Hans Dominik
Atomgewicht 500
Hans Dominik

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Durch den Brand war die Abteilung Melton obdachlos geworden. Ein Teil der Angestellten wurde vorübergehend in anderen Abteilungen beschäftigt. Professor Melton und seinem engeren Stab hatte Direktor Clayton einige Zimmer im Verwaltungsgebäude, die zur Not entbehrlich waren, zugewiesen. Sie waren nicht besonders geräumig, doch bis zur Wiederherstellung der niedergebrannten Baulichkeiten mußte man damit vorliebnehmen.

Der Professor und Wilkin hausten in einem Zimmer, das eigentlich als Warteraum für Besucher gedacht war. Dort saßen sie zusammen über den Autoklavzeichnungen Dr. Wandels, berieten hin und her und konnten sich nicht einig werden. Es ging dabei um die Frage, ob man den neuen Apparat nach den ursprünglichen Plänen des Doktors bestellen sollte oder mit dem von Wilkin veränderten Verschlußstück. Der Professor hatte Bedenken bekommen und wollte sich jetzt strikt an die Zeichnungen Dr. Wandels halten, Wilkin verteidigte seinen eigenen Entwurf, und in ihre Streitereien platzten immer dringlichere Mahnungen Claytons hinein, endlich zu einem Entschluß zu gelangen und den neuen Autoklav in Auftrag zu geben. – –

Tom White steckte in einem Stübchen, das noch erheblich kleiner war als das Zimmer des Professors und seines Assistenten. Der Raum war ursprünglich für einen Bürodiener bestimmt, aber Direktor Clayton hatte den Mann mit Stuhl und Tisch kurzerhand auf den Korridor gesetzt und White darin untergebracht.

In ziemlich verdrossener Stimmung hatte Tom White sein neues Quartier bezogen, aber sehr bald begann er ihm Geschmack abzugewinnen, denn dieses Loch von einem Zimmer lag in nächster Nähe der Räume des Präsidenten Chelmesford und des Direktors Clayton. Bei angelehnter Tür war es ihm ein leichtes, zu beobachten, wer bei den beiden aus und ein ging, und von dieser Möglichkeit machte er fleißig Gebrauch, denn recht was zu tun gab es für ihn in der Übergangszeit kaum.

Um so mehr bemühte er sich, den Weisungen Mr. Spinners gerecht zu werden und möglichst viel zu beobachten, das für den Nachrichtenchef in Salisbury von Wichtigkeit sein konnte; aber seinen Bestrebungen war leider eine enge Grenze gezogen. Sowohl das Zimmer Chelmesfords als auch das Claytons war mit doppelten Türen versehen, durch die kein Laut von dem, was drinnen verhandelt wurde, herausdrang. Er konnte eben nur sehen, wer zu dem einen oder anderen hineinging, dann fielen die Türen ins Schloß.

Ins Schloß. Das war für einen Mann wie Tom White kein Hindernis. Ein Abdruck war schnell genommen und ein Schlüssel danach angefertigt, aber viel weiter kam er dadurch nicht. Wohl konnte er jetzt in Zeiten, zu denen er ihre Bewohner fern wußte, diese Räume betreten, doch viel zu entdecken gab es dabei auch nicht, denn sowohl Chelmesford als auch Clayton pflegte seine wichtigeren Schriftstücke in Stahlschränken aufzubewahren, die den Schlosserkünsten von Mr. White gewachsen waren. Außerdem blieb die Sache auch reichlich gefährlich. Kam doch einmal einer der beiden, Chelmesford oder Clayton, unvermutet zurück, so mußte das für den unerwünschten Beobachter natürlich die schwerwiegendsten Folgen haben.

Man müßte dabeisein und alles hören können, wenn sie ihre Besprechungen abhalten, sagte Tom White sich ein über das andere Mal, und er war auch der Mann dazu, diesen Wunsch zu verwirklichen.

Es war schon nach Werkschluß, als er sich noch auf dem Korridor zu schaffen machte. Ein Schlüssel in seiner Hand öffnete die doppelten Türen von Chelmesfords Zimmer. Er schob eine Streichholzschachtel hinter die Bücherreihen eines Regals, der äußerlich nicht anzusehen war, daß sie ein empfindliches Mikrophon enthielt. Eine fadendünne isolierte Leitung brachte er sorgfältig zwischen Tapete und Scheuerleiste unter, und dann war er wieder draußen. Die Leitung aber führte er weiter bis zu seinem Raum und in den Kleiderschrank, in dem sich eine elektrische Batterie und einige andere Apparate befanden.

Noch einmal das gleiche Spiel im Zimmer Claytons, und mit einem Gefühl der Erleichterung kehrte Tom White in den eigenen Raum zurück. In Zukunft würde er es nicht mehr nötig haben, sich in Gefahr zu begeben. In voller Ruhe und Sicherheit würde er durch das Telephon in seinem Schrank mithören können, was die Leiter der United hinter doppelt gesicherten Türen sprachen. Jetzt sollte Mr. Spinner Berichte nach seinem Herzen bekommen, und der Lohn der Dupont Company für solche Tüchtigkeit würde nicht ausbleiben. In der Tat bekamen die Briefe aus Detroit, die der Nachrichtenchef in Salisbury mit einer gewissen Schablone entziffern mußte, von diesem Zeitpunkt an einen derartig reichen Inhalt, daß er öfter als einmal geneigt war, Tom White für einen Zauberkünstler zu halten. – –

Sehr viel weniger war die Nachrichtenabteilung der United mit ihren Agenten in Salisbury zufrieden, denn trotz aller Bemühungen wollte es denen nicht mehr gelingen, irgend etwas Wichtiges und Wissenswertes über die Arbeiten in der Abteilung Slawter in Erfahrung zu bringen. Nur das war noch gemeldet worden, daß ein neuer, riesenhafter Autoklav angekommen und unter der Leitung des deutschen Doktors aufgestellt worden sei. Dann wurden die Berichte spärlich und mangelhaft und wollten auch trotz ernstlicher Ermahnung aus Detroit nicht wieder in Fluß kommen.

Das Verhältnis des Doktors zu seinen Mitarbeitern konnte als vorbildlich gelten. Wenn er sie auch alle, Slawter nicht ausgenommen, bei den fortgesetzten Probeläufen der neuen Anlage scharf herannehmen mußte, so geschah das doch in einer so kameradschaftlichen Weise, und er selber schonte sich dabei so wenig, daß alle mit Lust und Liebe bei der Sache waren. Jeder von ihnen gewann dabei die Überzeugung, unentbehrlich zu sein und das volle Vertrauen des deutschen Doktors zu genießen, und blieb um so mehr bemüht, sein bestes Können zu zeigen.

Das geschah, nachdem Dr. Wandel die drei Assistenten Slawters gründlich ins Gebet genommen und alles überflüssige Volk aus der Abteilung entfernt hatte. Wohl ließen sich die Herren Tamblyn und Grimshaw noch von ihren Freunden Brown und Miller im Klub freihalten, und Mr. Howard verkehrte nach wie vor in seinem Baseballverein und schlug es Mr. Jefferson nicht ab, ein Glas mit ihm zu trinken, aber weder dort noch hier kam dabei etwas Wissenswertes heraus. Wenn aber die Assistenten Slawters doch einmal ihre Zurückhaltung aufgaben und zwanglos plauderten, so erwiesen sich ihre Mitteilungen später als irreführend, und das war für die Leute der United fast noch unangenehmer. Die Anweisungen Dr. Wandels waren auf einen fruchtbaren Boden gefallen, und der Nachrichtendienst von Detroit hatte darunter zu leiden. – –

Aber Dr. Wandel hatte doch noch seine Heimlichkeiten. Als die Woche anstrengender Probeläufe sich ihrem Ende zuneigte, wußte selbst Robert Slawter noch nichts davon, daß in der innersten Kugel des großen Autoklavs bereits zwei Stifte aus einem schweren, dunklen Metall von der gleichen Art steckten, wie sie seinerzeit auch bei dem nächtlichen Versuch in Detroit benutzt worden waren. – –

Ein Uhr mittags. In Salisbury schrillten die Sirenen auf und gaben heute, am Sonnabend, das Signal für den Arbeitsschluß. Die Büros und Werkstätten der Company begannen sich zu leeren. In hellen Scharen strömte die Belegschaft aus Hallen und Häusern auf die Werkhöfe und ergoß sich durch die großen Tore auf die Straße. Nur in der Abteilung Slawter blieben fünf Männer zurück. »Wie steht's, Doktor Wandel?« fragte Slawter, »können wir der Werkleitung nächste Woche die Bereitschaft unserer Abteilung melden?«

Der Doktor ließ seine Blicke über die schimmernden Maschinenanlagen in der großen Halle wandern und schien etwas zu überlegen, bevor er nach kurzem Zögern antwortete.

»Ich denke, Slawter; wenn wir jetzt noch eine Generalprobe veranstalten, können wir Montag die Meldung machen. Allerdings müßten die Herren dann etwas von ihrem freien Nachmittag opfern. Ein paar Stunden würde uns eine letzte Probe unter vollem Druck und Strom in Anspruch nehmen.«

Er sah sich fragend um und brauchte nicht weiter zu fragen. Zustimmung, Entschlossenheit und Tatendurst leuchteten ihm aus den Mienen seiner Mitarbeiter entgegen. Klar kamen die Worte von seinen Lippen.

»Fertig zur letzten Probe!«

Kurz und scharf fielen die nächsten Kommandos.

»Pumpe eins läuft an, Pumpe zwei . . . drei, vier . . . fünf!«

Mit voller Tourenzahl arbeiteten die mächtigen Gaspumpen, klingend dröhnten die Schläge ihrer Ventile durch die Halle.

»Luft auf!« kam das nächste Kommando, und in endlosen Strömen ergoß sich die flüssige Luft über die Autoklavkugel. Mächtige Schwaden wallten auf und vernebelten die Halle. Für Minuten konnte keiner der fünf den andern sehen, so dicht wogten die Dunstmassen daher. Dann wurden sie lichter, die Sicht kam wieder. Der gewaltige Stahlbau des Autoklavs war durch und durch auf Weltraumkühle niedergekühlt.

Der Doktor gab sich das Kommando selbst und bewegte im gleichen Moment den Stromschalter. Transformatoren brummten auf, und zehntausend elektrische Pferde rasten im Herzen der innersten Stahlkugel.

Dr. Wandel ließ die Hand nicht vom Schalter, während seine Augen den Gang von zehn Meßinstrumenten gleichzeitig verfolgten. Unablässig kamen dabei neue Befehle aus seinem Munde.

»Slawter, Pumpe fünf mehr Druck! . . . Grishaw, Pumpe drei weniger Druck! . . . Howard, Luft stärker auf! Tamblyn, Pumpe vier schwächer! . . .«

Wie ein Automat kommandierte Dr. Wandel, und wie Automaten führten die andern seine Befehle in Bruchteilen von Sekunden aus. Lange genug hatten sie ja geübt, bevor sie diese letzte, schwerste Probe wagten, und freudig fühlten sie jetzt, wie nützlich und notwendig die lange Vorübung gewesen war. Unwillkürlich mußte Robert Slawter jenes früheren Versuches gedenken, der beinahe mit einer Katastrophe geendet hatte. Fast leichtfertig erschien ihm nun sein damaliges Vorgehen. Jetzt würde es anders klappen. Wenn sie heute diesen letzten Probelauf unter vollem Druck und Strom glücklich zu Ende geführt hatten, dann mochten übermorgen Mr. Dowd, Direktor Alden und alle die andern kommen. Man würde ihnen etwas zeigen, das ihr Staunen erregen sollte. Hielt die Anlage heut die riesenhafte Beanspruchung aus, dann würde sie zuverlässig auch übermorgen standhalten.

»Pumpe fünf stärkeren Druck!«

Das Kommando Dr. Wandels riß Slawter aus seinen Gedanken. Während er die Maschine stärker laufen ließ, blickte er auf das Manometer und erschrak. Der volle Druck von einer halben Million Atmosphären stand in der innersten Kugel. Bis zu dem berechneten Wert hin war der Autoklav jetzt beansprucht. Wenn ein Fehler in der Stahlmasse war, irgendein winziger Riß irgendwo . . . wenn die Riesenspannung sich gewaltsam Bahn brach . . . im Augenblick mußten sie dann alle, die hier standen und dem Element nach ihrem Willen Fesseln anlegten, zerschmettert, zerrissen, vernichtet werden. Wie ein Sturmwind würde die Katastrophe weitertoben . . . über das Werk, über die Stadt hin. Nur noch ein riesiger Trümmerhaufen und ein gewaltiges Leichenfeld würden Zeugnis ablegen von diesem Versuch . . . und von denen, die ihn gewagt hatten.

Ruhiger wurde der Lauf der Maschinen, seltener fielen Kommandos, die neue Regelung verlangten. In stetem Takt pochten die Pumpenventile, in stetem Strom ergoß sich die flüssige Luft aus den Brauserohren über die Stahlkugel, und traumhaft wurde der stete Fluß der Zeit für Robert Slawter. Wie aus einer andern Welt klang ein Kommando Dr. Wandels an sein Ohr.

»Pumpe fünf schwächeren Druck!« Noch während er es ausführte, erschallte schon das nächste: »Pumpe vier Druck schwächer!« Schritt um Schritt wurde die Leistung der mächtigen Gaspumpen gemindert, während der Doktor die elektrische Energie zurückdrosselte. Der Augenblick kam, da alle Maschinen wieder stillstanden. Fast unwahrscheinlich wirkte die Ruhe in der großen Halle auf die fünf Männer, nachdem so lange Zeit das Dröhnen der Maschinen, das dumpfe Brausen der Transformatoren und das schneidende Zischen der flüssigen Luft ihre Ohren betäubt hatten.

Die Stimme Dr. Wandels klang durch die Stille. »Die Generalprobe ist zu Ende! Montag große Vorstellung vor geladenem Publikum. Für heut Feierabend, meine Herren.«

Langsam verließen die drei Assistenten die Halle, Slawter und Dr. Wandel blieben allein zurück. Nur ein leises Knistern und Knacken hier und dort unterbrach die Stille in dem großen Raum. Die Geräusche kamen von der Maschinenanlage her, deren heiße Teile sich allmählich abkühlten.

»Nun wären wir also glücklich soweit, Doktor. Montag müssen wir zeigen, was wir können«, brach Slawter das Schweigen. »Hoffentlich lohnt der Erfolg unsere Bemühungen.«

»Ich erwarte es bestimmt, Slawter. Wir hatten heute eine halbe Million Atmosphären in der Kugel, die Temperatur . . . unsere Pyrometer sind bei der Riesenglut nicht mehr mitgekommen . . . das muß bei späteren Versuchen noch verbessert werden . . . aber rechnungsmäßig schätze ich, daß wir im Energiezentrum beträchtlich über eine Million Grad hinausgekommen sind. Nach der Theorie ist daher zu erwarten . . .«

Während der letzten Worte griff Dr. Wandel nach jenem Formelheft, das Slawter so gar nicht liebte, und während der nächsten Viertelstunde mußte er eine Fülle von mathematischen Ableitungen und chemischen Schlußfolgerungen über sich ergehen lassen, bis ihm der Kopf brummte. Vergeblich versuchte er verschiedentlich, den Doktor zu unterbrechen. Der ließ sich in seinen Erklärungen und Berechnungen nicht stören, bis er zum Endergebnis kam.

»So dürfen wir unter den genannten Verhältnissen mit großer Bestimmtheit die Entstehung eines neuen Elements mit dem Atomgewicht fünfhundert erwarten . . .«

»Fünfhundert, Doktor Wandel?« Fast wie ein Schrei kam es von den Lippen Slawters. »Fünfhundert, Doktor? Ein Riesenerfolg wäre das! Ein neues Zeitalter der Chemie . . . der ganzen Technik müßte es bedeuten, wenn . . . Sie sich nicht irren, Doktor Wandel.«

»Ich halte einen Irrtum für ausgeschlossen, Slawter. Ein neues Element mit dem Atomgewicht fünfhundert muß sich bilden, das nicht strahlt, sondern stabil ist.«

»Nicht strahlt?« Slawter sah ihn enttäuscht an. »Damit ist uns nicht viel gedient. Wir wollen doch strahlende Materie herstellen . . .«

»Sie sind unverbesserlich, Slawter! Lassen Sie mich doch endlich ausreden. Ein neues Element muß entstehen, das unter normalen Verhältnissen stabil ist, aber äußerst mobil wird, sobald man es mit Wasser auflöst . . .«

»Ah, Doktor!« Slawter vergaß vor Staunen beinahe, seinen Mund wieder zu schließen. Dr. Wandel fuhr in seinen Auseinandersetzungen fort, wobei er zum Leidwesen Slawters wieder seine Formeln zu Hilfe nahm.

»Das verhält sich nämlich so, mein lieber Slawter. Normalerweise bleiben die Atome dieses neuen Stoffes ruhig. Erst wenn er in Wasser aufgelöst wird – Sie wissen ja, Dissoziation und Ionenbildung –, dann setzt der Zerfall ein, dann aber auch ganz gehörig.«

Wieder suchte der Doktor zwischen seinen Formeln. »Halbe Zerfallszeit vierundzwanzig Stunden – noch etwas zu explosiv. Das Ideal ist es noch nicht, Slawter, aber für den Anfang mag es genügen.«

»Wenn wir's nur erst hätten, Doktor! Bei Gott, ich wäre damit zufrieden. Solch ein Stoff . . . er ginge über alles hinaus, was ich jemals erwartet und erhofft habe, aber ich fürchte, Doktor Wandel, Ihre Theorien eilen den Tatsachen weit voraus.«

»Das wollen wir gleich sehen, Slawter.«

Ein leichtes, rätselhaftes Lächeln glitt über das Gesicht Dr. Wandels, während er die Worte sprach.

»Gleich sehen, Doktor? Was wollen Sie? Was haben Sie vor? Wollen Sie etwa jetzt den Versuch machen? Ohne unsere Assistenten? Ohne die Werkleitung zu benachrichtigen? Das ist unmöglich!«

»Und überflüssig, Mr. Slawter. Der Versuch wurde bereits gemacht . . .«

»Wurde bereits gemacht?« kam es wie ein Echo von Slawters Lippen. Dr. Wandel nickte.

»Ganz richtig, Mr. Slawter. Wir haben ihn vorhin gemacht, Sie, ich und Ihre Assistenten . . . wir alle fünf zusammen. Jetzt wollen wir beide den Autoklav öffnen und sehn, was wir darin finden.«

Slawter hörte die Worte des Doktors, ohne ihren vollen Sinn zu begreifen, und als er ihn erfaßt hatte, saß er eine Weile stumm in sich zusammengesunken. Die Überraschung war zu groß, die Erschütterung zu gewaltig. Es bedurfte einiger Zeit, bis seine Erstarrung sich löste. Seine Stimme klang verändert, als er wieder sprach.

»Sie haben den Versuch gemacht, Doktor Wandel? Die Würfel sind gefallen . . . Erfolg oder Mißerfolg? Kommen Sie, wir wollen sehen, was in der Kugel ist.«

Es war keine leichte Aufgabe für die beiden Männer, den neuen Autoklav zu öffnen und bis zum Zentrum des mächtigen Stahlbaues vorzudringen. Fünf kugelförmige Hüllen steckten ja hier ineinander. Fünfmal mußten sie mit Maschinenkraft schwere Verschlußstücke herausdrehen, die durch den Druck und die Hitze des letzten Versuches fast untrennbar mit dem Apparatkörper verbunden waren. Bis endlich knirschend und krachend das fünfte, innerste Stück sich unter dem wuchtigen Angriff einer Maschinenzange zu drehen begann, von seiner Verschraubung freikam und am Kranhaken hing. Der hob es empor, und am Kran fuhr das Deckelstück durch die Halle, bis es in der Nähe des Fensters über einem Laboriertisch hing. Durch eine Schalterbewegung ließ Dr. Wandel den Haken wieder nach unten. Fast in Augenhöhe hatten sie das Stück jetzt vor sich.

»Da ist es, Slawter«, sagte der Doktor und trocknete sich die Stirn mit einem Tuch. Wie gebannt starrte Robert Slawter auf ein Kristallgebilde, das unter dem Deckel an zwei Elektroden hing.

»Da ist es! Da ist es!« wiederholte er mechanisch die Worte des Doktors und streckte die Hand danach aus. Etwa die Größe und Gestalt eines Apfels hatte das Gebilde, kühl und glatt fühlte es sich an, als seine Finger es berührten. Anders verhielt sich dieser Stoff als jener, der bei dem Versuch in Detroit entstand. Keine elektrischen Schläge teilte er aus. Kein Brennen und keine Erschütterung empfand Slawter, während er ihn betastete. Mit stiller Befriedigung sah es Dr. Wandel und nickte leicht vor sich hin.

»Keine Strahlung. Es ist, wie ich's erwartete. Die Theorie hat recht behalten. Bis hierher wenigstens. Wir wollen weitersehen, Slawter.«

Slawter erschauerte leicht und zog seine Hand zurück.

»Unheimlich ist das, Doktor Wandel. Man könnte sich davor fürchten. Wie düster die Kristalle schimmern. Sie sind nicht schwärzer als Kohle und wirken doch viel schwärzer. Unheimlich und wunderbar zugleich. Man spürt es fast greifbar, daß jeden Augenblick etwas Ungeheures aus diesen Kristallen herausbrechen könnte.«

»Nur mit unserem Willen, Slawter, wenn wir der gefesselten Energie den Weg freigeben. Wir sind die Herren des Stoffes, den wir schufen. Wir wissen ihn zu meistern. In den Händen von Toren freilich könnte dieser kleine Ball fürchterliche Wirkungen haben. Diesmal muß ich den Stoff unter besserem Verschluß halten als damals in Detroit. Zu schlimm wäre das Unheil, das sonst entstehen könnte.«

Dr. Wandel schwieg und griff nach einer Metallsäge. Mit kräftigen Strichen begann er das Elektrodengestänge an den Stellen zu durchschneiden, wo es in den Kristallball hineinragte. Als das Sägeblatt auch die zweite Elektrode zur Hälfte abgetrennt hatte, unterbrach er seine Arbeit, griff nach einem trockenen Wolltuch und drückte es Slawter in die Hand.

»Fangen Sie die Kugel damit auf, wenn sie sich von der Elektrode löst.«

Slawter legte das Tuch um das Kristallgebilde und hielt es mit einer Hand. »Sie werden beide Hände nehmen müssen, mein lieber Slawter«, sagte der Doktor und setzte die Säge wieder an.

Etwas ungläubig folgte Slawter der Weisung. Ein dutzendmal zog Dr. Wandel die Säge noch hin und her, dann fiel das Gebilde in Slawters Hände, so massig und schwer, daß es ihn nach vorn hinüberriß, daß er die Ellbogen auf den Tisch stützen mußte, um nicht zu fallen. Verwundert starrte er auf die kleine Kugel, die mit einer so unbegreiflichen Last auf seine Hände drückte.

»Nach der Theorie, mein Lieber . . .« hub der Doktor an. Mit einem Laut der Ungeduld ließ Slawter die Kristallkugel auf den Tisch gleiten. Einen mathematischen Vortrag anzuhören und gleichzeitig noch ein Zentnergewicht zu halten, ging über seine Kräfte. Aber der Doktor verzichtete diesmal auf lange Formeln. Er sagte nur kurz und bündig:

»Nach der Theorie muß der neue Stoff etwa doppelt so schwer wie Platin sein. Ich schätze das Gewicht auf etwa neunzig bis hundert Pfund.«

Slawter rieb seine Finger. »Wunderbar, Doktor Wandel! Ein merkwürdiger Stoff! Das kleine Ding wiegt einen Zentner. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht jetzt noch an meinen Händen spürte.«

Der Doktor hatte sich auf einen Schemel vor dem Tisch niedergelassen. Er stützte den Kopf in die Arme und blickte nachdenklich auf die Kristallkugel. Langsam und versonnen kamen die Worte von seinen Lippen.

»Sie haben recht, Slawter, es ist ein wunderbarer Stoff; wunderbar in jeder Hinsicht. Es könnte wohl ein neues Zeitalter der Technik damit beginnen, wenn er auch das letzte erfüllt, das die Theorie von ihm fordert. Nun, auch darüber werden wir bald Gewißheit haben.«

Während er die Worte sprach, griff er wieder zu der Säge und ließ sie ganz leicht über die Kugel gleiten. Ein Splitterchen, winzig nur, dem Auge kaum sichtbar, löste sich dabei von ihr und verfing sich zwischen zwei Sägezähnen. Dr. Wandel griff nach einer Pinzette und klemmte sich eine Lupe ins Auge. Wie er da am Tisch hockte, das Sägeblatt vorm Gesicht, und mit der feinen Pinzette nach dem Kristallstäubchen fischte, ähnelte er einem Uhrmacher bei seiner Arbeit. Jetzt hatte er das Stäubchen gefaßt, ließ es in eine Glasschale fallen und erhob sich.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Slawter.« Er verließ die Halle und ging nach seinem Arbeitsraum. Als er zurückkam, trug er in der Rechten eine blinkende Stahlkassette, in der Linken ein feines Gerät, das er vorsichtig auf den Tisch stellte.

Mit einem vielfach gezackten Schlüssel öffnete er die Kassette. In das Flanelltuch gehüllt, kam die Kristallkugel hinein. Als der Doktor den Deckel wieder zuschlug, konnte Slawter beobachten, daß der Deckel sich mit zahlreichen Falzen in die Wände des Behälters einfügte. Die Kassette schloß vollständig luftdicht.

»So«, sagte der Doktor, während er den Schlüssel in seine Brieftasche steckte, »da drinnen ist unser Stoff vor aller Feuchtigkeit sicher. Jetzt wollen wir mal sehen, was er leistet.«

Dabei machte er sich an dem andern Apparat, den er mitgebracht hatte, zu schaffen. Im Grunde war das ein recht einfaches Gerät, in der Hauptsache nur eine Skala, vor der sich waagerecht ein haarfeiner Glasfaden befand. Wieder nahm der Doktor die Lupe zur Hilfe, holte das Kristallstäubchen mit der Pinzette aus der Glasschale und legte es behutsam auf das freie Ende des gläsernen Fadens.

Äußerst gering war die Masse des Stäubchens, aber unendlich empfindlich war auch der feine Faden, der es tragen mußte. Ein wenig bog er sich doch unter der Belastung. Um vier Teilstriche tiefer stand sein freies Ende jetzt vor der Skala.

»Wir haben es ganz gut getroffen. Ziemlich genau vier Tausendstel eines Milligramms. Für ein Vollbad wird es nicht zuviel sein.«

Er ließ das Stäubchen wieder in die Glasschale fallen und legte einen Deckel darauf, während er weitersprach.

»Kommen Sie mit, Slawter. Wir wollen in Ihr Laboratorium gehen. Das Becken dort faßt zweihundertfünfzig Liter. Da wollen wir versuchen, was unser Stoff kann.«

Rauschend strömte das Wasser in das große Steingutbecken und füllte es allmählich bis zum Rand.

»Das wird's tun«, sagte Dr. Wandel. Slawter drehte den Hahn wieder zu und blickte auf ein Thermometer, das in der Wanne schwamm.

»Ein etwas kühles Vergnügen, Doktor«, meinte er, »nur acht Grad Celsius; man merkt, daß unser Leitungswasser aus den Bergen kommt.«

»Es wird nicht lange so bleiben«, erwiderte Dr. Wandel, nahm den Deckel von der kleinen Glasschale ab und ließ sie in das Wasser gleiten. Wenn etwas in der Schale war, so mußte es sich jetzt in dem Wasser befinden.

»Sie meinen, Doktor Wandel«, fragte Slawter, »daß dieses fast unsichtbare Stäubchen die Wassermenge hier – es ist ja wirklich ein richtiges Vollbad – merklich erwärmen kann?«

»Ich erwarte, mein lieber Slawter, daß das Wasser in zwei Stunden zum Kochen kommt. Es ist eben fünf Uhr; um viertel sechs spätestens werden wir schon merken, wie unser Stoff arbeitet.«

Er zog sich einen Stuhl an das Becken heran und setzte sich. Slawter folgte seinem Beispiel.

»Sie nannten das Stäubchen winzig; ja, das ist richtig«, nahm der Doktor die Unterhaltung wieder auf, »aber wir wollen nicht vergessen, daß immerhin ein paar Trillionen Atome in ihm enthalten sind. Die gehen jetzt in Lösung.«

Er schaute wie gebannt auf das Wasser in dem Becken, als ob er die Vorgänge, so wie er sie Slawter weiter schilderte, körperlich sähe. »Die strahlenden Atome schießen zwischen den Molekülen des Wassers dahin und prallen milliardenfach von ihnen ab. Aber trotz alledem verfolgen sie ihren Weg unverdrossen weiter, denn der Lösungsdruck treibt sie ja von dem Stäubchen fort. Ich möchte wohl wissen, wie viele Milliarden von ihnen jetzt bereits die Wände des Beckens erreicht haben. Es wäre übrigens eine interessante Aufgabe, es zu berechnen. Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung läßt es sich ohne große Schwierigkeiten machen . . .« Er zog sein Formelheft aus der Tasche und sah sich suchend nach einem Bleistift um.

Slawter wehrte ab.

»Mein Bedarf an mathematischen Ableitungen ist reichlich gedeckt. Tun Sie mir den Gefallen, bester Doktor, und verschonen Sie mich damit. Können wir über das Schicksal dieser Atome nicht ein wenig philosophieren, ohne dabei die Integralrechnung zu bemühen?«

Dr. Wandel lächelte und steckte das Heft wieder ein.

»Wie Sie wollen, Slawter. Wissen Sie, daß letzte philosophische Fragen, welche die Menschheit seit Jahrhunderten bewegten, in der Badewanne hier vor uns ihre physikalische Lösung finden?«

»Keine Ahnung, Doktor, was Sie meinen.«

»Ich meine die so stark umstrittene Frage der Prädestination.«

Slawter rieb sich die Stirn. »Prädestination, Doktor? Vorausbestimmung? Es gibt da in Oswego eine etwas verschrobene Sekte. Die Leutchen behaupten, daß es jedem Menschen schon bei seiner Geburt vorausbestimmt ist, ob er in die Hölle oder in den Himmel kommt. Und wenn er sich auf den Kopf stellt, er kann an seinem vorausbestimmten Schicksal nichts ändern. Meinen Sie das mit Prädestination? Mir scheint es ein ziemlicher Irrsinn zu sein. Der anständigste Lebenswandel ist zwecklos, wenn doch alles vorausbestimmt ist.«

»Stop, Slawter«, unterbrach ihn Dr. Wandel, »hier bekommt Ihre Logik einen Knick. Halten wir uns an das physikalische Geschehen, dann werden wir klarer sehen. Den Trillionen Atomen unseres Stäubchens, die sich hier im Wasser vor uns tummeln, ist nach dem Gesetz der großen Zahlen als unentrinnbares Schicksal vorausbestimmt, daß die Hälfte von ihnen in vierundzwanzig Stunden zerfallen muß. Das ist die Prädestination in der Physik. Unabwendbar geht der Zerfallstod unter ihnen um und wird die Hälfte von ihnen in vierundzwanzig Stunden vernichten. Doch welche Atome nun wirklich von ihm ereilt werden, das hängt durchaus von dem Verhalten jedes einzelnen Atomindividuums ab. Das atomare Einzelwesen – ich will bei dem von Ihnen gewählten Bild bleiben – hat immer noch die Möglichkeit, sich für den Himmel oder die Hölle zu entscheiden . . . Klar beantwortet die Physik hier die uralte Frage der Vorausbestimmung, auf welche die Philosophie bisher keine bündige Antwort zu finden vermochte.«

»Uff, Doktor«, stöhnte Slawter, »Ihre physikalische Philosophie . . . oder meinetwegen auch philosophische Physik scheint mir ebenso zähe zu sein wie Ihre Mathematik . . . Aber sehen Sie mal das da! Unser Thermometer ist ja ganz tüchtig gestiegen. Achtzehn Grad. Das Wasser hat sich tatsächlich recht bedeutend erwärmt.«

»Es wird sich noch weiter erwärmen, Slawter. Seine Temperatur wird bis auf neunzig . . . nein, bis auf siebenundachtzig Grad steigen . . .«

Und nun konnte Slawter es doch nicht verhindern, daß der Doktor wieder sein Heft herausholte und eine Seite darin aufschlug, auf der er die Erwärmungsvorgänge in dem Becken bereits vorausberechnet hatte. »Da haben Sie's«, sagte er und wies mit dem Finger auf eine Zahlenreihe. »Nach neun Minuten eine Erwärmung um zehn Grad. Stimmt auf die Sekunde genau. Hier sehen Sie, wie es weitergeht. Ziemlich genau um Mitternacht wird mit siebenundachtzig Komma fünf Grad die Höchsttemperatur erreicht sein. Für eine Woche herrscht danach Gleichgewicht. Die Atome unseres Stäubchens liefern während dieser Zeit ebensoviel Wärme in das Wasser, wie durch die Wände der Wanne nach außen wegstrahlt. Dann wird die Wassertemperatur langsam absinken, aber es geht sehr allmählich damit voran.«

Slawter kam näher herangerückt und schaute über die Schulter Dr. Wandels in die Zahlenreihe.

»Stimmt das wirklich?« fragte er. »Nach Ihrer Aufstellung muß das Wasser nach einem halben Jahr noch um mehrere Grad wärmer sein als seine Umgebung?«

»Selbstverständlich, mein Lieber! Mit empfindlichen Instrumenten würden Sie sogar noch nach zehn Jahren eine geringe Überwärme nachweisen können. So ganz normal . . . so wie es früher gewesen ist, wird das Wasser hier überhaupt nicht wieder werden.«

Slawter hatte einen plötzlichen Einfall. »Wie wäre es, Doktor«, meinte er und mußte selber darüber lachen, »wenn wir Ihrem Freund Melton eine Flasche von dem Zauberwasser nach Detroit schickten? Vielleicht würde es seinen Geist etwas befruchten!«

Der Doktor schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an Melton war ihm sichtlich unangenehm.

»Lieber nicht, Slawter! Je weniger die United von unsern Arbeiten hört und sieht, um so besser wird es sein. Das Wasser hier mag vorläufig noch in der Wanne stehenbleiben. Ich möchte am Montag noch Temperaturmessungen machen, dann aber wollen wir es durch die Abwässerleitung fortlaufen lassen.«

»Eigentlich schade darum«, warf Slawter bedauernd ein.

»Glauben Sie mir, es ist besser so«, sagte der Doktor und stand auf. »Kommen Sie mit, Slawter, für heut haben wir bei der Company unser Geld redlich verdient, wir wollen zum Essen gehen.«

*


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