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Nachdem der Schlosser Sir John Chester's Wohnung mit zögernden Schritten verlassen hatte, weilte er noch immer in der Allee, beinahe hoffend, daß er wieder zurückberufen würde. Er hatte schon dreimal umgekehrt und stand noch immer an derselben Ecke, als die Glocke Zwölf schlug.
Er war ein feierlicher Schall, und zwar nicht blos wegen seiner Beziehung zu Morgen, denn er wußte, daß jetzt auch die Todtenstunde für den Mörder schlug. Er hatte gesehen, wie man ihn unter den Verwünschungen des Volks durch die gedrängt vollen Straßen führte, hatte das Beben seiner Lippen, das Zittern seiner Glieder, die Aschfarbe seines Gesichts, die feuchte Stirne und die wilde Verzweiflung in seinem Auge bemerkt – die Furcht vor dem Tode hatte alle übrigen Gedanken aufgesaugt und fraß ohne Unterlaß an seinem Herzen und Gehirne. Er war Zeuge des unsteten Blickes gewesen, der allenthalben nach Hoffnung suchte, und, wohin er auch fallen mochte, nichts als Verzweiflung fand. Er hatte gesehen, wie das von Gewissensbissen gegeißelte, jämmerliche, verlassene Geschöpf, den Sarg neben sich, zum Galgen fuhr. Er wußte, daß er bis auf den letzten Augenblick hartnäckig und verstockt geblieben, daß das wilde Entsetzen vor seiner Lage ihn, statt ihn milder zu stimmen, nur noch mehr gegen Weib und Kind verhärtet hatte, und daß die letzten Worte, die ihm über die blassen Lippen gingen, seine Angehörigen als seine Feinde verfluchten.
Herr Haredale hatte sich entschlossen, der Hinrichtung anzuwohnen. Nichts, als das Zeugniß seiner eigenen Sinne, konnte den finstern Durst nach Vergeltung stillen, der so viele Jahre auf ihm gelastet hatte. Der Schlosser wußte dieß, und als die Töne verklungen waren, eilte er fort, um ihm entgegen zu gehen.
»Für diese zwei Menschen,« sagte er im Weitergehen. »kann ich nichts Weiteres thun. Der Himmel möge ihnen gnädig seyn. – Ach! ich sage, ich kenne nicht mehr für sie thun, aber wem kann ich helfen? Mary Rudge wird eine Heimath haben und einen treuen Freund, wenn sie eines solchen bedarf; aber Barnaby, der arme Barnaby, der lenksame Barnaby – welchen Beistand kann ich ihm reichen? Gott verzeih' mir's, es gibt viele, viele Menschen mit gesunden Sinnen,« rief der ehrliche Schlosser, indem er in einem engen Hofe stehen blieb, um mit der Hand über seine Augen zu fahren, »die ich leichter vermissen könnte, als Barnaby. Wir sind immer gute Freunde gewesen, aber ich wußte bisher nie, wie sehr ich den Jungen liebte.«
Es gab an jenem Tage in der großen Stadt nicht Viele, welche an Barnaby anders als an einen Mitspieler in dem Spektakel dachten, das morgen statt haben sollte. Aber wenn auch die ganze Bevölkerung auf ihn Bedacht genommen und die Rettung seines Lebens gewünscht hätte, so wäre doch Niemand darunter gewesen, dem es so ganz aus reinem, eifrigem und aufrichtigem Herzen ging, als dem guten Schlosser.
Barnaby war zum Tode verurtheilt. Keine Hoffnung mehr. Es ist nicht die unbedeutendste schlimme Folge einer häufigen Anwendung der schrecklichen Todesstrafe, daß sie die Herzen derjenigen, welche sie aussprachen, verhärtet und sie, so liebenswürdige Leute sie auch in anderer Beziehung seyn mögen, gleichgültig oder achtlos gegen ihre große Verantwortlichkeit macht. Die Sentenz war ergangen, daß Barnaby sterben sollte. Man erließ ähnliche jeden Monat für weit leichtere Verbrechen. Es war etwas so Gewöhnliches, daß sich nur sehr Wenige bei diesem schrecklichen Urtheil betroffen fühlten, oder nur darnach fragten, ob es gerecht sey. Auch mußte gerade jetzt, wo das Gesetz so freventlich verhöhnt worden war, seine Würde um so nachdrücklicher behauptet werden. Das Symbol seiner Würde – der Stempel auf jedem Blatte des Criminalcode, – war der Galgen; und Barnaby sollte sterben.
Man hatte sich Mühe gegeben, ihn zu retten. Der Schlosser war mit Petitionen und Bittschriften zu der Hauptquelle gegangen, um sie eigenhändig zu überreichen. Aber für den armen Verurtheilten gab es keine einzige Quelle des Erbarmens, und Barnaby sollte sterben.
Vom Anfang hatte Sie ihn nur des Nachts verlassen, und mit ihr an seiner Seite war er gewöhnlich zufrieden. An diesem letzten Tage fühlte er sich höher gehoben und er war stolzer als je; und wenn sie das Buch sinken ließ, aus dem sie ihm laut vorgelesen hatte, um ihm um den Hals zu fallen, hielt er in seinem Geschäft, ein Stück Crepp an seinem Hut zu befestigen, inne und wunderte sich über ihre Angst. Greif ließ sich nur in einem schwachen Krächzen, das halb wie Ermuthigung, halb wie ein Verweis zu klingen schien, vernehmen; aber auch ihm gebrach es an Herz, und er versank schnell wieder in Schweigen.
Ihnen, die jetzt am Rande der großen Kluft standen, die Niemand zu überschauen vermag, rollte die Zeit, die sich so bald in eine endlose Ewigkeit verlieren sollte, wie ein mächtiger Strom dahin – rascher und schwellender, je näher er dem Meere kömmt. Es war eben erst Morgen gewesen, sie saßen da und schwatzten träumend mit einander; und jetzt war es schon Abend. Die schreckliche Stunde der Trennung, die ihnen selbst gestern noch so fern vorgekommen war, rückte heran.
Sie gingen in den Hof hinaus, sich fest an einander klammernd, aber ohne ein Wort zu sprechen. Barnaby wußte, daß das Gefängniß ein langweiliger, trauriger, elender Ort war, und sehnte sich nach dem Morgen, wie nach einem Uebergang zu etwas Schönem und Herrlichem. Er hatte auch eine unbestimmte Vorstellung, man erwarte von ihm, daß er sich muthig benehme, er sey ein Mann von Bedeutung und es würde den Leuten im Gefängniß Freude machen, wenn sie ihn zum Weinen bringen könnten. Bei solchen Gedanken trat er fester auf, bat seine Mutter, sich zu ermuthigen, ihre Thränen zu hemmen, und zu fühlen, wie stetig seine Hand sey.
»Man trennt mich thöricht, Mutter. Sie sollen sehen – morgen!«
Auch Dennis und Hugh waren in dem Hofe. Hugh kam zu gleicher Zeit mit ihnen aus seiner Zelle und streckte sich, als hätte er eben seinen Schlaf unterbrochen. Dennis saß auf einer Bank in einem Winkel, das Kinn ganz zwischen die Kniee gekauert, und rückte wie ein Mensch, der unter schweren Schmerzen leidet, hin und her.
Mutter und Sohn blieben auf der einen Seite des Hofes und jene beiden Männer auf der andern. Hugh ging auf und ab, hin und wieder einen Blick nach dem klaren Sommerhimmel werfend, und dann wieder die Wände anzuschauen.
»Keine Fristung, kein Aufschub! Niemand nähert sich uns. Es bleibt uns nur noch diese einzige Nacht!« stöhnte Dennis matt, indem er die Hände rang. »Glaubt Ihr, ich werde in dieser Nacht noch pardonirt werden, Bruder? Ich habe schon von Begnadigungen gehört, die noch in der Nacht anlangten. Ich weiß, sie kamen schon um fünf, um sechs, um sieben Uhr des andern Morgens. Glaubt Ihr, daß noch Hoffnung da ist – he? Sagt doch ja. Oh, sagt ja, junger Mann,« winselte das elende Geschöpf mit einer flehentlichen Geberde gegen Barnaby, »oder ich werde toll!«
»Besser toll, als bei Sinnen, hier an diesem Orte,« sagte Hugh. »Werdet immerhin toll.«
»Aber sagt mir, was Ihr denkt. Es soll mir Einer sagen, was er denkt!« rief das erbärmliche Subjekt – so gemein, jämmerlich und verächtlich, daß sogar das Mitleid sein Antlitz hätte abwenden müssen von dem Anblick eines solchen Geschöpfes in Menschengestalt – »Habe ich denn keine Hoffnung mehr – habe ich denn gar keine Hoffnung mehr? Wäre es nicht möglich, daß man nur dergleichen thut, um mich einzuängstigen? Meint Ihr nicht auch? Oh!« schrie er hinaus, indem er die Hände zusammen schlug, »will mir denn Niemand Trost geben?«
»Ihr müßt's von der besten Seite nehmen und nicht von der schlimmsten,« sagte Hugh, vor ihm Halt machend. »Ha, ha, ha! Seht mir da den Henker, wenn es ihm heim gegeben wird.«
»Ihr wißt nicht, was es darum ist,« rief Dennis, bei diesen Worten sich windend und krümmend. »Aber ich weiß es, sollte es mit mir so weit kommen, daß ich abgethan würde! Ich! ich! Sollte es mit mir dahin kommen!«
»Und warum nicht?« erwiederte Hugh, indem er sein filziges Haar zurückstrich, um seinen früheren Bundesgenossen besser betrachten zu können. »Wie oft habe ich Euch, ehe ich Euer Gewerbe kannte, davon sprechen hören, als ob es ein wahrer Hochgenuß wäre?«
»Ich bin nicht inconsequent,« kreischte die jämmerliche Creatur, »ich würde noch so sagen, wenn ich der Henker wäre. Irgend ein Anderer spricht sich in diesem Augenblick ganz in derselben Weise aus. Aber das ist eben das Schlimme. Es sehnt sich Einer danach, mich abzuthun. Ich weiß von mir selbst, daß sich Einer danach sehnen muß!«
»Nun, sein Gelüste wird bald gestillt werden,« sagte Hugh, seinen Spaziergang wieder aufnehmend. »Denkt an dieß und verhaltet Euch ruhig.«
Obgleich der Eine von diesen Männern in seiner Sprache und in seinem Benehmen die rücksichtsloseste Keckheit, und der Andere in jedem Worte oder in jeder Geberde die verworfenste Feigheit entfaltete, daß man es nicht ohne Ekel mit ansehen konnte, so läßt sich doch schwer sagen, welcher von Beiden den Beobachter mehr zurückgestoßen haben würde. Hugh zeigte die starrsinnige Verzweiflung eines Wilden an dem Marterpfahle, während der Henker Einem nicht viel besser vorkommen mußte, als ein Hund, der den Strick um den Hals hat. Und doch waren dieß die zwei gewöhnlichsten Gemüthszustände, welche sich an Personen ihrer Lage kund gaben, wie Herr Dennis recht wohl wußte und auch hätte bezeugen können. Und der Samen, den das Gesetz gesäet, gedieh so üppig, daß eine derartige Aernte gewöhnlich als eine Sache betrachtet wurde, die sich von selbst verstand.
Nur in einem Stücke kamen sie Alle überein: Der unstete und nicht beherrschbare Gedankengang, plötzliche Erinnerungen an ferne, längst vergessene und mit einander durchaus nicht in Verbindung stehende Dinge auftauchen lassend – das irre, rastlose Sehnen nach etwas Unbestimmtem, das durch nichts gestillt werden konnte – der rasche Flug der Stunden, die wie durch einen Zauberschlag sich in Minuten zusammen zu drängen schienen – das schnelle Herannahen der feierlichen Nacht – der Schatten des Todes, der sie immer umfing, aber doch nur so matt und dünne, daß die gewöhnlichsten und alltäglichsten Gegenstände aus dem Düster hervortraten und sich ihren Blicken aufdrängten – die Unmöglichkeit, selbst wenn sie wollten, sich zur Reue zu wenden und sich auf das Ende vorzubereiten, oder die Gedanken in Einen Punkt zu sammeln, weil jener gräßliche Bann ihr ganzes Sinnen umnachtete! – Dieß alles hatten sie mit einander gemein, und nur die äußeren Merkmale waren verschieden.
»Hole mir das Buch, das ich drinnen ließ auf deinem Lager,« sagte sie, als die Glocke schlug. »Aber gib mir zuvor einen Kuß!«
Er blickte ihr in's Gesicht, und sah darin, daß die Zeit gekommen sey. Nach einer langen Umarmung riß er sich los und eilte fort, um das Verlangte zu bringen, nachdem er sie zuvor gebeten, nicht von der Stelle zu gehen, bis er zurück wäre. Er kam bald wieder, denn ein entsetzter Schrei beschleunigte seine Schritte; aber sie war fort.
Er rannte nach dem Gitter des Hofes und schaute durch. Man führte sie fort. Sie hatte gesagt, das Herz würde ihr brechen. Es war auch so besser.
»Meint Ihr nicht,« winselte Dennis, indem er auf ihn zukroch als er, wie in die Erde gewurzelt, da stand und die leeren Mauern anstierte – »meint Ihr nicht, es sey noch Hoffnung da? Es ist ein schreckliches Ende; es ist ein fürchterliches Ende für einen Mann wie ich. Glaubt Ihr nicht, es gäbe noch Hoffnung? Ich meine nicht für Euch, ich meine für mich. Aber daß nur er uns nicht hört« (nämlich Hugh); »er ist so ein verzweifelter Mensch.«
»Nun, ihr Jungen,« sagte der Schließer, der bald innerhalb, bald außerhalb des Gitters mit in die Taschen gesteckten Händen umherging und gähnte, als wäre er um einen Unterhaltungsstoff verlegen; »es ist Zeit, daß ihr in eure Quartiere zurückkehrt.«
»Noch nicht,« rief Dennis, »noch nicht. Vor einer Stunde noch nicht.«
»Na, da geht Eure Uhr anders, als sonst. Es war einmal eine Zeit, wo sie immer vorlief. Jetzt hat sie den andern Fehler.«
»Mein Freund,« rief das elende Geschöpf, auf seine Kniee niederfallend. »mein lieber Freund. Ihr seyd immer mein Freund gewesen. Es waltet da ein Irrthum ob. Ein Schreiben ist verlegt worden, oder ein Bote wurde unterwegs aufgehalten. Er ist vielleicht todt gefallen. Ich sah einmal mit meinen eigenen Augen einen Mann, der todt in den Straßen umfiel, und er hatte Papiere in seiner Tasche. Laßt doch nachfragen. Mich kann man doch nicht hängen – unmöglich! – Und am Ende thun sie's,« schrie er entsetzt hinaus, indem er mit dem Fuß auf den Boden stampfte. »Man wird mich hinterlistigerweise hängen und mir den Begnadigungsbrief vorenthalten. Es ist ein Complott gegen mich Man bringt mich um's Leben!«
Und dann stieß er einen abermaligen gellenden Schrei aus, worauf er zu Boden sank und in Krämpfe verfiel.
»Da sehe man den Henker, wenn es ihm heim gegeben wird,« rief Hugh abermals, als man ihn wegschaffte. »Ha, ha, ha! Muth, kühner Barnaby, was kümmern wir uns d'rum? Deine Hand! Sie thun gut daran, uns aus der Welt zu schaffen, denn wenn wir zum zweitenmal loskämen, so sollten sie uns nicht so leicht abkommen, he? Noch einmal deine Hand! Man kann nur ein Mal sterben. Wenn du in der Nacht aufwachst, so sing dieß lustig hinaus, und schlafe wieder ein. Ha, ha, ha!«
Barnaby schaute noch einmal durch das Gitter in den leeren Hof und sah dann Hugh nach, als derselbe nach der Treppe hinging, die zu seiner Schlafzelle führte. Er hörte ihn jauchzen und in ein Gelächter ausbrechen, auch bemerkte er, wie er seinen Hut schwenkte. Dann wandte er sich wie ein Nachtwandler ab und legte sich, ohne ein Gefühl von Furcht und Kummer, auf sein Lager nieder, auf den nächsten Glockenschlag lauschend.