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Fünfundsiebenzigstes Kapitel.

Ein Monat ist verflossen, – und wir stehen jetzt in dem Schlafgemach des Sir John Chester. Durch das halb geöffnete Fenster blickt grün und lieblich der Tempelgarten herein; der glatte Strom, mit Boten und Barken belebt und von plätschernden Rudern gepeitscht, funkelt in der Ferne; der Himmel ist blau und klar, und Sommerlüftchen stehlen sich leise herein, das Gemach mit Wohlgeruch erfüllend. Sogar die Stadt, die rauchende Stadt, bietet einen strahlenden Anblick. Hohe Dächer und Kirchthurmspitzen, sonst so schwarz und düster anzusehen, lächeln in einem fröhlichen Grau; jeder alte, vergoldete Wetterhahn, jede Kugel, jedes Kreuz glitzert neu auf in dem Strahle der Morgensonne; und hoch über Alles ragen die Thürme von Saint Paul, ihre Spitzen in blankem Golde schimmern lassend.

Sir John frühstückte im Bette. Die Chokolade, nebst den Röstschnitten, stand auf einem kleinen Tische zu seiner Seite; Bücher und Zeitungen lagen auf der Bettdecke; zuweilen hielt er inne, um sich mit der Miene ruhiger Selbstgefälligkeit in dem wohl geordneten Gemache umzusehen oder gleichgültig nach dem Sommerhimmel hinaufzuschauen; dann aß und trank er wieder mit schweigerischem Wohlbehagen oder nahm auf's Neue die Zeitung auf.

Der belebende Einfluß des Morgens schien auch an seinem gleichmüthigen Temperament nicht spurlos vorübergegangen zu seyn. Sein Benehmen war ungewöhnlich heiter, sein Lächeln gefälliger und angenehmer, als sonst, seine Stimme klarer und lieblicher. Er legte die Zeitung, die er gelesen hatte, nieder, lehnte sich mit der Miene eines Mannes, der sich in entzückenden Erinnerungen ergoß, auf sein Kissen zurück und begann nach einer Pause folgendes Selbstgespräch:

»Und mein Freund, der Centaur geht also den Weg seiner Mama? Wundert mich nicht. Und sein geheimnißvoller Freund, Herr Dennis, gleichermaßen? Auch das kömmt mir nicht überraschend. Und mein alter Postbote, der außerordentlich ungenirte junge Verrückte von Chigwell? Darüber bin ich eigentlich erfreut. 's ist das Allerbeste, was ihm möglicherweise begegnen konnte.«

Nachdem er sich in diesen Bemerkungen ergangen, vertiefte er sich wieder in den lieblichen Gang seiner Betrachtungen, woraus er sich endlich wieder aufraffte, um seine bereits kalt gewordene Chokolade vollends zu trinken und nach einer neuen Portion zu klingeln.

Sobald der neue Vorrath angelangt war, nahm er die Tasse aus der Hand seines Dieners, den er mit der bezauberndsten Leutseligkeit und den Worten: »ich bin dir sehr verbunden, Peak,« entließ.

»Es ist ein merkwürdiger Umstand,« sagte er, nachlässig mit dem Theelöffel spielend,« daß mein Freund, der Verrückte, bei dem Verhör um ein Haar davon gekommen wäre, und es war ein glückliches Geschick (oder, wie die Welt sagen würde, das Walten der Vorsehung) daß der Bruder des Lordmayor gerade mit anderen Provinzialfriedensrichtern, in deren dicke Köpfe die Neugierde Zugang gefunden, zugegen seyn mußte. Denn obgleich der Bruder des Lordmayor entschieden Unrecht hatte und seine nahe Verwandtschaft mit dieser erbaulichen Person außer allen Zweifel setzte, indem er angab, daß mein Freund vollkommen gesund sey und, so viel er wisse, das Land mit einer vagabundirenden Mutter durchstrichen habe – zugestandenermaßen mit revolutionären und rebellischen Gesinnungen, so bin ich ihm doch nicht weniger für dieses freiwillige Zeugniß verbunden. Diese verrückten Kreaturen machen so gar verschraubte und in Verlegenheit setzende Bemerkungen, daß man sie schon um der Bequemlichkeit der Gesellschaft willen hängen sollte.«

Der Provinzial-Friedensrichter hatte in der That der wankenden Schale der Gerechtigkeit zum Nachtheile des armen Barnaby eine entscheidende Neigung gegeben, und das Bedenken gelöst, das zu Gunsten des Gefangenen kleine Schwankungen veranlaßte. Greif dachte wenig daran, wie viel er dabei zu verantworten hatte.

»Das gibt eine eigenthümliche Parthie,« sagte Sir John, den Kopf auf die Hand stützend und seine Chokolade schlürfend,« eine höchst kuriose Parthie. Der Henker selbst, der Centaur und der Verrückte: der Centaur paßt prächtig zu einem Präparat für das anatomische Theater, und dürfte recht eigentlich eine Wohlthat für die Wissenschaft werden. Ich hoffe, man hat sich's angelegen sein lassen, ihn zu kaufen. – Peak, ich bin für Niemand zu Hause, natürlich den Haarkräusler ausgenommen.«

Diese Erinnerung wurde durch ein Pochen an der Thüre veranlaßt, und der Diener beeilte sich, sie zu öffnen. Nach einem verzögerten, aus Fragen und Antworten bestehenden, leisen Gespräche kehrte er wieder zurück, und als er vorsichtig die Zimmerthüre hinter sich abschloß, hörte man im Oehrn draußen einen Mann husten.

»Alles umsonst, Peak,« sagte Sir John, mit der erhobenen Hand die Meldung des Auftrags ablehnend; »ich bin nicht zu Hause. Ich kann dich unmöglich anhören. Du hast gehört, daß ich nicht zu Hause bin, und mein Wort ist heilig. Wirst du denn nie thun, was man von dir verlangt?«

Da der Diener nichts gegen diesen Verweis einzuwenden wußte, so wollte er eben das Zimmer wieder verlassen, als der Besuch, der Anlaß dazu gegeben hatte, wahrscheinlich durch die Zögerung ungeduldig gemacht, mit den Fingerknöcheln an die Thüre pochte und ausrief, daß er ein dringendes Anliegen, das keinen Aufschub zulasse, mit Sir John Chester zu besprechen habe.

»So laß ihn herein,« versetzte Sir John. »Mein guter Freund,« fügte er bei, als die Thüre aufging, »wie kommt Ihr dazu, Euch in dieser außerordentlichen Weise in das Privatgemach eines Mannes zu drängen? Wie könnt Ihr aller Selbstachtung so ganz und gar vergessen, um Euch eines so merkwürdigen Beleges von schlechter Erziehung schuldig zu machen?«

»Sir John, ich versichere Euch, mein Anliegen ist durchaus nicht von gewöhnlicher Art,« entgegnete die angeredete Person, »wenn ich einen ungewohnten Weg eingeschlagen hatte, um Zutritt zu Euch zu erhalten, so wird mir hoffentlich um deßwillen Verzeihung zu Theil.«

»Gut! wir werden sehen; wir werden sehen,« erwiederte Sir John, dessen Gesicht sich aufklärte, als er sah, wer zugegen war, und sein gewinnendes Lächeln kehrte wieder zurück. »Ich bin überzeugt, daß wir uns sonst schon getroffen haben,« fügte er in seiner höflichen Weise bei, »aber ich habe in Wahrheit Euren Namen vergessen.«

»Ich heiße Gabriel Varden, Sir.«

»Varden, freilich.,Varden,« versetzte Sir John, sich an die, Stirne schlagend. »Du, mein Gott, wie gar mangelhaft doch mein Gedächtniß wird! Varden, natürlich – Herr Varden, der Schlosser. Ihr habt eine sehr angenehme Frau, Herr Varden, und eine wunderhübsche Tochter. Sie befinden sich doch wohl?«

Gabriel dankte für die Nachfrage und sagte Ja.

»Freut mich, das zu hören,« entgegnete Sir John. »Mein Kompliment an sie, wenn Ihr nach Hause kommt, und sagt ihnen, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn ich selbst die Begrüßung überbringen könnte, womit ich Euch beauftrage. Und was,« fügte er nach einer kurzen Pause in seiner süßesten Stimme bei, »was kann ich für Euch thun? Ich stehe ganz zu Diensten.«

»Ich danke Euch, Sir John,« sagte Gabriel, mit etwas Stolz in seiner Haltung, »aber ich komme mit keiner Bitte für meine Person zu Euch, obgleich mich ein Anliegen herführt. – Eine Privatangelegenheit,« fügte er mit einem Blicke auf den Diener bei, der noch immer dastand und zuschaute, »von sehr dringender Natur.«

»Ich kann nicht sagen, daß Ihr mir willkommener seyd, weil Euch kein Anliegen für Eure eigene Person herführt,« erwiederte Sir John huldvoll, »denn es hätte mich ungemein gefreut, Euch einen Dienst leisten zu können; doch Ihr seyd unter allen Umständen willkommen. Willst du so gut seyn, mir etwas mehr Chokolade zu geben, Peak – du kannst dann abtreten.«

Der Mann entfernte sich und ließ sie allein.

»Sir John,« sagte Gabriel, »ich bin ein Handwerksmann, und war mein ganzes Leben über nie etwas Anderes. Wenn ich meine Meldung nicht geschickt genug einzuleiten weiß, wenn ich gleich mit einem Male zur Sache zu kommen und Euch einen Schreck bereite, den Euch ein feiner gebildeter Mann erspart oder jedenfalls sehr gemildert hätte, so hoffe ich, Ihr werdet es meiner ehrlichen Absicht zu gut halten. Ich möchte wohl mit Ueberlegung und Vorbedacht zu Werke gehen; bei einer schlichten Person wie ich aber werdet Ihr hoffentlich den Willen für die That annehmen.«

»Herr Varden,« entgegnete der Andere, den diese Einleitung durchaus nicht aus der Fassung brachte, »ich bitte, bedient Euch mit einem Stuhl. Chokolade vielleicht? Nichts nach Eurem Geschmack? Nun, man muß natürlich daran gewöhnt seyn.«

»Sir John,« sagte Gabriel, der für die Einladung, Platz zu nehmen, mit einer Verbeugung dankte, aber keinen Gebrauch davon machte. »Sir John –« er dämpfte jetzt seine Stimme und trat näher an das Bett – »ich komme eben von Newgate –«

»Guter Gott!« rief Sir John, hastig in seinem Bette aufsitzend; »von Newgate, Herr Varden? Wie könnt Ihr auch so gar unklug seyn, von Newgate zukommen? Newgate, wo es nichts als Gefängnisfieber, Lumpenpack, barfüßige Männer und Weiber und tausend andere Abscheulichkeiten gibt! Peak, bring' den Campher, hurtig! Himmel und Erde, Herr Varden, mein Bester, gute Seele, wie mögt Ihr auch von Newgate kommen?«

Gabriel antwortete nichts, sondern sah schweigend zu, wie Peak, der eben sehr gelegen mit heißer Chokolade eingetreten war, nach einer Schublade lief und mit einer Flasche zurückkehrte, aus der er den Schlafrock und das Bettzeug seines Gebieters bespritzte, und auch den Schlosser selbst reichlich benetzte, zugleich einen Spirituskreis um ihn auf dem Teppich ziehend. Sobald dieß geschehen war, entfernte er sich wieder, und Sir John, der sich in einer nachlässigen Haltung auf seine Kissen zurücklehnte, wandte abermals dem Besuche sein lächelndes Gesicht zu.

»Ich bin überzeugt, Ihr werdet mich entschuldigen, Herr Varden, daß ich anfangs sowohl um Eurer selbst, als um meinetwillen etwas ängstlich war. Ich gestehe, daß ich, ungeachtet Eurer zarten Einleitung, erschrak. Darf ich Euch um die Gunst bitten, nicht näher heranzutreten? – Ihr kommt also wirklich aus Newgate?«

Der Schlosser neigte bejahend das Haupt.

»Wirk-lich? Und nun, Herr Varden, ohne alle Uebertreibung und Verschönerung,« sagte Sir John Chester in vertraulichem Tone, während er seine Chokolade schlürfte, »was ist denn Newgate für ein Ort?«

»Ein seltsamer Ort. Sir John,« versetzte der Schlosser; »ein trauriger und betrübter Ort, wo viel Sonderbares zu hören und zu sehen ist, aber nicht leicht etwas Seltsameres, als das, um dessen willen ich herkomme. Der Fall ist dringend. Ich bin an Euch abgeschickt.«

»Doch nicht – nein, nein – doch nicht aus dem Gefängnisse?«

»Ja, Sir John, aus dem Gefängnisse.«

»Und mein guter, leichtgläubiger, offenherziger Freund,« sagte Sir John, indem er lachend seine Tasse niedersetzte – »von wem?«

»Von einem Manne, Namens Dennis – er war viele Jahre der Henker und wird morgen der Gehängte seyn,« entgegnete der Schlosser.

Sir John hatte erwartet – war im Anfang sogar der festen Ueberzeugung gewesen, der Andere werde den Namen Hugh nennen, und hatte sich schon angeschickt, ihm darauf zu dienen. Aber diese Antwort setzte ihn einigermaßen in Erstaunen, was sich, trotz der Macht, die er über seine Züge hatte, für einen Augenblick auch in seinem Gesichte ausdrückte. Er faßte sich daher rasch wieder und sagte in demselben leichten Tone:

»Und was verlangt dieser Gentleman von mir? Mein Gedächtniß muß mich hier wieder im Stiche lassen, denn ich erinnere mich nicht, je das Glück gehabt zu haben, ihm vorgestellt zu werden, oder ihn unter meine persönlichen Freunde zählen zu können; wahrhaftig, Herr Varden.«

»Sir John,« entgegnete der Schlosser ernst, »ich will Euch, so gut ich kann, in seinen eigenen Worten mittheilen, was er Euch zu wissen thun möchte, und was Ihr ohne den mindesten Zeitverlust erfahren müßt.«

Sir John brachte sich in eine noch behaglichere Lage und betrachtete seinen Besuch mit einem Gesichtsausdrucke, der zu sagen schien: »Das ist ein unterhaltender Kerl, ich muß ihn doch anhören.«

»Ihr werdet vielleicht aus den Zeitungen ersehen haben, Sir,« sagte Gabriel, indem er auf das nebenliegende Blatt deutete,« daß ich vor einigen Tagen als Zeuge gegen diesen Mann auftrat. Es war in der That nicht seine Schuld, daß ich noch am Leben und im Stande bin, Euch mitzutheilen, was ich weiß.«

»Ob ich's vielleicht daraus ersehen habe?« rief Sir John. »Mein lieber Herr Varden, Ihr seyd recht eigentlich ein öffentlicher Charakter und lebt verdientermaßen in den Gedanken aller Menschen. Nichts übertrifft das Interesse, womit ich Euer Zeugniß gelesen habe, um so mehr, da ich mich dabei erinnerte, das Vergnügen einer kurzen Bekanntschaft mit Euch gehabt zu haben. – Ich hoffe, Euer Porträt ist zu bekommen?«

»Diesen Morgen, Sir,« entgegnete der Schlosser, ohne auf diese Komplimente zu achten,« diesen Morgen mit dem Frühesten kam ein Bote aus Newgate zu mir, um mir den Wunsch dieses Mannes mitzutheilen, daß ich ihn besuchen möchte, da er mir etwas besonders Wichtiges zu eröffnen habe. Ich brauche Euch nicht zu sagen, daß er nicht zu meinen Freunden gehört und daß ich ihn zum ersten Male sah, als die Aufrührer mein Haus belagerten.«

Sir John fächelte sich leicht mit dem Zeitungsblatte und nickte.

»Ich wußte jedoch aus dem allgemeinen Stadtgerede,« nahm Gabriel wieder auf, »daß sein Todesurtheil gestern Nacht nach dem Gefängnisse gekommen sey, und da ich ihn als einen Sterbenden ansah, so entsprach ich seinem Gesuche.«

»Ihr seyd ein höchst christlicher Mann, Herr Varden,« entgegnete Sir John; »und um dieser liebenswürdigen Eigenschaft willen vermehrt Ihr in mir noch den Wunsch, daß Ihr einen Stuhl nehmt.«

»Er sagte,« fuhr Gabriel fort, den Ritter fest in's Auge fassend, »daß er als gemeiner Henker keinen Freund oder Gefährten auf der ganzen Welt habe, und aus der Art, wie ich mein Zeugniß gegen ihn abgelegt, sey er zu der Ueberzeugung gekommen, daß ich ein ehrlicher Mann sey und aufrichtig an ihm handeln werde. Weil er von Allen, die sein Gewerbe kannten, selbst von dem schlechtesten und elendesten Gesindel gescheut würde, habe er, sagte er, als er sich den Rebellen anschloß, die ihn durchaus nicht beargwohnten (was ich wohl glauben mag, da ein armer Tropf, ein früherer Lehrling von mir, auch darunter war) seinen Beruf für sich behalten, bis zur Zeit, als er gleichfalls aufgegriffen und in's Gefängniß gesteckt worden.«

»Sehr verständig von Herrn Dennis,« versetzte Sir John mit einem leichten Gähnen, obschon noch immer mit großer Leutseligkeit, »hat aber – mit Ausnahme Eurer bewundernswürdig klaren Erzählungsweise, die ihres Gleichen sucht – kein sonderliches Interesse für mich.«

»Als er,« sprach der Schlosser weiter, ohne sich durch diese Unterbrechung einschüchtern zu lassen oder auch nur darauf zu achten, »als er in das Gefängniß geworfen wurde, fand er in seinem Mitgefangenen, der dieselbe Zelle mit ihm theilte, einen Mann, Hugh mit Namen, welcher ein Anführer der Rebellen und von ihm selbst verrathen und ausgeliefert worden war. Aus einigen Worten, welche diesem unglücklichen Menschen im Laufe eines Zornergusses bei ihrem ersten Zusammentreffen entfielen, machte er die Entdeckung, daß seine Mutter den gleichen Tod erlitten hatte, zu welchem sie Beide jetzt verurtheilt sind. – Die Zeit ist ihnen nun sehr kurz zugemessen, Sir John –«

Der Ritter legte seinen Papierfächer nieder, stellte die Tasse auf den Tisch neben sich und faßte den Schlosser, mit Ausnahme des Lächelns, das um seinen Mund zuckte, eben so fest in's Auge, als der Schlosser ihn ansah.

»Sie sitzen jetzt bereits einen Monat im Gefängnisse. Eine Rede gab die andere; und der Henker fand bald aus einer Vergleichung der Zeit, des Orts und sonstiger Umstände, daß er selbst an diesem Weibe das Urtheil vollstreckt hatte. Wie so viele Andere war sie durch die Noth in Versuchung geführt worden, sich zu dem leicht ausführbaren Verbrechen brauchen zu lassen, falsche Banknoten auszugeben. Sie war jung und schön, und die Hallunken, welche Männer, Weiber und Kinder mit diesem gottlosen Handel beauftragen, betrachteten sie als eine Person, die recht gut in ihren Kram paßte, und wahrscheinlich geraume Zeit, ohne Argwohn zu erregen, in ihrem Geschäfte zu brauchen war. Aber das war eine Rechnung ohne Wirth, denn sie wurde bei dem ersten Vergehen angehalten und mußte es mit dem Leben büßen. Sie stammte aus Zigeunerblut, Sir John –«

Vielleicht war es die Wirkung einer Wolke, die in ihrem Vorbeiziehen die Sonne verdunkelte und ihren Schatten auf Sir Johns Gesicht warf – aber so viel ist gewiß, daß der Ritter todtenblaß wurde. Demungeachtet aber sah er dem Schlosser so fest, wie zuvor, in's Auge.

»Sie war aus Zigeunerblut entsprossen. Sir John,« wiederholte Gabriel, »und hatte einen hohen und freien Geist. Dieß, ihr gutes Aussehen und ihre stolze Haltung weckten das Interesse einiger Herren von Stande, die sich leicht durch ihre schwarzen Augen rühren ließen, und man machte Versuche, sie zu retten. Vielleicht hätte es geglückt, wenn sie offen mit ihrer Geschichte herausgegangen wäre; aber das wollte sie nie und that es auch nicht. Es war Grund zu der Vermuthung vorhanden, daß sie sich selbst das Leben zu nehmen gedachte. Man ließ sie Tag und Nacht bewachen, und von dieser Zeit an sprach sie nicht wieder –«

Sir John streckte die Hand nach seiner Tasse aus. Da jedoch der Schlosser fortfuhr, hielt er auf dem halben Wege inne.

– »bis sie nur noch eine Minute zu leben hatte. Dann brach sie ihr Schweigen und sagte mit leiser, aber fester Stimme, welche Niemand als dieser Henker hörte – denn alle anderen lebenden Wesen waren vor ihr zurückgewichen und hatten sie ihrem Schicksal überlassen – ›wenn ich einen Dolch in dieser Hand hätte und er wäre mir nahe genug, daß ich ihn erreichen könnte, so wollte ich ihn selbst jetzt noch todt vor mir niederstrecken!‹ Der Henker fragte: ›Wen?‹ – worauf sie erwiederte, ›den Vater ihres Kindes.‹«

Sir John zog die ausgestreckte Hand zurück, und als er sah, daß der Schlosser inne hielt, winkte er ihm mit glatter Höflichkeit und ohne irgend eine Erregung zu verrathen, fortzufahren.

»Es war das erste Wort, das sie je gesprochen, woraus sich entnehmen ließ, daß sie ein verwandtes Wesen auf Erden hatte. ›Ist das Kind am Leben?‹ fragte er. ›Ja.‹ Er fragte weiter nach seinem Aufenthalt, seinem Namen und ob sie hinsichtlich desselben noch einen Wunsch habe. Sie hatte nur Einen, daß nämlich der Knabe am Leben bleiben und heranwachsen möge, ohne seinen Vater zu kennen, so daß keine Kunst ihn je lehren könne, mild und versöhnlich zu seyn. Wenn er ein Mann würde, so hoffe sie zu dem Gott ihres Stammes, daß er Vater und Sohn zusammenbringen werde, um sie durch ihr Kind zu rächen. Er stellte noch einige andere Fragen an sie, ohne daß sie ihm jedoch darauf antwortete. Sie habe dieß auch kaum zu ihm gesprochen, sagte er, denn sie sey die ganze Zeit über dagestanden, das Gesicht dem Himmel zugekehrt, und habe nicht ein einziges Mal nach ihm hingeschaut.«

Sir John nahm eine Prise Schnupftabak, blickte wohlgefällig auf ein elegantes Bild mit der Unterschrift »Natur,« das an der Wand hing, erhob dann seine Augen wieder zu dem Antlitz des Schlossers und sagte mit höflicher Gönnermiene:

»Ihr habt eben bemerkt, Herr Varden –«

»Daß sie nie,« entgegnete der Schlosser, der durch keinen Kunstgriff von seinem unerschütterlichen Wesen und seinem festen Blicke abzubringen war,« daß sie nicht ein einziges Mal nach ihm hinsah, Sir John; und so starb sie und er vergaß ihrer. Aber einige Jahre später wurde ein Mann zu der gleichen Todesstrafe verurtheilt, der auch ein Zigeuner war – ein sonnverbrannter, schwärzlicher Kerl, fast ein Wilder; und während er, bereits dem Tode geweiht, in dem Gefängnisse lag, schnitzte er das Bild des Henkers, den er während seiner Freiheit mehr als einmal gesehen, auf seinen Stock, so dem Tode Trotz bietend, um seiner Umgebung zu zeigen, wie wenig er sich daraus machte, oder überhaupt nur daran dachte. Zu Tyburn gab er dem Henker den Stock in die Hände und sagte ihm damals, daß das vorerwähnte Weib ihren Leuten wegen eines hübschen Gentlemans entlaufen sey; dieser habe sie jedoch im Stiche gelassen, und da ihre alten Freunde nichts mehr von ihr wissen wollten, so habe sie in ihrem stolzen Herzen geschworen, sie wolle kein menschliches Wesen um Hülfe aufleben, welches Elend auch über sie kommen möge. Er sagte ihm, sie habe bis zum letzten Augenblick Wort gehalten und sich sogar, als er sie einmal in der Straße getroffen (er mochte wohl früher in sie verliebt gewesen sein) listig von ihm losgemacht; von dort an habe er sie nie wieder gesehen, bis er einmal bei Gelegenheit eines der häufigen Volkszusammenläufe zu Tyburn, dem er sich mit einigen seiner ungeschlachten Kameraden angeschlossen, fast wahnsinnig geworden sey, als er in der unter einem andern Namen Verurtheilten, deren Hinrichtung er mit anzusehen gekommen war, sie erkannte. Dieß sagte er zu dem Henker, als er auf demselben Platze stand, wo sie gestanden hatte, und theilte ihm auch ihren wahren Namen mit, den nur ihre Leute und der Gentleman, um dessen willen sie ihnen untreu geworden war, kannten. – Diesen Namen will er Niemand anders, als Euch, Sir John, wieder sagen.«

»Niemand anders, als mir?« rief der Ritter, der eben mit vollkommen stetiger Hand seine Tasse an die Lippen führen wollte, aber auf dem halben Wege inne hielt, dabei seinen kleinen Finger bewegend, um einen Brillantring, womit er geziert war, besser spielen zu lassen. »Nur mir? – Mein lieber Herr Varden, wie gar abgeschmackt, mich zu seinem Vertrauten zu wählen – und noch obendrein, während er einen Mann an der Seite hatte, der eines so vollen Vertrauens würdig ist!«

»Sir John, Sir John!« entgegnete der Schlosser, »morgen um zwölf Uhr müssen diese Menschen sterben. Hört die wenigen Worte, die ich noch beizufügen habe, und hofft nicht, mich zu täuschen; denn obgleich ich nur ein schlichter Bürgersmann bin, und Ihr mir sowohl an Rang als an Bildung überlegen seyd, so stellt mich doch die Wahrheit mit Euch auf eine gleiche Höhe, und durch die Gewalt derselben weiß ich, daß Ihr die Enthüllung, mit welcher ich zu schließen gedenke, vorausseht – ich meine nämlich, daß Ihr glaubt, dieser verurtheilte Mensch, der Hugh, sey Euer Sohn.«

»Nicht doch,« sagte Sir John, den Andern mit heiterer Miene neckend; »ich glaube kaum, daß der wilde Gentleman, der so plötzlich starb, in seinen Behauptungen so weit gegangen ist.«

»Nein, das that er nicht,« erwiederte der Schlosser,« denn sie hatte ihm einen Eid aufgelegt, wie er nur unter diesen Leuten üblich ist und den die Schlechtesten unter ihnen respektiren, Euren Namen nicht zu nennen. Er hatte jedoch in eine phantastische Verzierung auf dem Stocke einige Buchstaben eingeschnitten, und als ihn der Henker darüber fragte, so forderte er ihn auf, wenn er nach seinem Tode je mit ihrem Sohne zusammenkommen sollte, sich dieses Wort wohl zu merken.«

»Was für ein Wort?«

»Chester.«

Der Ritter trank seine Chokolade augenscheinlich mit dem größten Wohlbehagen aus und wischte sich dann die Lippen mit dem Handtuche.

»Sir John,« fuhr der Schlosser fort,« dieß ist Alles, was mir mitgetheilt wurde; da aber diese beiden Männer gemeinschaftlich den Tod erleiden sollen, so haben sie sich auf's Genaueste mit einander besprochen. Geht zu ihnen und hört, was sie noch beizufügen haben. Besucht diesen Dennis und laßt Euch von ihm sagen, was er mir nicht anvertrauen wollte. Wenn Ihr, der Ihr den Schlüssel zu all' Diesem habt, noch einer Bekräftigung bedürft, was übrigens kaum der Fall seyn wird, so liegen die Mittel hiezu nahe.«

»Und wozu,« versetzte Sir John Chester, sich auf seinen Ellbogen erhebend und das Kissen hinter sich glättend; »mein lieber, gutmüthiger, schätzbarer Herr Varden – auf den ich nicht böse sein kann. – selbst wenn ich wollte – wozu soll all' Dieß führen?«

»Ich halte Euch für einen Menschen, Sir John, und nehme an, daß ein gewisser natürlicher Drang in Eurem Innern sprechen muß,« entgegnete der Schlosser unwillig. »Ich vermuthe, daß Euer ganzes Sehnen darauf gerichtet seyn muß, und daß Ihr allen Euren Einfluß aufbieten werdet, um die Lage Eures unglücklichen Sohnes und des Mannes, der Euch von seinem Daseyn Kunde gab, in eine günstigere umzuwandeln. Im schlimmsten Falle glaube ich, daß Ihr Euren Sohn besuchen und ihn zur Erkenntniß seines Verbrechens und zum Bewußtseyn seiner gefährlichen Lage bringen werdet. Beides gebricht ihm jetzt ganz und gar. Bedenkt, welch' ein Leben er geführt haben muß, da ich mit meinen eigenen Ohren von ihm hören mußte, Alles, wozu ich Euch bewegen könne, werde darauf hinausgehen, wenn es in Eurer Macht stehe, seinen Tod zu beschleunigen, um Euch dadurch seines Schweigens zu versichern!«

»Und habt Ihr, mein guter Herr Varden,« erwiederte Sir John im Tone sanften Vorwurfs, »habt Ihr wirklich so alt werden müssen, um so gar einfältig und leichtgläubig zu bleiben, daß Ihr einem Mann von anerkanntem Charakter mit derartigen Beglaubigungen nahe kommen mögt – mit Aussagen verzweifelter Menschen, die in ihrer letzten Noth nach jedem Strohhalme greifen? Ach du mein Himmel! Pfui, pfui!«

Der Schlosser wollte etwas dagegen einwenden, konnte aber nicht zum Worte kommen.

»In jeder andern Beziehung, Herr Varden, soll es mich freuen – ungemein freuen – mich mit Euch zu besprechen, aber ich bin es meiner Ehre schuldig, dieses Thema keinen Augenblick weiter fortzuführen.«

»Bedenkt Euch darüber eines Bessern, Sir, wenn ich fort bin,« erwiederte der Schlosser; »besinnt Euch eines Bessern, Sir. Obgleich Ihr im Verlaufe von drei Wochen Euren rechtmäßigen Sohn, den Herrn Edward, dreimal von Eurer Thüre zurückgewiesen habt, so bleibt Euch immerhin noch eine Frist von Jahren, mit ihm Euren Frieden zu machen, Sir John: aber jene zwölfte Stunde wird bald schlagen und unwiderbringlich dahin seyn.«

»Ich bin Euch sehr dankbar,« entgegnete der Ritter, seine zarte Hand gegen den Schlosser küssend, »für Euren wohlgemeinten Rath und möchte nur wünschen, meine gute Seele, obgleich Eure Einfalt ganz hinreißend ist, daß Ihr ein wenig mehr Weltklugheit besäßet. Nie war mir die Ankunft eines Haarkräuslers so ärgerlich, als eben jetzt. Gott behüte Euch! Guten Morgen! Ihr werdet doch meinen Auftrag an die Damen nicht vergessen, Herr Varden? Peak, gib Herrn Varden das Geleit.«

Gabriel sagte nichts mehr, sondern warf dem Ritter nur noch einen letzten Blick zu und entfernte sich. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, ging in Sir John's Gesicht eine Veränderung vor; das Lächeln machte einem hageren und ängstlichen Ausdrucke Platz, wie etwa bei einem ermüdeten Schauspieler, der sich bei Ausführung einer schweren Rolle erschöpft hat. Er erhob sich mit einem schweren Seufzer von seinem Bette und warf sich in seinen Schlafrock.

»So hat sie also ihr Wort gehalten und ihre Drohung ausgeführt,« sagte er. »Ich wollte, ich hätte nie ihr dunkles Gesicht gesehen – denn von Anfang an wäre ein solcher Ausgang darin zu lesen gewesen. Die Sache würde Aufsehen machen, wenn sie belegt werden könnte; so aber, wenn ich die zerrissenen Glieder der Kette nicht zusammenfüge, kann ich mit Verachtung darauf nieder blicken. – Es ist außerordentlich betrübend, der Vater einer so ungeschlachten Creatur zu seyn; doch, ich habe ihm guten Rath ertheilt; ich sagte ihm, er würde sicher noch an den Galgen kommen; und mehr hätte ich nicht thun können, selbst wenn mir unsere Verwandtschaft bekannt gewesen wäre; es gibt unzählig viele Väter, die nicht einmal so viel für ihre natürlichen Kinder gethan haben. – Der Haarkräusler mag hereinkommen, Peak!«

Der Haarkräusler kam unverweilt herein und sah in Sir John Chester, dessen geschmeidiges Gewissen durch die Erinnerung an die zahlreichen Vorgänge, welche seine letztere Bemerkung belegen halfen, bald beschwichtigt war, denselben unerschütterlichen, gewinnenden und eleganten Gentleman, den er gestern, vorgestern und schon oft bedient hatte.



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