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Es ist abermals Mitternacht. Mein Feuer brennt behaglich; das Zimmer ist erfüllt mit der ernsten Stimme meiner alten Freundin, und ich bin allein, um über die Geschichte, die wir eben beendigt haben, nachzudenken.
In solchen Augenblicken muß ich lächeln über den Gedanken, wie einsam ich Jedem erscheinen müßte, der mich in meinem Armstuhl sitzen sehen würde, das graue Haupt gesenkt, die Augen nachdenksam auf die verglimmenden Kohlen geheftet, und die Krücke – das Sinnbild meiner Hülflosigkeit – neben mir an den Kamin gelehnt. Aber obgleich ich nur allein neben meiner Kaminecke sitze, obgleich ich ein kinderloser Greis bin, so fühle ich mich doch nicht einsam zu dieser Stunde, denn ich bin der Mittelpunkt einer stummen Gruppe, deren Gesellschaft mir theuer ist.
So ist selbst das Alter und die Gebrechlichkeit nicht frei von Tröstlichem. Wäre ich jünger, thätiger und mit stärkeren Banden an das Leben geknüpft, so würden mich meine geträumten Freunde scheuen, oder ich müßte wünschen, ihrer los zu werden. So aber kann ich mich ihrer Gesellschaft erfreuen, ein Entzücken darin finden und ganze Stunden damit verbringen, daß ich mir ihre Schatten ausmale, die vielleicht jede Nacht durch dieses Gemach gleiten, und mit Lust mich in das Interesse hinein versetzen, das sie für das gebrechliche, sterbliche Wesen fühlen, welches hier der einzige Bewohner ist.
Alle meine verlorenen und dahingeschiedenen Freunde finde ich wieder unter diesen Gästen. Ich gebe mich mit Liebe dem Gedanken hin, daß ihre Geister mich umschweben, daß sie noch einige irdische Zuneigung für ihren alten Kameraden fühlen, und daß sie zusehen, wie er dem Grabe entgegen reift. »Es geht schnell mit ihm dem Ende zu, er rückt uns näher und näher und wird bald wissen, wie es mit unserem Sein beschaffen ist.« Was sollte auch hierin Beunruhigendes für mich liegen? Es ist Hoffnung und Ermuthigung.
Solche Gedanken machten mir nie halb so viel zu schaffen, als eben in dieser Nacht. Lange vergessene Gesichter sind mir mit einemmale wieder deutlich geworden; Züge, die ich Jahre lang vergeblich zurückzurufen versuchte, sind in einem Nu vor mich hingetreten; nichts ist verändert, als ich; und wenn ich will, kann auch ich wieder seyn, wie ehedem.
Erhebe ich meine Augen zu dem Antlitz meiner alten Uhr, so erinnere ich mich unwillkürlich der Verehrung und des kindischen Grauens, womit ich ihr zuzusehen pflegte, als sie noch unbeachtet in einem dunklen Winkel der Treppe pickte. Ich entsinne mich, daß mein Gesicht ernster wurde, wenn ich ihr staubiges Zifferblatt betrachtete; denn mit ihrem seltsamen Leben in sich, mit ihrer Freiheit von allen gewöhnlichen Begierden und mit ihren alltäglichen und allnächtlichen Warnerufen durch das ganze Haus, kam sie mir vor wie eine Zaubrerin. Wie oft habe ich auf sie gehorcht, als sie ihre Perlen an dem Rosenkranze der Zeit abzählte, und mich über ihre Beharrlichkeit gewundert! Wie oft sah ich zu, wie sie langsam rund herum mit ihrem Zeiger deutete, und wie oft bewunderte ich unwillkürlich, trotz dem, daß ich mich ängstlich nach der nächsten Stunde sehnte, ihre Willenskraft, ihre stolze Erhabenheit über die Kämpfe, die Ungeduld und das Sehnen der Menschen.
Ich hielt sie einmal für grausam. Ich erinnere mich, daß sie mir sehr hartherzig vorkam. Sie war schon damals eine alte Dienerin, und ich meinte, sie sollte auch Theil an unserem Kummer nehmen und Mitgefühl für unsere Leiden an den Tag legen; sie erschien mir als ein langweiliges, herzloses, feiles Geschöpf. Ah! wie bald lernte ich, daß in ihrem unablässigen Weitergehen und in dem Umstande, daß sie sich durch nichts halten läßt, ihre größte Wohlthat, der einzige Balsam für Schmerz und verwundeten Seelenfrieden, liege.
Heute Nacht, heute Nacht, wo diese Ruhe, diese Stille meinen Geist umschwebt und die Erinnerung so viele wechselnde Scenen vor meine Seele führt, stelle ich mich nach Belieben an dieses oder jenes längst erloschene Kaminfeuer und mische mich in die heitere Gruppe, die es umringt. Wenn ich mich in einer solchen Stimmung der Trauer hingeben könnte, so wäre es etwa wegen des Gedankens, welch' eine üble Figur ich ehedem inmitten ihrer Jugend und Schönheit machte, während jetzt nur so Wenige übrig geblieben sind, um mich erröthen zu machen; ich könnte traurig werden über den Gedanken, daß diejenigen unter ihnen, welche ich bisweilen auf meinen täglichen Spaziergängen treffe, kaum weniger gebrechlich sind als ich, daß die Zeit uns gleichgestellt hat, und daß alle Unterschiede sich verwischen und verschwinden, wenn wir unsere wankenden Schritte dem Grabe zulenken. Die Erinnerung ist uns aber zu weit besseren Zwecken, als solchen, geschenkt, und die meinige weiß nichts von Selbstquälerei, sondern wird mir zu einer Quelle der Wonne. Wenn ich mir Gedanken mache über den jugendlichen Frohsinn, der mir in meinem Leben begegnete, so heften sich daran gemüthliche Scenen harmloser Freude, wie sie auch jetzt noch vorkommen mögen. Und wenn ich sie so betrachte, werde ich bald ein Mitspieler in diesen kleinen Dramen, indem ich mich unter den Gebilden verliere, welche die Phantasie mir vor Augen führt.
Wenn mein Feuer heiter auflodert und ein warmes Erröthen die Wände und Decken dieses alten Gemaches übergießt, wenn meine Wanduhr in ihrer gemüthlichen Musik fortmacht, gleich einem jener zirpenden Insekten, welche sich der freundlichen Herdwärme erfreuen, und die der gutmüthige Aberglauben als Propheten des Glücks und Ueberflusses für den Haushalt betrachtet, in dessen Barmherzigkeit sie ihr bescheidenes Vertrauen sehen; wenn Alles in einer behaglichen rothen Glut steht und Stimmen aus der prasselnden Flamme tönen, während ein Lächeln aus ihrem zuckenden Lichte blitzt – dann sammeln sich auch andere Stimmen und ein anderes Lächeln um mich, mit ihrer lieblichen Harmonie die stille Stunde erfüllend.
Denn dann schaart sich ein Häuflein jugendlicher Gestalten um meinen Herd und der Raum tönt von dem Echo ihrer heiteren Stimmen wieder. Mein einsamer Lehnstuhl bleibt nicht mehr auf dem geräumigen Plane vor dem Feuer stehen, sondern muß in eine kleinere Ecke rücken, um für den großen Kreis, der sich um den gemüthlichen Kamin bildet, Raum zu geben. Ich habe Söhne, Töchter und Enkel, und wir sind wegen eines Anlasses versammelt, der uns gemeinschaftlich zur Freude wird. Es ist vielleicht ein Geburtstag oder eine Weihnacht; sey es aber, was es immer will, wir halten einen seltenen Feiertag und sind voller Wonne.
In der Kaminecke mir gegenüber sitzt Eine, die neben mir alt geworden ist. Sie hat sich natürlich verändert, sehr verändert, und doch erkenne ich das Mädchen noch selbst in diesem grauen Haar und der gefurchten Stirne. Und von ihr schaue ich auf das Kind, das sich halb in ihrem weiten Schoße versteckt, halb hervorguckt – dann auf die kleine zwölfjährige Matrone, die so frauenhaft und ernst in nicht großer Entfernung von mir sitzt – dann wieder auf ein schönes Mädchen in der vollen Blüthe der Jungfräulichkeit, welche den Mittelpunkt der Gruppe bildet und mehr als einmal nach der aufgehenden Thüre blickt. Die Kinder flüstern und kichern neben ihr und wollen durchaus einen Stuhl leer lassen, obgleich sie's ihnen nicht befiehlt. – ich sehe ihr Bild dreimal wiederholt und fühle, wie lange es ansteht, ehe eine Gestalt und Physiognomie aus dem Bereich des Lebens verschwindet, wenn es überhaupt je der Fall ist. Während ich bei solchen Betrachtungen verweile und die allmäligen Wechsel von der Kindheit zum jugendlichen, reiferen und hohen Alter verfolge; wenn ich dabei mit dem Stolze eines alten Mannes denke, daß sie noch immer lieblich ist, so fühle ich eine zarte Hand auf meinen Arm gelegt, und im Niederschauen bemerke ich einen verkrüppelten Knaben, der zu meinen Füßen sitzt – ein sanftes, geduldiges Kind, dessen Anblick mir wohl bekannt ist. Er stützt sich auf eine kleine Krücke – auch dieß weiß ich – hilft sich mittelst derselben auf meinen Schemel hinauf und flüsterte mir in's Ohr: »Ich bin kaum eines von diesen, lieber Großvater, obgleich ich sie innig liebe. Sie sind so gar freundlich gegen mich, aber ich weiß, du bist doch noch gütiger.«
Ich lege meine Hand auf seinen Nacken und beuge mich nieder, um ihn zu küssen. Aber da schlägt meine Wanduhr, mein Stuhl steht wieder an seinem alten Plane, und ich bin allein.
Doch sey's d'rum. Was ist's auch, wenn diese Feuerseite keinen andern Gast hat, als einen einzigen, gebrechlichen, alten Mann? Von dem Giebel meines Hauses kann ich auf hundert Heimstätten niederschauen, in deren jeder diese geselligen Zusammenkünfte zur Wirklichkeit werden. Auf meinen täglichen Spaziergängen komme ich an tausend Menschen vorbei, die alle ihrer Sorgen vergessen haben, die nicht mehr ihrer Mühen und ihres langweiligen, mit jedem Morgen sich erneuenden Tagwerks gedenken, sobald sie sich an ihrem Herde den Freuden der Häuslichkeit hingeben. Was werden nicht in Mitte des Ringens dieser sich abkämpfenden Stadt für freudige Opfer gebracht, welche Mühe läßt man sich nicht gerne gefallen, welche Geduld und welchen Heldenmuth zeigt man nicht – Alles um des heimischen Herdes und seiner Lieben willen! Ich danke dem Himmel, daß ich meine Feuerseite mit solchen Schatten bevölkern kann – mit den Schatten heiterer Wesen, die rings in dem Gewühle um mich entsprechende Wirklichkeiten finden. Ja, ich kann dann wohl sagen, daß ich nicht mehr allein bin.
Mit dankbarem Herzen schreibe ich's nieder, daß ich es nie weniger war, als in dieser Nacht. Erinnerungen aus der Vergangenheit und Gesichte der Gegenwart kommen, um mir Gesellschaft zu leisten. Der geringste Mann, den ich je mit einem Almosen erfreute, tritt heran, um sein Scherflein Friede und Freude meinem Vorrath beizufügen; und wenn einmal das Feuer in mir erkalten und aufhören will, mir den Erdenpfad zu beleuchten, so gebe Gott, daß es in einer solchen Stunde geschehen möge – in einer Stunde, wo ich die ganze Welt so sehr in mein Herz eingeschlossen habe, wie in der gegenwärtigen.