; seine Haltung verriet, daß der Block ein ziemliches Gewicht haben mußte.

Wieder sprach er zu MacGan.

»Merkwürdig, Mac – mein Zimmer war nicht verschlossen . . .« White strengte sich vergeblich an, noch mehr zu verstehen, aber die beiden entfernten sich schon wieder nach dem Kran hin. Schwer fiel White seine Unterlassungssünde aufs Gewissen. Er erinnerte sich, daß er tatsächlich vergessen hatte, die Tür zum Büro des Doktors wieder zu verschließen. Doch lange Zeit blieb ihm nicht, darüber nachzudenken, denn schon nahm das, was die andern dort taten, wieder sein volles Interesse in Anspruch.

MacGan und jener dritte mußten den ausgehöhlten Bleiblock unter die graue Kristallkugel halten, während Dr. Wandel versuchte, sie mit einer starken Beißzange von den Stangenenden abzukneifen. Doch diamanthart schien das Metall der Stangen zu sein, und vergeblich mühte der Doktor sich ab. Nur tiefe Scharten in den Zangenbacken erzielte er mit seiner Arbeit. Mißmutig ließ er davon ab und führte von oben her einen scharfen Schlag mit der Zange auf die Kugel.

Sein Vorgehen hatte Erfolg. Unter der Wucht des Schlages zersplitterte sie in viele einzelne Kristalle, die in die Höhlung des Bleiblockes fielen . . . so, wie Dr. Wandel und seine Gefährten es sahen. White sah von seinem Platz aus noch etwas anderes. Er sah, daß ein größerer Kristallbrocken seitlich fortsprang und unmittelbar neben einem Pfeiler zu Boden fiel. Sorgsam prägte er sich die Stelle ein, um sie später wiederfinden zu können.

Dr. Wandel verschloß die Höhlung des Blockes, in dem die seltsamen Kristalle ruhten, mit einem starken Bleideckel. Zu dritt trugen sie das Ganze zu dem Auto, und auch das neue Verschlußstück brachte der Kran dorthin. Ein paar schnelle Aufräumungsarbeiten dann noch. Alle Decken und Tücher wieder an ihren Platz, alle Schalter auf Nullstellung, und schon rollte der Wagen ins Freie. Das Licht erlosch, das Schiebetor schloß sich, Tom White war allein in der großen dunklen Halle.

Einige Zeit blieb er noch still in seinem Versteck, bis das Geräusch des wegfahrenden Autos sich in der Ferne verlor. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und wie er nun schärfer hinblickte, sah er es an einer Stelle aus dem Finstern tiefgrün aufleuchten.

Er vermochte dorthin zu gehen, ohne Licht zu machen, und ließ sich auf die Knie nieder, um die wunderbare Erscheinung aus nächster Nähe zu betrachten. Da sah er, daß dieses magische Licht nicht stetig und ruhig strahlte. Wie in Wellen lief es bald heller, bald dunkler über die leuchtende Fläche. Dabei erschienen die Umrisse des Kristalles verschwommen, wie von einer fortwährend bewegten, grün brennenden Gasschicht.

Er streckte die Hand vor, um nach dem Kristall zu greifen. Im Augenblick, da er ihn berührte, durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag. Er zuckte zusammen, riß die Hand zurück und rieb die Fingerspitzen. Sie schmerzten in einem unbestimmten Gefühl. Er vermochte in der Dunkelheit nicht zu unterscheiden, ob er sie sich verbrannt hatte oder ob die Empfindung durch eine starke elektrische Entladung hervorgerufen war. Das aber begriff er sicher, daß es nicht ratsam war, diesen Teufelsstoff mit bloßen Händen anzugreifen, und er erinnerte sich, wie vorsichtig Dr. Wandel damit umgegangen war. Mit Hilfe seiner Taschenlampe tastete er sich zu einem Regal hin, in dem außer verschiedenem Werkzeug auch Bleiblech lag.

Er suchte sich heraus, was er brauchte, und kehrte damit zu der alten Stelle zurück. Mit einem Holzstab schob er den gefährlichen Kristall auf das Blech und wickelte es mehrmals um ihn herum, bis er von einer starkwandigen Bleirolle umgeben war. Mit einem Hammer klopfte er die beiden offenen Enden dieses Rohres zusammen, dann steckte er es kurz entschlossen ein. Es knisterte in seiner Tasche, als das Bleipaket hineinglitt. Das waren die Papiere aus dem Arbeitszimmer Dr. Wandels, neben die der strahlende Kristall zu liegen kam.

Für White gab es nun nichts mehr in der Halle zu schaffen. Ebenso vorsichtig, wie er hereingekommen war, verließ er sie wieder. Draußen dämmerte bereits der Morgen herauf. Der Gedanke, in dem immer heller werdenden Tageslicht durch das große Portal aus dem Werk zu gehen, erschien ihm wenig ratsam. Wer konnte wissen, was für Untersuchungen und sonstige Folgen die nächtlichen Ereignisse in Meltons Abteilung noch nach sich ziehen mochten. Für ihn war es jedenfalls besser, unbeteiligt zu bleiben.

An Schuppen und Hallen vorbei und über weitläufige Lagerplätze hin suchte er sich einen Weg, der ihn immer weiter von dem Hauptportal fortführte. Nun hatte er den entgegengesetzten Teil des Werkgeländes erreicht. Bis dicht an die hohe Umfassungsmauer lagerten hier Stapel von Baustoffen und allerlei Fabrikationsmaterial. Er erkletterte einen davon und blickte über die Mauer. Weit und breit kein Mensch zu sehen; gewandt schwang er sich über die Mauerkrone, ließ sich an der andern Seite zu Boden gleiten und landete in einer stillen Seitenstraße. Schleunigst machte er, daß er weiterkam, und fühlte sich erst ganz in Sicherheit, als die Tür seiner Wohnung hinter ihm ins Schloß fiel.

Schon auf dem Heimweg hatte er ein Wärmegefühl auf der rechten Brustseite gespürt, doch in der Aufregung und Eile nicht sonderlich darauf geachtet. Als er jetzt in die Brusttasche griff, um die Beutestücke seines nächtlichen Streifzuges herauszunehmen, hätte er sich beinahe die Hand verbrannt, so warm war das Bleirohr inzwischen geworden.

Neben die Aufzeichnungen Dr. Wandels legte er es auf seinen Schreibtisch und betrachtete das verdächtige Stück mit besorgten Blicken. Wie sollte er es seinem Auftraggeber in Salisbury zustellen? . . . Als Postsendung, einfach in ein Kästchen verpackt, mit Papier oder Holzwolle umgeben, wie er es ursprünglich vorhatte? . . . Je länger er überlegte, um so schwerere Bedenken kamen ihm.

Daß der Kristall, der in der Bleipackung steckte, kräftig radioaktiv erstrahlte – wahrscheinlich vieltausendmal stärker als alle bisher bekannten Stoffe –, darüber war Tom White sich klar. Wenn nun die Erhitzung der Bleihülle unter der Wirkung der Strahlung immer weiterging, wenn das Blei zum Schmelzen kam . . .? Im Geiste sah er bereits, wie der Postwagen, der das Paket von Detroit nach Salisbury bringen sollte, in Flammen aufging . . . oder . . . das konnte fast noch schlimmer auslaufen . . . er malte sich eine andere Möglichkeit aus. Wie die Postbeamten während der Fahrt auf einen Brandgeruch aufmerksam würden. Wie sie ein qualmendes Paket entdeckten und den Absender und den Empfänger festzustellen versuchten. Beim Absender würde es ihnen ja schwerlich gelingen, aber den Empfänger würden sie bald 'rausbekommen; einen unbedeutenden Mittelsmann zwischen White und Spinner. Ob der bei einem amtlichen Verhör dichthalten würde, war mindestens zweifelhaft. Unabsehbare und für ihn sicherlich recht unangenehme Folgen würde das haben, denen er sich auf keinen Fall aussetzen durfte. Das gefährliche Paket mußte auf eine andere Weise Mr. Spinner übermittelt werden. Die Post durfte er dafür nicht bemühen.

Zwischen seine Überlegungen fielen die ersten Sonnenstrahlen in das Zimmer. In einer guten Stunde begann sein Dienst, es lohnte sich nicht mehr, zu Bett zu gehen. Er benutzte die Zeit zu einem Schreiben an den bewußten Onkel in Salisbury. Gleichzeitig mit dem Brief ging eine Drucksache ab, ein reichlich trockenes Buch über die Entwicklung der Quäkergemeinden im Staate Iowa. Zwischen seinen Seiten lagen jene Blätter, die aus dem Papierkorb Dr. Wandels stammten. Dann war es für Tom White Zeit, ins Werk zu gehen.

*

Die nächsten Tage brachten viel Unruhe in Meltons Abteilung. In der großen Halle war ein Dutzend Werkleute damit beschäftigt, an dem Platz für die neue Dammgrube den Betonboden aufzuschlagen und das Erdreich auszuheben. Das ohrenbetäubende Rattern der Preßluftmeißel und der mit dem Erdaushub verbundene Schmutz und Lärm machten die Arbeit an den Labortischen im ganzen Raum unmöglich. Jede andere Tätigkeit mußte ruhen, solange die Erdarbeiter nicht abgezogen waren.

Auf der Suche nach dem Laboratoriumsdiener kam Dr. Wandel in die Halle und warf einen kurzen, vielsagenden Blick auf die Stätte der Verwüstung. MacGan hatte es sich in einem Winkel bequem gemacht und las in der letzten Nummer der »Detroit Post«. Der Doktor rief ihn an.

»Hallo, Mac! Sie haben hier doch nichts Vernünftiges zu tun. Kommen Sie, helfen Sie mir ein bißchen.«

Der Ire sprang auf und warf die Zeitung zur Seite. »Gern, Herr Doktor. Ich wollte Sie immer schon fragen, was denn . . .«

». . . bei unserm nächtlichen Experiment herausgekommen ist, meinen Sie«, vollendete Dr. Wandel den Satz. »Ich bin gerade dabei, es festzustellen.«

Neben seinem Arbeitszimmer hatte Dr. Wandel sich gleich nach seinem Eintritt in die United Chemical ein Speziallaboratorium einrichten lassen, in das er sich nun mit MacGan begab. Auf einem Tisch lag der schwere Bleiblock, der die strahlenden Kristalle barg. Gut ein halbes Hundert Mensuren standen daneben. Sie enthielten Lösungen, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten.

MacGan besah sich die Blockseiten, die zwischen den Gläsern lagen und mit den charakteristischen Schriftzügen Dr. Wandels bedeckt waren. Sehr schnell erkannte er, daß der Doktor hier schon eine gewaltige Arbeit geleistet hatte, und seine Kenntnisse reichten auch hin, den Sinn der Formeln zu verstehen, die auf dem Papier standen. In den paar Tagen, die seit dem nächtlichen Versuch verstrichen waren, hatte Dr. Wandel bereits die wichtigsten chemischen Verbindungen des neuen unbekannten Stoffes hergestellt und gründlich studiert. Das Ergebnis dieser Untersuchungen waren eben jene Formeln. In allen kehrte die gleiche Zahl wieder: zweihundertfünfzig.

Erst leise, dann lauter las MacGan die Zahl von den verschiedenen Blättern ab. Fragend und kopfschüttelnd blickte er dabei den Doktor an. Der lachte.

»Kein Grund zur Verwunderung, Mac. Das hat schon seine Richtigkeit. Der neue Stoff hat das Atomgewicht zweihundertfünfzig. Unter Druck und Hitze haben wir vier Helium-Atome an das Uran-Atom geschmiedet.«

MacGan riß die Augen auf und vergaß den Mund zu schließen. Er brauchte Zeit, die unerwartete Mitteilung zu verdauen, dann brach er los.

»Großartig, Herr Doktor! . . . Wer hätte das für möglich gehalten! Professor Melton wird platzen, wenn er das sieht . . . Wissen Sie, Herr Doktor, ich würde ihm überhaupt nichts sagen. An Ihrer Stelle würde ich damit gleich zum Präsidenten gehen und einfach sagen: ›Da, Mr. Chelmesford, hier ist die Geschichte. Ich hab's geschafft.‹ Sie sollen mal sehen, wie dann alles schnell anders wird. Dann jagt die United den Professor zum Teufel, und Sie bekommen die Abteilung.«

Mit erhobenen Händen suchte der Doktor dem Redefluß des Iren zu wehren.

»Stop! Stop, Mac. So weit sind wir noch nicht. Atomgewicht zweihundertfünfzig. Ganz schön, aber noch längst nicht alles, was ich will. Ein doppelt so großes Atomgewicht wäre mir lieber. Nach der Theorie müßte man's mit unsern heutigen technischen Mitteln auch erreichen können, wenn . . . ja, mein lieber Mac, daran wird's wohl hapern. Die United müßte tief in den Beutel greifen und noch viel stärkere Apparaturen zur Verfügung stellen . . . Na, überlassen wir das der Zukunft und untersuchen erst mal, was wir jetzt haben.«

Er näherte die Hand dem Bleiblock. MacGan wollte ihm behilflich sein, Dr. Wandel hielt ihn zurück.

»Hände davon, Mac! Die Sache ist schon wieder reichlich heiß.«

Er drehte an einem Ventil. Flüssige Luft strömte auf den Block, wallte auf, zog in Nebelschwaden durch das Zimmer und kühlte die Bleimasse wieder. Er stellte die flüssige Luft ab, und wieder näherte sich der Ire dem Block, um den Deckel abzuheben.

»Stop, Mac!« Zum zweitenmal hielt ihn der Doktor zurück und zog ihn zu einem Schrank hin. »Erst den Schutz anlegen. Wir könnten uns sonst in fünf Minuten einen Knacks fürs ganze Leben holen. Das Zeug strahlt wie Gift.«

Eine merkwürdige Art von Garderobe enthielt der Schrank. Schurzfelle, die zentnerschwer wogen, weil starkes Bleiblech in sie eingenäht war. Handschuhe ähnlicher Art und geschlossene Kopfmasken, aus denen nur zwei dicke Bleigläser den Durchblick ermöglichten. Bis zur Unkenntlichkeit vermummt kehrten sie zu dem Tisch zurück.

»Jetzt können wir's wagen«, sagte Dr. Wandel und hob den Deckel ab, mit einer Pinzette nahm er ein Körnchen des neuen Stoffes, von der Größe etwa eines Stecknadelkopfes, aus dem Block und ließ es in eine kleinere Bleibüchse fallen. Dann legte er den Deckel wieder auf den Block und verschloß auch die Büchse. MacGan fragte mit enttäuschtem Gesicht: »Mit dem Krümelchen wollen Sie arbeiten? Wo wir doch eine so große Menge von dem Stoff haben.«

»Seid mal wieder der echte Irishman, Mac. Ihr denkt auch immer: Viel hilft viel. Mit einem einzigen Teil von diesem Krümelchen wollen wir nachher unsere elektrischen Untersuchungen im Nebenraum anstellen. Hier will ich Ihnen nur mal zeigen, was das Krümelchen vermag.«

Er rieb einen Hartgummistab und berührte damit den Knopf eines Elektroskops; die beiden Goldblättchen des Apparates spreizten sich weit voneinander.

»Sehen Sie, Mac, das Ding ist geladen. Und nun . . .« er nahm den Deckel von dem kleinen Bleibüchschen ab, und im selben Moment fielen die Blättchen des Elektroskops wieder zusammen. Der geringe Teil der Strahlung, der von der Büchse her bis zum Elektroskop gelangte, hatte es in Bruchteilen einer Sekunde entladen.

MacGan staunte über die unerwartete Wirkung, aber er sollte in der nächsten Stunde Gelegenheit haben, sich des öfteren noch viel stärker zu wundern. Ein winziges Partikelchen, für das Auge kaum noch sichtbar, spaltete Dr. Wandel von dem kleinen Körnchen des neuen Stoffes ab und tat es in ein anderes Bleigefäß. Damit gingen sie nun zu den Apparaturen im Nebenraum.

Auf einer chemischen Waage, die in der Hauptsache nur aus einem federnden Quarzfaden bestand, stellte der Doktor das Gewicht des Stäubchens fest – es wog nur einige Millionstelgramm –, und dann begann er mit dieser unvorstellbar geringen Menge zu operieren, daß MacGan Hören und Sehen verging.

Strahlungsarten und Strahlungsintensitäten, die von diesem winzigen Stäubchen ausgingen, wurden untersucht, Temperaturen mit Elektrothermometern gemessen, die noch auf den millionstel Teil eines Celsiusgrades reagierten, und unermüdlich bedeckte der Doktor dabei die Seiten seines Schreibblockes mit immer neuen Formeln und Zahlen.

Nach vier Stunden war die Arbeit getan. Der Doktor verschloß das Stäubchen, dem alle diese Bemühungen gegolten hatten, wieder in sein bleiernes Gefängnis.

»So, mein lieber Mac«, sagte er, während er seine Aufzeichnungen zusammenlegte, »jetzt haben wir auch die elektrischen Daten. Nun will ich das alles mal erst richtig zu Papier bringen.«

Er griff nach einer Tasche, um MacGan für seine Hilfe mit ein paar Zigarren zu belohnen, als es an die Tür klopfte. – Tom White war von Phil Wilkin ausgeschickt worden, um den Laboratoriumsdiener zu suchen. Der Auftrag kam ihm recht gelegen, bot er ihm doch die Möglichkeit, die Räume Dr. Wandels unter einem schicklichen Vorwand zu betreten und – wenn das Glück ihm günstig, der Doktor vielleicht gar nicht da war – weitere interessante Entdeckungen zu machen. Schnurstracks begab er sich deshalb dorthin.

In dem Arbeitszimmer des Doktors befand sich niemand. Durch einen Blick auf den abgeräumten Schreibtisch überzeugte sich White davon, daß hier für ihn nichts zu holen sei. Die Tür zu dem Nebengemach war nur angelehnt. Geräuschlos drückte er sie weiter auf, und das erste, was er erblickte, war der Bleiblock, den er von jener Nacht her gut kannte, in der er den Doktor mit seinen Gehilfen belauscht hatte. Gläser und Aufzeichnungen standen daneben.

Seine Augen starrten darauf, seine Hände suchten in den Taschen nach Bleistift und Papier. Und wenn's um sein Leben ging, diese Formeln mußte er haben; aber Stimmen, die vom nächsten Raum her hörbar waren, zwangen ihn zur Vorsicht.

Er unterschied das klare, ruhige Organ Dr. Wandels und den unverkennbaren Tonfall MacGans. Während er in fliegender Hast von den Formeln des Doktors notierte, was er in der Eile erwischen konnte, horchte er gleichzeitig auf das, was die beiden nebenan sprachen.

Es drehte sich um die Ergebnisse elektrischer Messungen, Strahlungsstärken und Ähnliches mehr. Nun gingen Arbeit und Gespräch nebenan zu Ende. Schnell ließ er Bleistift und Papier verschwinden und klopfte an die Tür. Auf das Herein des Doktors trat er ein.

»Was wollen Sie hier?« fragte der befremdet.

»Verzeihung, Herr Doktor, wenn ich störe. Mr. Wilkin gab mir den Auftrag, MacGan zu suchen. Ich bin schon durch die ganze Abteilung gelaufen. Zuletzt dachte ich, daß er vielleicht bei Ihnen sein könne.«

Während White dies Gemisch von Wahrheit und Dichtung vorbrachte, versuchte er, sich soviel wie möglich von den Apparaturen ringsumher einzuprägen. Er tat es unauffällig, aber für den scharfen Blick des Doktors nicht unauffällig genug.

»Es ist gut«, sagte Dr. Wandel kurz. »Sie können MacGan mitnehmen, wir sind hier ohnehin fertig. Hier, Mac, nehmen Sie!«

Er drückte MacGan die Zigarren, die er ihm zugedacht hatte, in die Hand.

Während die beiden sich entfernten, kehrte er nachdenklich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Art und Weise, wie Tom White sich in dem elektrischen Laboratorium umgesehen hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf.

Auch White hatte mancherlei zu denken, während er Seite an Seite mit MacGan durch die langen Korridore der Abteilung ging. Der Doktor nahm MacGan bei seinen Arbeiten zu Hilfe. An und für sich eine ganz unverdächtige Angelegenheit, denn schließlich war der Laboratoriumsdiener dazu da. Aber recht auffällig für Tom White, der ja wußte, um was für Arbeiten und um was für einen Stoff es sich dabei handelte, der mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, wie diese so wunderbar strahlende Materie ebenfalls unter Mitwirkung MacGans hergestellt wurde.

Von Zeit zu Zeit warf Tom White einen Seitenblick auf MacGan. Dieser hinterhältige Kerl trottete so harmlos und einfältig neben ihm her, als ob er kein Wässerchen trüben könnte; und dabei wußte der Mensch um geheime Dinge, die für die United Chemical von größter Wichtigkeit waren und für deren Kenntnis die Dupont Company jeden Augenblick eine Summe auf den Tisch gelegt hätte, die für einen einfachen Laboratoriumsdiener ein Vermögen bedeutete.

Immer wieder kämpfte White mit dem Gedanken, alles auf eine Karte zu setzen und dem Iren einfach zu sagen: Das und das weiß ich schon. Jetzt will ich auch noch das übrige wissen. Doch jedesmal, wenn er dazu ansetzen wollte, ließ ihn ein Blick auf MacGans Gesicht wieder stocken. Ein merkwürdiger, verschlossener Ausdruck in dessen Zügen hielt ihn davon ab, auszusprechen, was ihm auf den Lippen lag. Ein unbestimmtes Gefühl – fast schon Furcht – war es, daß die Antwort des anderen auf seine Frage eine schwere Niederlage für ihn bedeuten könnte.

Niederlagen aber wünschte Tom White gerade jetzt zu vermeiden, denn der letzte Brief aus Salisbury war ihm schwer auf die Nerven gegangen. So gelangte MacGan ungefragt in das Laboratorium Wilkins. White zog sich an seinen Arbeitstisch zurück, aber seine Gedanken waren nicht bei den Untersuchungen, die er hier machen sollte. Immer wieder kehrten sie zu dem letzten Brief Mr. Spinners zurück, den ihm die Frühpost gebracht hatte.

Was da mit Hilfe der Schablone aus dem Familienbrief von Onkel Joshua herauskam, war ein unverhüllter Tadel des Nachrichtenchefs. Eine scharfe Aufforderung an White, die Zeit nicht mit unnützen Vorbereitungen zu vertrödeln, sondern endlich Tatsachen und positives Material zu liefern. White rief sich die Vorgänge in die Erinnerung zurück. Dieser ihm so unsympathische Brief war die Antwort auf den Bericht, der mit seinem Zusammensein mit Wilkin endete. Aber wenige Stunden später hatte er ja schon wieder berichtet . . . über das nächtliche Experiment . . . hatte Aufzeichnungen Dr. Wandels gesandt. Das waren doch Leistungen, die ihm ein anderer erst mal nachmachen sollte . . . Mit Ungeduld erwartete er die Mittagspause, um in seine Wohnung zu eilen und nach seiner Post zu sehen. Vielleicht, daß die Antwort auf seinen letzten Bericht schon da war. – –

Achtlos legte Professor Melton ein Schreiben beiseite, das ein Bote aus der Stadt gebracht hatte.

»Mr. White bittet, ihn für heute nachmittag zu entschuldigen«, sagte er zu Wilkin, »er hat starke Kopfschmerzen.«

»Wird hoffentlich bald vorübergehen«, meinte der Assistent und warf den Brief in den Papierkorb, »ist doch sonst ein ganz tüchtiger Mensch. Es wäre gut, wenn wir ihn bald mal nach Salisbury schicken könnten.« – –

Während dieses Gesprächs befand sich Tom White nicht in seiner Wohnung, und er hatte auch keine Kopfschmerzen. Vielleicht aber hätten Professor Melton und Wilkin welche bekommen, wenn sie um seine Korrespondenz und sein augenblickliches Tun gewußt hätten.

White saß im Restaurant des Flugplatzes von Detroit und blickte unentwegt nach dem Horizont, obwohl zu dieser Zeit kein Verkehrsflugzeug fällig war.

Ungeduldig zog er von Zeit zu Zeit die Uhr . . . ein Viertel auf zwei . . . einhalb zwei . . . Fern im Südosten wurde ein schimmerndes Pünktchen am Himmel sichtbar, wurde schnell größer, kam immer näher und war nun ein schnittiger Eindecker, der über dem Flughafen kreiste. Im Gleitflug kam die Maschine herab, setzte auf und rollte aus.

Nur ein einziger Mann entstieg dem Flugzeug und schritt auf das Restaurant zu. Ein langer, bis zu den Füßen reichender Staubmantel verhüllte seine Gestalt, Autokappe und Schutzbrille verdeckten den größten Teil seines Gesichtes. Am Ausgang des Flugplatzes empfing ihn White.

»Mein Auto wartet draußen, Mr. Slawter, wir können gleich zu mir fahren.«

Auf der Fahrt vom Flugplatz zur Stadt fiel kaum ein Wort im Wagen. Die Blätter mit den letzten Formeln Dr. Wandels, die White ihm gleich zu Beginn übergeben hatte, nahmen Slawter vollständig in Anspruch. Wie aus einem Traum erwachte er, als das Auto vor dem Hause Tom Whites hielt.

»Soll der Wagen warten?« fragte White.

»Nein . . . ja . . . nein . . .«

Robert Slawter war unschlüssig.

»Ich verstand, daß Sie den Stoff sofort im Flugzeug mit nach Salisbury nehmen wollten«, versuchte ihm White nachzuhelfen. Slawter fuhr sich über die Stirn, als wolle er Ordnung in seine widerstreitenden Gedanken bringen. Nach geraumer Zeit antwortete er. »Sie haben recht, Mr. White. Lassen Sie den Wagen warten.«

White schloß die Tür zur Wohnung auf und ließ seinen Gast eintreten.

»Wo haben Sie die Probe?« fragte der, als sie im Wohnzimmer standen.

»Nebenan im Baderaum!« Eine leichte Verlegenheit zeigte sich in den Zügen Whites, während er weitersprach. »Ich wußte mir nicht anders zu helfen, Mr. Slawter. Die Bleihülle wird zu heiß. Ich konnte es nicht riskieren, sie hier stundenlang auf dem Tisch liegenzulassen, während ich im Werk war. Ich habe das Rohr in ein Waschbecken getan und lasse ständig kaltes Wasser darüberlaufen. So hat sich die Erwärmung bis jetzt in erträglichen Grenzen gehalten.«

»Kommen Sie! Zeigen Sie!« drängte Slawter.

White führte ihn in das Badezimmer. In dem Waschbecken lag eine Bleirolle von der Dicke eines Handgelenkes etwa und eine knappe Spanne lang. Aus einem Hahn fiel kaltes Wasser in stetem Strahl darauf und lief durch die Abflußöffnung ab. Slawter steckte die Hand in das Becken. Das abfließende Wasser war reichlich warm. Kopfschüttelnd zog er sie wieder zurück.

»Wunderbar, Mr. White, ganz wunderbar! Sie schrieben uns, daß das Stückchen kaum die Größe einer Kirsche habe.«

»Kleiner noch, Mr. Slawter. Der Kristall ist kaum größer als eine Bohne. Eine recht praktische Heizvorrichtung müßte das Ganze abgeben. Seit mehr als fünfzig Stunden läuft das Wasser so heiß ab, mehrere hundert Wannen voll müssen es schon sein. Eine Abnahme der Temperatur ist noch nicht zu merken.«

Vergeblich wartete White auf eine Antwort. Wie geistesabwesend stand Slawter da und starrte auf die Bleirolle, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich fürchte, Mr. Slawter«, hub er nach einer Weile wieder an, »der Transport wird nicht einfach sein. Im Flugzeug können Sie nicht ständig mit Wasser kühlen. Der Bleimantel wird sich gefährlich erhitzen.«

Er mußte sein Bedenken wiederholen, bevor die Erstarrung von Slawter abfiel.

»Darum keine Sorgen, lieber White. Das Flugzeug macht achthundert Stundenkilometer. Der Fahrwind wird das Blei noch stärker kühlen als das Wasser hier, und den kurzen Weg zum Flugplatz werden wir wohl gesund überstehen.«

Tom White unterdrückte die Zweifel, die in ihm aufstiegen.

»Wollen wir jetzt fahren?« fragte er.

»Ja, brechen wir auf, Mr. White.«

Zögernd stand White vor dem Becken. Offensichtlich scheute er sich, zuzufassen und das gefährliche Bleipaket herauszuholen. Slawter nahm ihm die Sorge ab. Aus seiner Aktentasche zog er ein größeres Stück starken Asbestgewebes hervor, breitete es aus, packte das Bleirohr und wickelte es in das feuerfeste Tuch ein.

Im Wagen bat er White, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, und legte das Bündel neben sich auf das Polster. Vergeblich wartete White während der Rückfahrt zum Flugplatz auf ein Wort der Anerkennung für seine Leistungen, Slawter blieb stumm wie ein Fisch. Minutenlang grübelte er vor sich hin, dann zog er einen Schreibblock heraus und brachte Zeile um Zeile zu Papier. Erst als der Wagen am Eingang zum Flugplatz hielt, kam er damit zu Ende und faltete das beschriebene Blatt zusammen. Tom White lohnte den Chauffeur ab; aber als der wegfahren wollte, rief ihn Slawter an und befahl ihm zu warten.

Gott sei Dank – ganz hat er die Sprache doch noch nicht verloren, dachte Tom White, während er neben ihm über den Flugplatz ging. Vielleicht sagt er vor dem Abflug noch wenigstens good-bye zu mir. Er brauchte nicht lange zu warten. Slawter begann jetzt zu ihm zu sprechen.

»Ich habe es mir überlegt, Mr. White . . .« Habe ich gemerkt. Hat lange genug gedauert, old chap, ging es White durch den Kopf. Doch schon im nächsten Augenblick liefen seine Gedanken ganz anders, denn Slawter fuhr fort:

»Ich habe noch etwas in Detroit zu erledigen. Sie werden für mich nach Salisbury fliegen und das Paket bei meinem Assistenten Grimshaw abgeben. Ich habe hier alles für ihn aufgeschrieben.«

»Aber . . . aber, Mr. Slawter . . .« Tom White kam ins Stottern. »Ich muß morgen früh wieder im Werk sein . . .«

»Können Sie auch ganz bequem, lieber White . . . das Flugzeug bleibt zu Ihrer Verfügung. Es wird Sie in der Nacht nach Detroit zurückbringen. Das steht hier alles genau drin.« Er reichte White den zusammengefalteten Blockzettel. »Stecken Sie das in Ihre Brieftasche und geben Sie es in Salisbury Mr. Grimshaw. Dann wird schon alles in Ordnung gehen. Selbstverständlich müssen Sie morgen früh hier Ihren Dienst pünktlich antreten.«

Während White das Blatt an sich nahm, bewegten ihn widerstreitende Gefühle. Einerseits erfreute ihn der Auftrag, den Slawter ihm erteilte, denn einem Mann, mit dem die Dupont Company unzufrieden war, würde er ihn nicht gegeben haben. Andererseits beunruhigte ihn die Aussicht, daß er den Flug nach Salisbury mit dem gefährlichen Paket machen sollte, denn vor diesem Bleirohr empfand er nachgerade ein stilles Grauen. Kaum begriff er noch, daß er es vor nicht allzu langer Zeit einfach in seiner Brusttasche aus Meltons Abteilung in seine Wohnung gebracht hatte.

Von Tag zu Tag, ja fast von Stunde zu Stunde schien der kleine Kristall, der in der Bleihülle steckte, immer wirksamer und lebendiger zu werden. Immer stärker nahm die Wärmeenergie zu, die er ausstrahlte, immer gefährlicher stieg die Temperatur der Bleihülle an.

Hätte White etwas mehr von den Strahlungsmessungen aufgeschnappt, die Dr. Wandel zusammen mit MacGan machte, während er selber im Nebenraum lauschte, so wäre ihm die Erscheinung weniger wunderbar vorgekommen. Er hätte gewußt, daß sie mit der Zerfallskurve des neuen, so ungeheuer radioaktiven Stoffes zusammenhing. So aber hatte er das unangenehme Empfinden eines Mannes, der eine gestohlene Dynamitpatrone bei sich trägt und fürchtet, daß sie jeden Augenblick explodieren könnte.

Unter derart sorgenvollen Gedanken kam er zusammen mit Slawter zu dem Eindecker, und hier geschah etwas, das ihn wieder leichter atmen ließ. Unter einer der Flugzeugschwingen war ein Behälter aus weitmaschigem Drahtgeflecht befestigt, in seinem Äußeren einem kleinen Vogelbauer nicht unähnlich. Slawter öffnete den Behälter, ließ das Bleirohr aus dem Asbesttuch hineinrollen und verschloß ihn wieder sorgfältig. Das Tuch gab er White.

»Stecken Sie das ein, Mr. White. Sie werden es in Salisbury noch brauchen, und jetzt los! Instruktionen, Geld und was Sie sonst noch nötig haben, wird man Ihnen in Salisbury geben.«

Ein kurzer Händedruck. Tom White kletterte über die Schwinge in die Flugzeugkabine. Die beiden Motoren brüllten auf, so daß White das Good-bye nicht mehr hören konnte, das Slawter ihm nachrief. Schon rollte die Maschine über den Rasen, löste sich vom Boden und stieg empor. Früher, als Professor Melton und Wilkin es ahnten und beabsichtigten, hatte Tom White die Reise nach Salisbury angetreten.

*


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