Hans Dominik
Atomgewicht 500
Hans Dominik

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Eine große Vorstellung vor geladenem Publikum war von Dr. Wandel für den kommenden Montag in Aussicht gestellt worden, aber zur Verwunderung Slawters und seiner Assistenten kam es vorläufig noch nicht dazu. Der Doktor hatte sich hinter seinen theoretischen Ableitungen und Formeln verbarrikadiert und rechnete tagelang mit einer Verbissenheit, daß Slawter schon vom bloßen Zusehen einen leichten Schüttelfrost bekam. Eine Woche verstrich darüber, und die nächste brach an.

»Um's Himmels willen, Doktor! Was wollen Sie denn nur noch?« fragte ihn Robert Slawter zum zwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Male. »Der Erfolg Ihres ersten Versuches war über alle Erwartungen groß. Warum wollen Sie nicht endlich damit herauskommen? Das Experiment wenigstens der Werkleitung vorführen und den neuen Stoff auf den Tisch legen?«

Es dauerte eine Weile, bis der Doktor aus der Welt seiner Ideen und Formeln in die Wirklichkeit des Alltags zurückfand.

»Was ich noch will?« sagte er versonnen. »Noch etwas Besseres schaffen, Slawter. Hier ist es! Hier habe ich's.«

Er deutete auf die mit endlosen Formeln beschriebenen Bogen, die seinen ganzen Schreibtisch bedeckten.

Slawter schüttelte unwillig den Kopf. »Sie sind auch der richtige Erfinder, Doktor! Typisch ist das für Leute Ihrer Sorte. Kaum haben sie glücklich etwas erreicht, dann interessiert sie's schon nicht mehr, und sie laufen gleich wieder andern Zielen nach. Damit kommen wir aber nicht weiter. Die Direktion der Company fängt an ungeduldig zu werden. Wir müssen ihr endlich etwas zeigen. Gott sei Dank können wir's ja auch; für das andere, Bessere, wird's später immer noch früh genug sein.«

Vergeblich brachte Dr. Wandel Einwände vor und bat Slawter, ihm wenigstens bis zum Ende der Woche noch Zeit zu lassen. Vergebens schilderte er ihm die neuen, gewaltigen Möglichkeiten, die nach seinen Berechnungen klar aus der Theorie heraussprangen und zu deren Bestätigung er nur noch einige Versuche machen müsse. Slawter ließ sich nicht von seinem Standpunkt abbringen.

»Alles recht schön und gut, Doktor. Mag auch alles richtig sein.« Er machte eine Handbewegung, als ob er die Berechnungen vom Tisch fegen wollte. »Das alles hat Zeit. Ist großartig, daß Sie noch so viele Eisen im Feuer haben, aber jetzt 'raus mit dem, was fertig ist! Wir schaden uns selber, wenn wir damit zurückhalten. Direktor Alden fragt mich vertraulich jeden Tag, wie weit Sie sind.«

Unaufhaltsam sprach Slawter weiter auf Dr. Wandel ein, bis es ihm gelang, den Deutschen willfährig zu machen.

»Ich sehe, daß ich sonst doch keine Ruhe vor Ihnen habe«, sagte er schließlich resigniert. »Also wollen wir meinetwegen unsern ersten Versuch morgen wiederholen und die Herren der Werkleitung dazu bitten.« –

In wolkenloser Bläue erglänzte am nächsten Morgen der Himmel, in breiten Lichtbalken fiel der Sonnenschein durch das Glasdach der großen Halle und spielte in tausend Reflexen um den gewaltigen Autoklav und die blinkenden Teile der Pumpen und Elektromotoren.

Mr. Lee Dowd, der Chief Manager der Company, war erschienen, Direktor Alden war da und außerdem noch etwa ein halbes Dutzend anderer Herren des Direktoriums. Auch Mr. Spinner, der Leiter der Nachrichtenabteilung, befand sich unter ihnen. Viele andere wollten noch kommen, denn auf irgendwelchen unterirdischen Wegen hatte sich die Kunde von dem bevorstehenden Versuch im Werk herumgesprochen, aber Dr. Wandel machte kurzen Prozeß mit den unerwünschten Neugierigen.

Er ließ die Zugänge zur Halle abschließen, sobald die Herren des Vorstandes zugegen waren, und kümmerte sich wenig darum, daß die Ausgesperrten draußen gegen die Wellblechtore trommelten.

Und dann begann der Versuch. Genau wie in den vergangenen Wochen standen fünf Männer bei den Maschinen auf ihren Posten und führten jedes Kommando mit einer Pünktlichkeit und Genauigkeit aus, als ob sie selber Maschinen wären. Mit einigem Mißbehagen hatte Mr. Dowd zuerst das Schließen der Türen bemerkt, denn allzu deutlich war ihm noch jenes erste, mißglückte Experiment in der Erinnerung, bei dem nur schnellste Flucht die Zuschauer vor dem Tode bewahrt hatte. Doch bald wich seine Besorgnis und ebenso die der übrigen einem Gefühl der Zuversicht und Sicherheit. Was sich hier vor ihren Augen abspielte, schien aller Gefährlichkeit und Romantik bar zu sein und stellte sich so sehr als eine nüchterne, rein technische Angelegenheit dar, daß sie schließlich fast etwas wie Langeweile dabei empfanden. Daran änderte sich auch wenig, als flüssige Luft sich in breiten Kaskaden über den stählernen Leib des Autoklavs ergoß und vorübergehend die ganze Halle vernebelte.

Mit Ungeduld zog der eine oder andere bereits die Uhr. Schon anderthalb Stunden standen sie hier. Das Dröhnen und Brummen der Elektromaschinen, das knatternde Schlagen der Pumpenventile betäubte ihre Ohren; die schneidende Kälte, mit der die vielen Kubikmeter verdampfender flüssiger Luft die Halle erfüllten, drang durch die Kleidung hindurch, und jeder von ihnen wünschte, daß der Versuch endlich vorüber wäre.

Neue Kommandos drangen durch den Maschinenlärm. »Druck wegnehmen! Pumpe eins! Pumpe zwei . . . Pumpe fünf!«

Das klingende Spiel der Ventile schwoll ab und verklang. Ein Schaltergriff zuckte in der Hand Dr. Wandels, das Brummen der großen Transformatoren verstummte. Stille herrschte wieder in der weiten Halle. Erst jetzt fand der Doktor Zeit, sich um seine Gäste zu kümmern.

»Der Versuch ist beendet, meine Herren. Eine Stunde müssen wir dem Autoklav Zeit zur Kühlung lassen. Danach können wir ihn öffnen und das Erzeugnis herausnehmen.«

»Was erwarten Sie zu finden?« fragte der Chief Manager.

»Einen Stoff mit dem Atomgewicht fünfhundert und einigen wertvollen Eigenschaften, Mr. Dowd.«

»Sie scheinen Ihrer Sache sehr sicher zu sein, Herr Doktor.«

»Ich hätte die Herren nicht zu diesem Besuch gebeten, wenn ich meiner Sache nicht sicher wäre.«

Mr. Dowd sah auf seine Uhr. »Wann dürfen wir Ihren Bericht über das Ergebnis erwarten, Herr Doktor?«

»Eine Stunde Kühlung . . . den Autoklav öffnen . . . den Stoff von den Elektroden schneiden . . . um halb eins kann ich Ihnen das Erzeugnis bringen, Mr. Dowd.«

Der Chief Manager nickte. »Bis dahin auf Wiedersehen!«

Er verließ die Halle, und die übrigen Herren folgten ihm. Nur Mr. Spinner blieb zurück und wandte sich an Slawter.

»Ich hätte mit Ihnen und Doktor Wandel etwas zu besprechen. Wäre es jetzt möglich?«

Slawter nickte. »Eine Stunde haben wir Zeit. Vorher können wir an den Autoklav nicht heran. Kommen Sie mit in mein Zimmer.« Er winkte dem Doktor, näher zu treten. »Ich möchte Sie mit Mr. Spinner, dem Chef der Nachrichtenabteilung, bekannt machen, Herr Doktor Wandel.«

Während der Doktor Spinners Händedruck erwiderte, umfaßte sein Blick dessen Gestalt. Er schaute in ein Gesicht mit kantig gemeißelten Zügen. Das Haar, leicht ergraut, trat an den Schläfen schon merklich zurück und ließ seine hohe Stirn noch höher erscheinen. Hinter den scharfen Gläsern einer Brille blickten die Augen bald verschleiert, fast interessenlos, bald wieder forschend und durchdringend.

Der Doktor hatte Mr. Spinner bisher noch nie gesehen, aber er wußte um seine Stellung bei der Company. Während ihre Hände wenige Sekunden ineinanderruhten, versuchte er die äußere Erscheinung des Mannes daraufhin zu analysieren. Ein Schachspieler, ein Mathematiker, ein Künstler, ein Kriminalist . . . eine Mischung aus alledem, Hirnmensch und Willensmensch in einer Person, ging es ihm durch den Sinn. Grundverschieden war der Eindruck, den Dr. Wandel in diesen kurzen Sekunden erhielt, von jenem andern Bild eines biederen, schon ein wenig täppischen Greises, das sich die Herren Melton und Wilkin nach den Schilderungen Tom Whites von dem guten alten Onkel Joshua in Salisbury machten.

»Womit können wir Ihnen dienen, Mr. Spinner?« eröffnete Slawter die Unterhaltung, als sie zu dritt in dessen Zimmer saßen. Nach kurzem Räuspern sagte Spinner:

»Wir haben Nachrichten aus Detroit bekommen, die gewisse Gegenmaßnahmen von unserer Seite erforderlich machen . . .«

Einen kurzen Moment kreuzten sich die Blicke des Doktors und Mr. Spinners.

»Herr Professor Melton ist wohl mit seiner Kunst zu Ende?« fragte Dr. Wandel. Der Nachrichtenchef schüttelte den Kopf.

»Diesmal dreht es sich um einen andern guten Bekannten von Ihnen, um einen gewissen MacGan.«

»MacGan?« Der Doktor konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »MacGan, ein ganz tüchtiger Kerl, aber schließlich doch nur ein Laboratoriumsdiener. Was soll sich um den in Detroit drehen?«

»Vieles, im Augenblick fast alles. Gewiß, es klingt unglaublich«, fuhr er fort, als er das Befremden in den Zügen Dr. Wandels bemerkte, »aber wir haben unsere Informationen von einer unbedingt zuverlässigen Stelle. Was sagen Sie dazu, Herr Doktor? Der Laboratoriumsdiener ist der Nachfolger von Professor Melton geworden.«

»Unmöglich, Mr. Spinner! Das ist doch ein Scherz von Ihnen«, fuhr Slawter dazwischen.

»Ich habe keinen Grund zu scherzen, Mr. Slawter. Es ist mein voller Ernst.«

»Dann gibt's nur noch eine Erklärung«, warf Dr. Wandel ein, »Chelmesford und Clayton müssen alle beide verrückt geworden sein.«

Wieder schüttelte Spinner den Kopf. »Sie irren sich, Herr Doktor. Chelmesford und Clayton handeln ganz logisch. Es ist ihr letzter, allerdings verzweifelter Versuch, das Spiel ohne Sie zu gewinnen. Direktor Clayton hat auf eine uns noch unbekannte Weise herausbekommen, daß der Laboratoriumsdiener Ihnen bei einem erfolgreichen Versuch assistiert hat. Er hat ihn daraufhin ins Gebet genommen und ihm Versprechungen gemacht. MacGan hat sich bereit erklärt, Ihren Versuch mit dem Autoklav zu wiederholen.«

»Und Professor Melton?« entfuhr es dem Doktor.

»Vor drei Tagen hat es eine fürchterliche Szene zwischen Clayton und Melton gegeben. Danach hat der Professor das Feld geräumt und sich krank gemeldet. Unsere Stelle berichtet, daß er sogar wirklich krank ist. Durch die Erregung bei der Aussprache mit Direktor Clayton soll sein altes Gallenleiden wieder aufgetreten sein.«

Dr. Wandel blickte nachdenklich vor sich hin. Leise, als spräche er zu sich selber, kamen die Worte von seinen Lippen.

»Ein altes Gallenleiden . . . das erklärt mir vieles. Es war nicht leicht, mit ihm auszukommen . . . trotzdem . . . es tut mir leid um ihn . . . ich kann es ihm nachfühlen, wie hart diese Wendung der Dinge ihn getroffen haben muß.«

»Melton ist vorläufig ausgeschaltet«, fuhr Mr. Spinner fort. »MacGan ist vor eine Aufgabe gestellt, die er nach menschlicher Voraussicht kaum lösen kann. Etwas Erfolg muß er aber haben. Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr Doktor, um Sie um Rat zu fragen.«

Der Doktor zuckte die Achseln. »Ja, du lieber Gott, Mr. Spinner, ich kann doch nicht von hier aus einen Brief schreiben: Mein lieber MacGan, machen Sie das so und so, dann wird die Sache klappen, und Sie werden das und das in dem Autoklav finden.«

»Natürlich nicht, verehrter Herr Doktor. Es genügt, wenn Sie es mir sagen, ich werde es schon an die geeignete Stelle weitergeben.«

»Ich glaube, Mr. Spinner, Sie stellen sich das einfacher vor, als es in Wirklichkeit ist. Wenn es tatsächlich Zweck haben soll, müßte man jemand, der mit dem ganzen Drum und Dran dieser neuen Technik gut Bescheid weiß, genaue Instruktionen geben.«

»Die Person, an die ich Ihre Anweisungen weiterleiten will, entspricht diesen Bedingungen, Herr Doktor Wandel.«

Der Doktor stützte den Kopf in die Hände.

»Es ist und bleibt eine heikle Sache, Mr. Spinner. Ein Mißverständnis, ein einziger falsch verstandener Wert könnte zu einer Katastrophe führen. Ich scheue mich, die Verantwortung dafür zu übernehmen . . . ich hatte das richtige Gefühl, als ich gleich an MacGan dachte. Solche Anweisungen darf man nur demjenigen geben, der den Versuch selber macht.«

Der Nachrichtenchef strich sich nachdenklich das Kinn. Erst nach einigem Überlegen antwortete er.

»Ich will Ihre Bedenken zerstreuen, obwohl ich zu dem Zweck mehr sagen muß, als mir lieb ist. Die Person, der ich Ihre Anweisungen übermitteln will, wird MacGan bei seinem Versuch assistieren.«

Der Doktor blickte interessiert auf. »Ah, Mr. Spinner, das ist etwas anderes. Dann könnte man's zur Not wagen . . . Ein tüchtiger Kerl müßte es aber sein . . . Wenn es etwa Mr. Wilkin wäre, hätte ich immer noch Bedenken.«

Spinner machte eine abwehrende Bewegung.

»Verlangen Sie nicht von mir, daß ich Ihnen Namen nenne. Es würde gegen die Grundregeln meiner Abteilung verstoßen. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen nur sagen, Mr. Wilkin ist es nicht.«

Dr. Wandel lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Er schien eine kurze Zeit mit sich selbst zu kämpfen, dann kam er zu einem Entschluß.

»Daraufhin will ich's wagen, Mr. Spinner, aber die Verantwortung müssen Sie auf Ihre eigene Kappe nehmen.«

Spinner fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor. Ich bin es seit langem gewöhnt, Verantwortungen zu übernehmen. Das bringt meine Stellung so mit sich. Am besten wäre es, wenn Sie die Bedingungen, unter denen Sie Ihren Versuch in Detroit machten, schriftlich genau niederlegten. In der Hauptsache handelt es sich wohl nur um das Material der beiden Elektrodenstifte. MacGan kennt es nicht, das ist sein größter Kummer, und mein Gewährsmann kann ihm dabei auch nicht raten.«

Nach einem Blick auf die Uhr mischte sich Slawter in das Gespräch. »Sie müssen uns entschuldigen, Mr. Spinner. Die Zeit ist um, der Autoklav ist jetzt genügend abgekühlt. Wir wollen Mr. Dowd nicht warten lassen.«

»Nun, wie ist's, Herr Doktor?« fragte Spinner, ohne die Unterbrechung durch Slawter zu beachten.

»Ich werde Ihnen nach Tisch eine genaue Anweisung für Ihren Mann aufsetzen, Mr. Spinner. Sie müssen sie in Ihrer Abteilung mit der Maschine abschreiben lassen. Ich bitte Sie, mir danach die Abschrift und meinen eigenen handschriftlichen Entwurf zur Durchsicht zuzusenden. Meinen Entwurf werde ich vernichten, mit der Abschrift können Sie machen, was Sie für richtig halten.«

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